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Warum eine Weltrechtsordnung dringend notwendig ist

Die fortschreitende globale Industrialisierung und Modernisierung hat ein integriertes Weltsystem hervorgebracht, das sich über die ganze Erde erstreckt. Finanzströme und Wirtschaftskonzerne kennen keine nationalstaatliche Bindung. Entwicklungs- und Produktionsprozesse sind global vernetzt. Es ist eine transnationale Elite entstanden, die aus den Eigentümern und oberen Führungskräften transnationaler Unternehmen besteht und von führenden Beamten, Politikern, Wissenschaftlern und Medienvertretern unterstützt wird, um gemeinsame wirtschaftliche Interessen umzusetzen.

Zugleich ist die Menschheit zu einer Schicksalsgemeinschaft geworden. Die Gefahren eines Atomkrieges, globaler Pandemien, der Umweltzerstörung oder des Klimawandels betreffen uns alle – mehr denn je zuvor.

Die Bemühungen zu nuklearer Abrüstung kommen jedoch nicht voran. Noch immer sind über 2.000 Atomraketen innerhalb von Minuten abschussbereit. Ihre Sprengkraft reicht aus, um die Weltzivilisation auszulöschen. Der Anstieg des CO2-Gehalts in der Atmosphäre aufgrund der Nutzung fossiler Brennstoffe ist ungebremst und die Konsequenzen des zu erwartenden Temperaturanstiegs sind unabsehbar. Die Klimaprozesse unseres Planeten könnten in einen lebensfeindlichen Zustand kippen. Der menschliche Einfluss auf globale Gemeingüter wie die Atmosphäre muss gesteuert und reguliert werden, damit planetare Grenzen nicht überschritten und die Stabilität des Erdsystems nicht gefährdet wird. Auch die Bereitstellung wichtiger öffentlicher Güter wie Ernährungssicherheit oder die Stabilität des Finanz- und Wirtschaftssystems hängt stark vom Funktionieren globaler Strukturen und Prozesse ab.

Die Vereinten Nationen und ihre vielen Sonderorganisationen, die internationalen Finanzinstitutionen, die Welthandelsorganisation und verschiedene zwischenstaatliche Netzwerke erfüllen schon jetzt viele Funktionen einer Weltregierung. Dieser Apparat ist jedoch ineffektiv, intransparent und undemokratisch. Die transnationale Elite übt einen unverhältnismäßig starken Einfluss aus. Die Vermögenskonzentration hat unerträgliche Ausmaße angenommen. Die acht reichsten Milliardäre sollen Oxfam zufolge über mehr Vermögen verfügen, als die ärmste Hälfte der Menschheit. Diese ärmste Hälfte ist außerdem nur für 10 % der globalen Emissionen verantwortlich. Rund 8 % des weltweiten Vermögens lagert Schätzungen zufolge in Steueroasen und wurde an den Finanzbehörden vorbeigeschleust. Die durchschnittlichen Unternehmenssteuersätze sinken seit Jahrzehnten.

Der technologische, wirtschaftliche und soziale Fortschritt hat für viele Menschen einen in der Geschichte einmaligen Wohlstand ermöglicht. Zu einem großen Teil wurde er jedoch auf Kosten der restlichen Welt, des Ökosystems und zukünftiger Generationen verwirklicht. Als globales Modell führt die wachstumsorientierte Wegwerf- und Konsumgesellschaft in eine Sackgasse. Eine zweite, planetare Moderne muss sich den Risiken und Folgen einer globalisierten Industriegesellschaft stellen und eine radikale Transformation bewerkstelligen. Die Herausforderung besteht darin, zu einer weltweiten Wirtschaftsform zu gelangen, die sich innerhalb der Grenzen des Erdsystems und im Rahmen der natürlichen Regenerationsfähigkeit der Erde bewegt und die gleichzeitig bestmöglichen Wohlstand für alle sowie Verteilungsgerechtigkeit ermöglicht.

Das Projekt eines Weltparlaments ist der vielleicht wichtigste Schlüssel zur Realisierung einer demokratischen, solidarischen, nachhaltigen und pazifistischen Weltordnung. Der nationale Steuerungsverlust, der mit einer Aushöhlung der Demokratie einhergeht und populistische Kräfte nährt, soll durch den Aufbau einer Weltdemokratie ausgeglichen werden, die in wichtigen globalen Politikbereichen transparente und effektive Steuerung ermöglicht. Selbst wenn alle Länder der Welt auf nationalstaatlicher Ebene einwandfreie Demokratien wären, würde das nichts am Kontrollverlust durch globale Verflechtungen und am undemokratischen Charakter des Weltsystems ändern. Grundlage der Idee eines Weltparlaments ist die Anerkennung dessen, dass alle Menschen gleichberechtigte Mitglieder einer weltumspannenden Menschheitsfamilie sind. Das Weltparlament ist die politische Institution, in der die Menschheit durch direkt gewählte Abgeordnete vertreten wird.

In der bestehenden völkerrechtlichen Ordnung gibt es keine Instanz, die ein übergeordnetes Menschheitsinteresse vertritt. In zwischenstaatlichen Organisationen und Verhandlungen sind meist allein die Staaten und ihre Regierungen vertreten. Sie setzen sich dort für ihre eigenen Interessen ein und werden dabei instrumentalisiert. In Verhandlungen gilt meist das Konsensprinzip, sodass viele Kompromisse eingegangen werden müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen.

Dem Völkerrecht fehlen die Merkmale, die ein funktionierendes Rechtssystem ausmachen. Es gibt keine allgemeinverbindliche Festsetzung des Rechts durch Gesetzgebung, keine obligatorische Entscheidung von Streitfällen vor Gericht und auch keine Mittel zur Rechtsdurchsetzung. Durch diese Merkmale muss ein neues Weltrecht charakterisiert sein. Während Völkerrecht in der Regel nur Staaten auf freiwilliger Basis bindet und national umgesetzt werden muss, sollte Weltrecht prinzipiell überall und für jeden unmittelbar gelten.

Weltrecht wird nicht nach dem Konsensprinzip durch zwischenstaatliche Verträge, sondern durch eine Weltlegislative geschaffen. Diese sollte aus zwei Kammern bestehen, einer Staatenversammlung und einem Weltparlament. Während erstere aus Repräsentanten der Regierungen besteht und dem völkerrechtlichen Prinzip »ein Staat, eine Stimme« folgt, wird letzteres von der Weltbevölkerung demokratisch gewählt und orientiert sich an dem Prinzip »eine Person, eine Stimme«. Für die Verabschiedung von Weltrecht sollte die Zustimmung beider Kammern notwendig sein. Je nach Gegenstand sollten dabei unterschiedliche qualifizierte Mehrheiten erforderlich gemacht werden. Ob die Beschlüsse der Weltlegislative und das Handeln globaler Regierungsinstitutionen mit Grund- und Menschenrechten in Einklang stehen, muss vor einem Weltverfassungsgericht überprüfbar sein.

Eine Weltrechtsordnung mit Weltparlament wird nicht von heute auf morgen entstehen. Es ist jedoch wichtig, das Scheitern der zwischenstaatlichen Ordnung zu erkennen und den Zielpunkt eines globalen Einigungsprozesses zu skizzieren. Ein erster Schritt wäre schon jetzt möglich, wenn genügend politischer Wille vorhanden wäre: die Schaffung einer Parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen (United Nations Parliamentary Assembly, UNPA). Der Vorschlag ist inspiriert von der Entwicklung des Europäischen Parlaments (EP). Die Rechte und Funktionen des EP wurden in einem jahrzehntelangen Prozess nach und nach weiterentwickelt. Seit dem Vertrag von Lissabon aus dem Jahr 2009 sind das EP und der Rat der Europäischen Union im Gesetzgebungsverfahren auf den meisten Politikfeldern gleichberechtigt. Bis zur Einführung von Direktwahlen im Jahr 1979 war es aus Mitgliedern der nationalen Parlamente zusammengesetzt.

Eine UNPA soll demnach im ersten Schritt als beratendes Gremium der UNO eingerichtet werden. Dies könnte durch einen Beschluss der UN-Generalversammlung, ohne Änderung der UN-Charta sowie ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates erfolgen. Den teilnehmenden Ländern soll dabei zunächst selbst überlassen werden, ob sie ihre Delegierten aus dem nationalen Parlament entsenden oder direkt wählen lassen. Entscheidend dabei ist, dass auch die Opposition und Minderheiten vertreten werden. Nach dem Vorbild des EP wäre die Sitzverteilung an der Bevölkerungsgröße orientiert, aber gestaffelt. Kleine Länder bekämen mehr Abgeordnete pro Kopf als große.

Für eine UNPA gäbe es viel zu tun. Was zum Beispiel wäre in einer besseren Position als die Vertreter der Weltbürger, um die Fortschritte der neuen Ziele zur nachhaltigen Entwicklung zu bewerten? Eine UNPA sollte ihren eigenen Menschenrechtsausschuss einrichten. Sie sollte Druck auf Regierungen ausüben, um bei Abrüstungsfragen voranzukommen. Sie könnte den Fortschritt beim Kampf gegen den Klimawandel überwachen. Sie sollte einen Untersuchungsausschuss zum internationalen System der Steuervermeidung einrichten. Mit der Zeit sollte die UNPA Informations-, Beteiligungs- und Kontrollrechte gegenüber allen relevanten globalen Regierungsinstitutionen erhalten. Parallel zum Voranschreiten nationalstaatlicher Demokratisierung und der Einführung von Direktwahlen könnten die Kompetenzen der UNPA nach und nach ausgeweitet werden. Eines Tages, wenn es zu einer Revision der UN-Charta kommt, könnte sie im Rahmen einer Weltrechtsordnung zu einem Weltparlament ausgebaut werden.

Befürworter einer UNPA sind der Überzeugung, dass die Versammlung selbst ein wichtiger Motor für eine Weiterentwicklung des internationalen Systems sein würde, ähnlich wie das EP die europäische Einigung bei kritischen Themen vorangebracht hat. Die Kampagne für eine UNPA wird von einem breiten Spektrum an Persönlichkeiten und Institutionen aus mehr als 150 Ländern unterstützt. Darunter sind mehr als 1.500 amtierende und ehemalige Parlamentarier, zehn Nobelpreisträger, über 300 Professoren und zahlreiche ehemalige UN-Beamte. Das Europäische Parlament, das Lateinamerikanische Parlament und das Panafrikanische Parlament haben sich hinter den Vorschlag gestellt.

Ein wichtiger Fürsprecher war der ehemalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, der am 16. Februar 2016 verstarb. Seine Botschaft ist aktueller denn je: »Wir müssen die Demokratisierung der Globalisierung voranbringen, bevor die Globalisierung die Grundlagen nationaler und internationaler Demokratie zerstört. Die Etablierung einer Parlamentarischen Versammlung bei den Vereinten Nationen ist ein unverzichtbarer Schritt geworden, um eine demokratische Kontrolle der Globalisierung zu erreichen.«

(Bei J. H. W. Dietz Nachf. erschien 2017 von den beiden Autoren »Das demokratische Weltparlament. Eine kosmopolitische Vision«.)

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