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Für einen sozialdemokratischen Wertewandel Warum Toleranz nicht mehr ausreicht

»Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein:

sie muss zur Anerkennung führen.

Dulden heißt beleidigen.«

(Johann Wolfgang von Goethe)

Obwohl bereits rund 200 Jahre alt, ist dieses Zitat aktueller denn je. In Deutschland und Europa hat der Wert »Toleranz« mittlerweile eine kaum hinterfragte Dominanz im öffentlichen Diskurs eingenommen. In jedwedem gesellschaftspolitischen Konflikt gilt Toleranz heutzutage als Allheilmittel. Angela Merkel bemerkte einmal öffentlichkeitswirksam, dass Toleranz »die Seele Europas« bilde. Damit scheint Toleranz zum Wert aller Werte aufgestiegen zu sein, von dem politisches Denken und Handeln bedingungslos abgeleitet werden sollte. Die deutsche und europäische Sozialdemokratie scheint sich dieser Prämisse ohne nennenswerte Widerstände anzuschließen. »Toleranz« und das sie umgebende Bedeutungsfeld bilden somit einen enorm starken, lagerübergreifenden Kitt der liberalen Mehrheitsgesellschaft. Aus sozialdemokratischer Sicht stellen sich aber folgende Fragen: Entspricht Toleranz als Leitwert in gesellschaftspolitischen Fragen vollständig den sozialdemokratischen Grundwerten? Wie könnte eine Alternative aussehen?

Zunächst bedarf es der Klärung, wieso der Begriff Toleranz einen derart hohen Stellenwert genießt, obwohl dessen Problematik bereits Anfang des 19. Jahrhunderts erkannt wurde. Dies hängt in erster Linie mit dem zwiespältigen Erbe der Aufklärung zusammen, die die Werte der Sozialdemokratie entscheidend prägte. Der Kern unserer heutigen liberalen Demokratie liegt in dem rationalistischen, universellen und individuellen Blick auf die Gesellschaft begründet, wie er das 18. Jahrhundert dominierte. Ohne die (geistigen) Errungenschaften Immanuel Kants oder Gotthold Ephraim Lessings, die in Religionsfreiheit und Rechtsgleichheit jedes staatsbürgerlichen Individuums mündeten, wären die Konzeption und Durchsetzung sozialdemokratischer Werte unmöglich geblieben. Allerdings wurde in der weiteren europäischen Geistesgeschichte schnell klar, dass diese Grundsteinlegung auch problematische Züge aufwies, wofür Goethes Ausspruch ein Zeugnis darstellt.

Denn die universalistische Moral und der um sich greifende Rationalismus, für die sich der Hauptstrang der Aufklärung verbürgte, schienen die Menschen zu einem allzu gefühlskalten, kalkulierenden Umgang mit ihrer Umwelt zu zwingen. Durch die Formulierung eines allgemeingültigen moralischen Sittengesetzes bestand erstens ein Konformitätszwang, der dazu führen konnte, sich in seiner partikularen Persönlichkeit nicht mehr entfalten zu können. Zweitens bestand die permanente Gefahr, sich durch den Vorrang der geistigen Vernunft vor der real existierenden Welt von seinen Mitmenschen im Sinne eines direkten, intensiven Kontakts zu entfremden. Die Durchsetzung einer »aufgeklärten« Ordnung nach der Französischen Revolution, die in blutiger Terrorherrschaft endete, bildet hierbei wohl das erschreckendste Beispiel. Es erscheint geradezu zwangsläufig, dass nachfolgende geistig-literarische Bewegungen wie die Weimarer Klassik (mit Goethe, Friedrich Schiller u. a.) oder die Romantik der Aufklärung einen intensiveren, gefühlvolleren Umgang mit der Welt und den Mitmenschen entgegensetzen wollten. Genau wie die Verwirklichung der »reinen Lehre« der Aufklärung besaß diese Entwicklung aber ein ebenso gefährliches, zerstörerisches Potenzial, wofür der damals entstehende Nationalismus wahrscheinlich das beste Beispiel darstellt. Auch die Sozialdemokratie kann seit ihrem Bestehen dem entgegengesetzten Erbe von Vernunft und authentischem Gefühl, das bis heute einer Auflösung harrt und vielleicht den wichtigsten Grundkonflikt der westlichen modernen Identität ausmacht, nicht entgehen.

Gerade in den letzten Jahrzehnten scheint diese Zerrissenheit der westlichen Moderne aber zunehmend aus dem Blick geraten zu sein. Die Mitte-rechts-Parteien versuchten ab den 80er Jahren jene christlich-konservativen Wurzeln abzuschütteln, die im Menschen mehr sehen als einen Träger individueller ökonomischer Interessen. Währenddessen bemühte sich die Linke nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, alle kollektiven gesellschaftlichen Visionen und Ziele ebenfalls zugunsten eines allein auf das individuelle Wohlergehen ausgerichteten Liberalismus zu transformieren. Es entstand ein lagerübergreifender, liberaler Konsens, dessen Unantastbarkeit und Stärke sogar die Vermutung aufkommen ließ, man habe nun das Ende der Geschichte erreicht. Dieser utilitaristische Kompromiss, der durch eine möglichst freie, individuelle Entfaltung die Glückseligkeit aller beständig vergrößern soll, lässt dabei aber einseitig die oben (grob umrissenen) »aufgeklärten« politischen Konzepte zur Geltung kommen, während die »romantischen« in den Hintergrund treten. Das Phänomen des aufsteigenden Begriffs der »Toleranz« in unserer Zeitgeschichte ist ein eindeutiges Symptom für diese Entwicklung. Es erklärt vielleicht auch, dass in unserer Zeit die Rezeption der Aufklärung als historisches Phänomen eine so positive Deutung erfährt wie selten zuvor.

Im Folgenden soll am Beispiel des Wertes der Toleranz in der gegenwärtigen Politik deutlich gemacht werden, inwiefern diese Entwicklung, der sich auch die Sozialdemokratie nicht entziehen konnte, in gewisser Hinsicht problematisch ist und wie alternative sozialdemokratische Ideen, die aus dem utilitaristischen »Mainstream« ausbrechen, eine Bereicherung darstellen könnten. Dafür bietet sich natürlich in erster Linie die Untersuchung des Umgangs mit dem für uns »Fremden« an, egal ob er in Form von Migrations-, Außen- oder Innenpolitik auftritt.

Wie uns der Sommer 2015 in Form der sogenannten »Flüchtlingskrise« deutlich vor Augen geführt hat, reicht das Schlagwort Toleranz allein nicht aus, um verunsicherte Bürger/innen zu beruhigen und von der Notwendigkeit weltoffenen politischen Handelns zu überzeugen. Von der europäischen Bewegungslinken kann und sollte darüber hinaus mehr erwartet werden. Die Völkerverständigung, Stichwort internationale Solidarität, gehörte schon immer zu den besonderen Anliegen linker Gruppierungen, die weit über die Minimalanforderungen einer auf Distanz angelegten Toleranz hinausgingen. Wie schon Goethe feststellte, kann das reine Tolerieren bzw. Dulden anderer Wertvorstellungen und Lebensweisen einer bornierten Ignoranz gleichkommen, die auch Beleidigungen miteinschließen kann. Schließlich versucht man damit gar nicht erst, die Beweggründe für eine bestimmte Lebensweise in ihrem tiefsten Kern zu verstehen, geschweige denn eventuelle Bereicherungen daraus zu ziehen. Auch die Integration anderer Kulturen, die im Westen gern postuliert und erwartet wird, scheitert daran rigoros. Wer nur geduldet wird, findet keinen rechten Anschluss in der Mitte der Gesellschaft und bleibt ein Fremdkörper. Aktuell scheint die westliche Vorstellung der Völkerverständigung eher darauf zu beruhen, dass andere Kulturen, insbesondere wenn sie noch starke Bindungen zu religiös-kollektiven Werten besitzen, implizit und explizit als noch nicht »aufgeklärt« angesehen werden. Dies ist an Ignoranz kaum zu übertreffen.

Ein weiteres Beispiel der Problematik der Toleranz liefert der Umgang Westdeutschlands mit der ehemaligen DDR. Die deutsche Wiedervereinigung hat gezeigt, welche langfristigen Konsequenzen es hat, wenn eine dominante politische Kultur sich gegenüber einer unterlegenen durchsetzt, ohne jegliche Traditionen, Lebensweisen und Wertvorstellungen der anderen Seite anzunehmen oder auch nur anzuerkennen. Die angebliche Offenheit der westlich liberalen Kultur entlarvte sich in diesem Fall schnell als Recht des Stärkeren, die mit den Mitteln des freien Marktes, ohne messbare Repression, den DDR-Bürger/innen gnadenlos das politische System der BRD überstülpte und deren Anpassung forderte. Dass sich die Wiedervereinigung nicht auf Augenhöhe vollzog und sich bis heute auf die Verständigung zwischen Ost- und Westdeutschland auswirkt, kann man sehr gut an den divergierenden Ansichten zum Thema Migration ablesen. Die größere Abneigung gegenüber dem Fremden in Ostdeutschland wird aber allgemein nicht zum Anlass genommen, über die tiefer liegenden Ursachen nachzudenken. Dominierend ist in linken Kreisen dagegen die Sichtweise, dass die ehemalige DDR einfach noch nicht den westdeutschen, aufgeklärten Entwicklungsstand erreicht habe. Es wird gerade von jenen Toleranz und Offenheit eingefordert, die selbst in ihrer Lebensform niemals wirklich anerkannt wurden.

Da dem Konzept abseits eines diffusen Prinzips der checks and balances jegliche explizite Handlungsempfehlungen im Umgang mit den Mitmenschen fehlen, werden zunehmend Spannungs- und Konfliktlinien innerhalb des liberalen Konsenses selbst sichtbar. Hier dringt ein Konflikt an die Oberfläche, der lange unter dem Deckmantel der Toleranz gehalten wurde. Denn das Diktum bezieht sich nicht nur auf den Umgang mit dem »äußeren« Fremden, sondern auch auf politische Konflikte innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Toleranz verheißt dabei stets die beste Lösung. Diese Maxime kann aber neben sich keine alternativen, über die »aufgeklärten« Konzepte von Gesellschaft und Individuum hinausgehenden Lösungswege für tiefe Konflikte dulden. Jede ernsthafte Kritik am bestehenden, dem utilitaristischen Minimalkonsens verpflichteten System muss zwangsläufig intolerante, aufbrechende und fordernde Züge annehmen.

Die 68er-Bewegung bietet dafür ein hervorragendes Beispiel und es ist gewiss kein Zufall, dass im Zuge dieses Aufbruchs dem Wert der Toleranz ein repressiver Charakter bescheinigt wurde. In diesem Sinne kannten die Diskussionen um die Flüchtlings- und Migrationspolitik vor allem 2015/16 nur Schwarz und Weiß in der Grauzone der Wirklichkeit: Entweder man bewegte sich auf einer starr festgelegten Seite des liberalen Konsenses, oder man wurde aus dem Diskurs ausgeschlossen. Dadurch hat gerade die europäische Bewegungslinke alle Dilemmata, die mit dieser Frage einhergehen, versucht, rhetorisch zu überdecken und interne Differenzen zu unterdrücken. Zugleich wurde mit diesem selbst auferlegten Maulkorb dem konservativen Lager das Spielfeld bei der Ausgestaltung der Außen-, Sicherheits- und Migrationspolitik überlassen. Auch deshalb haben wir in den letzten Jahren eine Politik beobachten können, die eher reagiert, als aktiv und progressiv gestaltet. Dabei war die deutsche Sozialdemokratie immer dann besonders stark, wenn sie es schaffte, Antworten auf die Fragen und Unsicherheiten der Zukunft zu finden und selbstbewusst voranzugehen.

Vielleicht findet sich auch hier ein Grund für den rasanten Absturz der SPD in den letzten Jahren: Die Menschen in Europa haben schon längst begriffen, dass sich die politischen Realitäten nicht mehr mit der Methodologie eines merkelschen Minimalliberalismus einfangen und bearbeiten lassen, während die SPD zu wenig über das hinausdenkt, was gerade erreichbar ist.

Spätestens jetzt, wo europaweit die sozialdemokratischen Parteien an Zustimmung verlieren und der Rechtspopulismus immer mehr die Oberhand gewinnt, wäre der Zeitpunkt gekommen, eine andere Richtung einzuschlagen, die sich eindeutig von dem durch den Begriff »Toleranz« verkörperten Denkmuster absetzt. Das soll wiederum nicht heißen, dass man die Errungenschaften des politischen Liberalismus als grundsätzliches Problem verstehen oder gar als letzte zu überwindende Hürde für eine linke Vision von Gesellschaft sehen sollte, wie es der Kommunismus getan hat. Die Möglichkeit, auch ohne starke kollektive Bindungen und Verpflichtungen alle Vorzüge unseres Rechts- und Wohlfahrtsstaats genießen zu können, muss weiterhin das tragende Fundament sozialdemokratischer Gesellschaftskonzeptionen bilden. Nur sollte man nicht an diesem Punkt stehen bleiben, sondern darüber hinausgehende Optionen stärker bewerben und verwirklichen. Es gibt sehr wohl Alternativkonzepte des Umgangs mit dem Fremden und der Vergemeinschaftung, die als Ergänzung zum geistigen Instrumentarium der derzeitigen liberalen Demokratie dienen könnten und trotzdem mit sozialdemokratischen Werten unbedingt übereinstimmen. Gerade die SPD beraubt sich mit einer einseitigen Ausrichtung im Sinne des gesellschaftlichen Liberalismus eines wesentlichen Teils ihrer Ideengeschichte und ihres Wertekanons.

Denn neben den aufgeklärten Werten spielte für die Ermächtigung der Arbeiter/innen als politische Bewegung der Wert der gegenseitigen Solidarität, der partikularen Vergemeinschaftung gegenüber der kapitalistisch-liberal orientierten Elite eine entscheidende Rolle. Der wesentliche Reiz der Arbeiter/innenbewegung bestand nicht nur im Kampf um abstrakte Rechte, sondern auch im Gefühl, die individuelle Unterlegenheit gegenüber der Bourgeoisie durch neue Formen der kollektiven Organisation überwinden zu können. Die dadurch neu entstehenden Gemeinschaftsformen besaßen das Potenzial enorm starker emotionaler Bindungen innerhalb der Arbeiter/innenschaft, diese ermöglichten überhaupt erst den Aufstieg von Gewerkschaften und Arbeiter/innenparteien. Durch die kollektive Verbundenheit konnte die Vision einer besseren, gerechteren Welt nicht nur als vergebliche Utopie, sondern als reale Möglichkeit erscheinen, die der Zugehörigkeit zur Arbeiter/innenklasse eine tiefe Sinndimension abseits bürgerlicher Religiosität verleihen konnte. Das Bewusstsein für diesen Teil der sozialdemokratischen Ideengeschichte blitzt zwar immer wieder auf, aber vor allen Dingen in den letzten beiden Jahrzehnten lässt sich eine drastische Entfremdung von diesem so essenziellen ideellen Erbe beobachten. Darin könnte auch ein Teil der Antwort für die Entfremdung der SPD von Gewerkschaften und Arbeiter/innen liegen.

Es soll hier aber nicht darum gehen, eine eindeutige Lösung für die darbende Sozialdemokratie zu präsentieren, sondern vielmehr eine größere ideelle Öffnung der SPD für die oben als »romantisch« postulierten Ansätze vorzuschlagen, die über das Prinzip der Toleranz hinausgehen. Kommunitaristische Ansätze wie sie von Charles Taylor, Michael Sandel oder Michael Walzer vertreten werden, bilden hierbei eine wichtige Quelle. Der starke Reiz, sich heutzutage rechtspopulistischen wie religiös-fundamentalistischen Bewegungen anzuschließen, resultiert nicht zuletzt aus dem Verlangen nach eben jenen »romantischen« Menschen- und Gesellschaftsbildern, die die Selbstbehauptung des Ichs in einer komplexen, das Subjekt verschlingenden Welt zu versprechen scheinen. Dabei ist das Bedürfnis, eng mit einer real existierenden, solidarischen Gemeinschaft verbunden zu sein, die dem eigenen Leben Sinn und Bedeutung verleiht, etwas zutiefst Menschliches. Der Erfolg der Rechtspopulist/innen und religiösen Extremist/innen beruht schlichtweg auf dem Versagen der liberalen Demokratie, auf diese Bedürfnisse adäquate Antworten zu finden. Gerade deshalb könnte die Verlockung, die von den wiedererwachten völkischen und nationalistischen Konzepten ausgeht, noch erschreckendere Ausmaße annehmen.

Das Streben nach Gemeinschaft, nach Anerkennung, das durch allzu individualistische, kühle und rationale menschliche Beziehungen erzeugt wird, führt in diesem Fall zum bedingungslosen Ausschluss alles Fremden. Gerade Toleranz als alleinige Wertmaxime kann also zielsicher genau zu dem Szenario führen, welches sie eigentlich vorgibt zu verhindern.

Deshalb bedarf es dringend eines linken »romantischen«, kommunitaristischen Konzepts, das zum einen über das liberale Toleranzdiktum hinauswächst, zum anderen nicht in die fundamentalistische, nationalistische Versuchung gerät. Das Beispiel des Nationalstaats zeigt, dass linkes, progressives Denken zweifelsohne möglich sein kann, ohne den Identifikationsrahmen der Nation vollständig aufgeben zu müssen. Es sollte nur die starke Versuchung unterbunden werden, dem Nationalstaat zwangsläufig eine ethnisch, religiös oder kulturell begründete, homogene Bevölkerung beizustellen. Denn die europäischen Nationalstaaten als historische Gebilde waren seit Anbeginn vielfältig verfasst und besaßen durch unterschiedlichste kulturelle Einflüsse stets einen hohen Grad an Kontingenz. Mit dieser Sichtweise entfällt das seit dem 19. Jahrhundert eingeübte Innen-außen-Prinzip, welches alles Fremde räumlich-geografisch aussondert, um eine künstliche, aufgezwungene Einheit herzustellen. Der Export dieses Prinzips in die Welt führt immer noch zu folgenschweren Konflikten in Ländern, die über keinen gewachsenen Nationalstaat verfügen. Nicht nur in einer globalisierten Welt, niemals in der Geschichte konnte sich eine Kultur völlig gegen fremde Einflüsse abschotten. Daher sollte man es als Selbstverständlichkeit nehmen, mit Respekt und Verständnis auf das fremde Außen zuzugehen und die Welt in uns aufzunehmen. Wir sollten das Fremde in uns selbst und in anderen akzeptieren und als Bereicherung empfinden.

Dabei sollte man jedoch nicht die historisch-kulturellen Wurzeln Europas negieren. Jede Gesellschaft braucht für ihren erfolgreichen Fortbestand die Sicherheit einer gefestigten Identität und einer Orientierung an Werten und Lebensformen, die mühsamer kultureller Einübung bedürfen. Die jahrzehntelange Ignoranz dieses Sachverhalts eines allein auf wirtschaftlichen Wohlstand fixierten Europas fordert nun seinen Tribut. Ein Identitätsvakuum wird sichtbar, dass sich mangels Alternativen abseits des Toleranzdiktums vermehrt auf ebenjene nationalistische Ebene zurückbesinnt und das innere wie äußere Fremde versucht, von neuem auszuschließen.

Die Sozialdemokratie sollte dagegen entschlossen für die Offenheit gegenüber Fremdheitserfahrungen, gleich welcher Art, auftreten. Ein außenpolitischer Isolationismus würde dagegen zu einer weiteren Entfremdung Europas von seinem materiellen und ideellen Erbe führen und es verdorren lassen. Es ist aufgrund der traditionellen Verbundenheit der SPD mit dem sozialen Nationalstaat leicht zu verstehen, wieso diese Sicht der Dinge gerade unserer Kernwählerschaft schwer zu vermitteln ist. Diesem Problem ist nur mit einer neuen, überzeugenden sozialdemokratischen Erzählung sozialer wie gemeinschaftlicher Verbundenheit abseits des Nationalstaats beizukommen.

Stattdessen flüchten sich auch die Intellektuellen der Sozialdemokratie oft in liberale Blasenträume einer individualistisch-multikulturellen Gesellschaft, deren verbindende Elemente allein auf die Akzeptanz abstrakter rechtlicher Normen abzielen, Toleranz bleibt dabei das höchste der Gefühle. Die so dringend benötigte Verbindung zwischen dem Eigenen und dem Fremden findet dagegen keinen Platz. Dabei sollten diese beiden Variablen einen stetigen wechselseitigen Gemeinschaftsbildungsprozess eingehen, nur so kann für Stabilität und Frieden innerhalb und außerhalb eines bestimmten Kulturkreises garantiert werden.

Was wir also im Umgang mit dem Fremden wirklich benötigen, ist nicht Toleranz, sondern tief gehende und ernst gemeinte Anerkennung. Das heißt, dass man im ehrlichen und fairen Diskurs feststellt, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede liegen. Dies gelingt nur durch ein Überschreiten eines oberflächlichen und ausschließenden Konsenses der Toleranz, an deren Stelle intensive menschliche Beziehungen treten können, die dem Drang des Menschen nach Gemeinschaft und Anerkennung gerecht werden. Wenn sich die europäische Sozialdemokratie diesem Problem stellt und ein alternatives, mehr an »romantischen«, kommunitaristischen Prinzipien ausgerichtetes Konzept der gesellschaftlichen Ordnung entwickelt, könnten viele aktuelle politische Probleme produktiv angegangen werden. Die SPD könnte sich von einer konservativen, auf Einheitlichkeit basierenden Idee von Gesellschaft abgrenzen, aber auch von einem von FDP und Grünen vertretenen kühlen, eigenverantwortlichen Individualismus, der blind für soziale Bindungen ist. Es böte sowohl die Möglichkeit, eine nachhaltige, progressive Vision in der Migrations- und Außenpolitik zu formulieren, als auch gleichzeitig frustrierte ehemalige Wähler/innen zurückzugewinnen. Die Sozialdemokratie würde mit der Betonung der Zweideutigkeit ihrer eigenen Grundwerte, die sich in ihrer Geschichte stets zwischen »Aufklärung« und »Romantik«, Liberalismus und Kommunitarismus bewegten, ihre in letzter Zeit verlorene Sicherheit in Wertefragen zurückgewinnen. Außerdem könnte die SPD so neue gesellschaftspolitische Konzeptionen mit Alleinstellungsmerkmal in der Parteienlandschaft entwickeln, die in breiten Wählerschichten, unabhängig von kulturellen oder religiösen Identitäten, hohe Attraktivität entfalten würden.

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