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Warum die Brasilianer Bolsonaro wählten

Die Welle des »Bolsonarismus« überschwemmte die brasilianische Politik 2018 mit unvorhergesehener Kraft. Jair Bolsonaro gewann die Wahlen mit einer Kampagne von acht Sekunden langen TV-Spots und verhalf gleichzeitig der bis dahin unbedeutenden Partei Partido Social Liberal (PSL) zu 52 Abgeordneten im Parlament. Damit strafte er die klassischen Analysen der Politikwissenschaft Lügen, die kategorisch davon ausgingen, dass keine Kandidatin bzw. kein Kandidat ohne ausreichend kostenlose TV-Zeit für Wahlpropaganda und ohne die Unterstützung einer bedeutenden politischen Partei Chancen auf die Präsidentschaft in Brasilien gehabt hätte. Um zu verstehen, warum dennoch 57,8 Millionen Brasilianer Bolsonaro wählten, hilft es, seine Wählerschaft in zwei Gruppen zu unterteilen: 1) radikale Bolsonaro-Anhänger, die heute etwa 20 % seiner Basis ausmachen, 2) gemäßigte Bolsonaro-Anhänger, die größte Mehrheit seiner Wählerbasis. Aus der Untersuchung von Professor Carlos Ranulfo Melo von der Bundesuniversität von Minas Gerais geht hervor, dass die erste Gruppe. der harte Kern des Bolsonarismus, in der Mehrzahl aus weißen Männern der oberen Mittelschicht, aus dem Süden und Südosten des Landes besteht, die zwischen 25 und 45 Jahren alt sind und sich emotional und psychologisch stark mit dem Bolsonarismus identifizieren, nicht nur in politischer Hinsicht, auch als Lebensart. Noch interessanter ist es allerdings, vor allem die große Mehrheit der gemäßigten Bolsonaro-Anhängerschaft zu verstehen. Warum wählte sie ihn?

Wir haben es hier mit einer politischen Strömung zu tun, in deren Zentrum keine programmatischen oder konstruktiven Fragen stehen, sondern die sich allein aus Ablehnung speist: Die Bewegung ist nicht nur anti-PT (also gegen die »Arbeiterpartei«, die das Land von 2003 bis 2016 regierte) sondern auch gegen die Parteien, insgesamt gegen das Establishment. Bolsonaro präsentierte sich als Outsider, als jemand, der in der Lage ist, ein vollständig korruptes politisches System zu bekämpfen. Ein anderer Politikertypus, ehrlich und authentisch. Bolsonaros Wahlwerbung schaffte es, aus einem ehemaligen Bundesabgeordneten eine Anti-Mainstream-Persönlichkeit zu machen. Im Mittelpunkt dieser Idee, Politik zu verurteilen, weil sie als überaus korrupt gilt, steht die »Operation Lava Jato« (Operation Autowäsche) im Zusammenhang mit der Skandalserie um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras. Richter Sérgio Moro wurde der brasilianischen Gesellschaft als Held präsentiert, als jemand, der die messianische Aufgabe übernommen habe, Brasilien von korrupten Politikern zu befreien. Ein zum Spektakel aufgebauschter juristischer Prozess, der die Politik kriminalisiert und Außenseitern die Tür öffnet.

Die Antipathie gegen die PT, die bereits einen großen Einfluss auf das Amtsenthebungsverfahren von Präsidentin Dilma Rousseff hatte, erreichte mit dem Lava-Jato-Prozess – vor allem durch die Inhaftierung des Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und die Kandidatur von Bolsonaro – ihren Höhepunkt. Die PT wurde als korrupteste Partei Brasiliens dargestellt, die die aktuelle Wirtschaftskrise Brasiliens zu verantworten habe. PTismus, Kommunismus, eine Venezuelarisierung Brasiliens wurden im Wahlkampf 2018 zu den Hauptgefahren aufgebaut. Aber nicht nur die PT wurde stigmatisiert, sondern die gesamte Linke: Lehrer, Demonstranten, Feministinnen, soziale Bewegungen wurden zu Feinden erklärt.

Christianisierung und Militarisierung der Politik

Der Begriff »Gott« war eines der am häufigsten von Bolsonaro gebrauchten Wörter, sowohl in seinem Wahlkampf als auch in seiner Antrittsrede am 1. Januar 2019 in Brasilia. Eine Umfrage von Datafolha vom 25. Oktober 2018 ermittelte die Aufteilung der gültigen Stimmen für Bolsonaro je nach Religionsgruppe. Danach wählten ihn 29,9 % der Katholiken und 21,7 % Evangelikale, Fernando Haddad dagegen 28,7 % Katholiken und 9,7 % Evangelikale. Die Gründer der beiden größten evangelikalen Gruppierungen Brasiliens, Bischof Edir Macedo (Igreja Universal do Reino de Deus) und Bischof Silas Malafaia (Assembleia de Deus) unterstützten Bolsonaro öffentlich während des Wahlkampfes. Die PT wurde demgegenüber in einer fieberhaften religiösen Politisierung in den Neuen Pfingstkirchen als eine familien- und religionsfeindliche Partei dargestellt, die traditionelle Werte und den christlichen Glauben bekämpfen würde, sollte sie die Wahlen gewinnen. Die neoliberalen Versprechen des designierten Wirtschaftsministers Paulo Guedes haben wesentlich dazu beigetragen, Bolsonaro die Unterstützung der Märkte zu sichern. Die arme Bevölkerung unterstützte jedoch dessen Privatisierungsideale und Minimalstaat nicht. Aus diesem Grunde wurde eine weitere Art von Bindung notwendig, die diesmal von evangelikalen Kirchen kam, die im Alltag der gefährdeten Randgebiete Brasiliens sehr präsent sind. Die Verbindung aus Neoliberalismus und Neokonservatismus schien die Wähler zu überzeugen.

Neben der Christianisierung der Politik, war auch die Militarisierung ein wichtiger Aspekt im Machtstreben Bolsonaros, wenn man verstehen möchte, wie sich seine Wählerstimmen zusammensetzen. Seine Regierung weist mit zehn Ministern aus dem Militär und fast 3.000 Regierungsämtern, die an Militärangehörige vergeben wurden, den höchsten Anteil an Militärangehörigen der Geschichte auf. Laut einer Untersuchung der Web-Plattform Congresso em Foco war 2019 die parlamentarische Gruppe für öffentliche Sicherheit, die sogenannte »Munitionsfraktion« (die Abgeordneten sind ehemalige Militärangehörige, Polizisten, Feuerwehrleute), von 36 nationalen Parlamentariern auf 102 angewachsen, davon 18 Senatoren (im Jahr 2014 gab es keinen Senator aus der Militärriege). Wenn man alle staatlichen Abgeordneten zusammennimmt, wurden im Jahr 2018 73 Polizisten und Militärangehörige in gesetzgebende Ämter gewählt. Im Jahr 2014 waren es lediglich 18. Die Behauptung Bolsonaros, gegen Kriminalität mit harter Hand durchzugreifen, die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit und die Betonung von Disziplin, Autorität und Ordnung waren weitere Gründe für seinen Wahlsieg.

Eine landesweite Umfrage von Datafolha vom 23./24. Juni 2020 zeigte für die Regierung Bolsonaro eine stabile Unterstützung von 32 % und eine ebenfalls gleichbleibende Ablehnung von 44 %. In einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung Brasilien finanzierten Untersuchung ( http://library.fes.de/pdf-files/bueros/brasilien/16277.pdf ) haben Camila Rocha und ich die Narrative der Bolsonaro-Anhänger analysiert: Da gibt es die Treuen, die Kritischen und die Reuigen. Neben dem harten Kern des Bolsonarismus, von dem oben bereits die Rede war, werden von den Bolsonaro-Treuen vor allem folgende Argumente wiederholt: 1) Im Vergleich zu den 14 Jahren PT-Regierung hatte Bolsonaro noch gar keine Zeit zu regieren. 2) Die PT hinterließ ein zerstörtes Land, da ist es nicht leicht, dieses wieder aufzubauen. 3) Als der Wiederaufschwung gerade einsetzte, kam die Pandemie und legte alles lahm. 4) Bolsonaro versucht das Beste für Brasilien, aber er wird ständig von der Presse, vom Kongress und vom Obersten Bundesgericht Supremo Tribunal Federal verfolgt.

Die enttäuschten Bolsonaro-Wähler führen Folgendes an: 1) Bolsonaro führt sein Amt nicht mit der angemessenen Würde, er ist dabei zu gewaltbereit und autoritär, was für Instabilität sorgt. 2) Bolsonaros Söhne (die eine große Macht in Brasilia haben) sind unvorbereitet, aggressiv und möglicherweise korrupt; diese Korruption könne sich auch auf den Vater auswirken. 3) Bolsonaros Umgang mit der Corona-Pandemie sei unverantwortlich und unmenschlich und führte dazu, dass mitten in der Pandemie zwei Gesundheitsminister das Amt verließen und viele Infektionen und Todesfälle zu beklagen seien. 4) Für einen großen Teil der oberen Mittelklasse, die nachdrücklich den Lava-Jato-Prozess unterstützten, war der Rücktritt des ehemaligen Justizministers Sérgio Moro und sein Vorwurf, Bolsonaro würde auf die Bundespolizei politischen Einfluss nehmen, ebenfalls ein Quell der Unzufriedenheit.

So kann als wichtigster Faktor für die Schwächung des Bolsonarismus zunächst sein Verhalten während der Pandemie genannt werden. Hier warfen ihm die meisten Befragten mangelnden Charakter und fehlende Menschlichkeit vor. Laut Datafolha steigt die Zahl der Brasilianer, die das Verhalten der Regierung während der Gesundheitskrise ablehnen, stetig an. In einer Umfrage vom 28. Mai 2020 missbilligten 50 % der Befragten das Verhalten von Bolsonaro während der Pandemie (im März waren es gerade 33 %). Der zweite Grund ist der Korruptionsverdacht gegen die Familie. Am 18. Juni 2020 wurde Fabricio Queiroz, ehemaliger Referent von Flavio Bolsonaro (dem ältesten Sohn des Präsidenten) unter dem Verdacht festgenommen, Strohmann für Flavio Bolsonaro in einem angeblichen Korruptionsskandal zu sein, nachdem er sich ein Jahr lang in einem Haus des Anwalts der Familie Bolsonaro versteckt hatte. Aus der Umfrage von Datafolha geht ferner hervor, dass 64 % der Brasilianer überzeugt seien, Bolsonaro sei der Aufenthaltsort von Queiroz die ganze Zeit bekannt gewesen.

Obwohl also vieles auf eine allmähliche Abnutzung des Bolsonarismus hinweist, ist ihm die Unterstützung eines großen Teils seiner Wählerschaft dennoch sicher. Der Hauptmann der Reserve scheint eine mögliche Alternative für die nächsten Wahlen zu sein, nicht nur unter den treuen Bolsonaro-Anhängern, sondern auch für einen großen Teil seiner kritischen Anhänger, die zwar vom Verhalten des Präsidenten enttäuscht sind, angesichts mangelnder besserer Alternativen seine Wiederwahl aber erwägen, vor allem gegen die PT. Die Antipathie gegen die PT ist in der Bevölkerung immer noch weit verbreitet, vor allem vor dem Hintergrund, dass ein Teil der Bolsonaro-Wähler von 2018 ehemalige PT-Wähler ist. Aber obwohl die enttäuschten Wähler einem Rücktritt von Bolsonaro befürworten würden, stehen sie einer möglichen Amtsenthebung doch misstrauisch gegenüber. Die Instabilität, die solch ein politisches Verfahren heutzutage zusätzlich zur Gesundheits- und Wirtschaftskrise durch COVID-19 verursachen könnte, die traumatische und frustrierende Erfahrung der Amtsenthebung von Dilma Rousseff, das Misstrauen in den stellvertretenden Präsidenten Hamilton Mourão sind einige der Gründe, warum die meisten, die von Bolsonaros Amtsführung enttäuscht sind, dennoch eine Amtsenthebung nicht befürworten.

Aus institutioneller Sicht scheint eine solche kurzfristig also nicht realistisch zu sein. Bolsonaro wird von weiten Teilen der Streitkräfte unterstützt, denen die Teilhabe an der Regierung viele Vorteile brachte. So wurde z. B. eine für Militärangehörige vorteilhafte Rentenreform bewilligt, während gleichzeitig eine unpopuläre und benachteiligende Rentenreform für die Zivilbevölkerung verabschiedet wurde, und das Budget für die Streitkräfte wurde erhöht, während gleichzeitig in anderen Bereichen gespart wird. Bolsonaro verhandelt sein Mandat mit dem mächtigen Präsidenten des Abgeordnetenhauses Rodrigo Maia, dem insgesamt 47 Anträge auf Amtsenthebung vorliegen, sowie mit einer Gruppe politischer Zentrumsparteien, dem sogenannten »Centrão«, dem 200 (von 513) Abgeordneten angehören. Diese Gruppierung besitzt keine besondere ideologische Identität, ihr Handeln ist vielmehr von Klientelismus und Gefälligkeiten bestimmt, und dennoch haben sie Einfluss auf das politische Gleichgewicht und die Regierbarkeit des Landes.

Das wohl wichtigste Ergebnis unserer Studie ist die allgemeine Frustration und Hilflosigkeit der kritischen oder enttäuschten Bolsonaro-Wähler angesichts mangelnder politischer Optionen im Land. Dies könnte dazu führen, dass sie 2022 »aus Mangel an besseren Alternativen« Bolsonaro wiederwählen. Vor diesem Hintergrund stellt sich der Demokratie aktuell die große Herausforderung, den politisch Verwaisten eine mögliche Alternative zu bieten. Bis zum heutigen Tag sind die progressiven Kräfte noch nicht als vertrauenswürdige politische Wahlalternative anerkannt. Hinzu kommen andere Herausforderungen, die vor allem der PT zu schaffen machen: Die Zustimmung für Bolsonaro steigt unter den Ärmsten, nachdem dieser eine Notfallhilfe von 600 Reais (knapp 100 Euro) während der Pandemie bewilligte. Bolsonaro investiert jetzt auch politisch in den Nordosten, wo sich traditionell mehr PT-Wähler konzentrieren. Die Linke hat wenig Zeit zu reagieren, denn im November finden Kommunalwahlen statt. Es sind die ersten Wahlen während des Regierungsmandats Bolsonaro, bei denen ein Kräftemessen zwischen dem Block seiner Anhänger und dem progressiven Block erwartet wird.

Dem demokratischen Lager steht eine der größten historischen Herausforderungen bevor: den Dialog mit jenen zu suchen, die es bereuen, Bolsonaro gewählt zu haben und diesen eine mögliche Zukunft aufzuzeigen.

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