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Was Bildung heute sein sollte

Seit Georg Picht 1964 die Öffentlichkeit der Bundesrepublik mit dem Buch Die deutsche Bildungskatastrophe in eine geradezu apokalyptische Erregung versetzte, ist der Bildungssektor in Deutschland immer wieder Gegenstand heftiger politischer Kontroversen gewesen. Die Sprache, in der die Auseinandersetzung auf diesem Feld geführt wurde, war auch früher nicht zimperlich, oft polemisch und gelegentlich sogar diffamierend. Erinnert sei an die Entgleisung, mit der Jürgen Rüttgers und die CDU im Jahr 2000 im Landtagswahlkampf in Nordrhein-Westfalen auf Stimmenfang gingen: »Kinder statt Inder!« Aber wenn man heute die Titel einiger der neuesten bildungspolitischen Publikationen liest, kann man den Eindruck gewinnen, die sprachliche Verrohung, die wir in den digitalen Medien seit Längerem beobachten, sei nun endgültig auch in der seriöseren Buchbranche angekommen: Deutschland verdummt (Michael Winterhoff), Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? (Jürgen Kaube), Schafft die Schule ab (Oliver Hauschke). Geradezu brav und hausbacken dagegen der Titel des neuen Buches von Konrad Paul Liessmann, Bildung als Provokation.

Wenn man die entsprechenden Bücher aufschlägt, stellt man allerdings alsbald fest, dass es den Autoren zumeist durchaus um eine sachlich argumentative Auseinandersetzung geht, die sich wohltuend von den zumeist lauten Titeln unterscheidet. Allen vier genannten Autoren geht es um die Frage, was Bildung heute sein sollte und wie Bildung in den vorschulischen und schulischen Einrichtungen am besten zu lehren und zu organisieren sei. Alle sind der Meinung, dass der gegenwärtige Zustand von Schulen und vorschulischen Einrichtungen nicht hinnehmbar ist. Dennoch plädiert nur Oliver Hauschke für eine radikale Veränderung der Bildungspolitik und des Schulsystems.

Aber auch Hauschke, laut Buchcover »selbst ambitionierter Lehrer, Schulleiter und Vater von zehn Kindern«, will keineswegs die Schule abschaffen, wie der Titel des Buches suggeriert, sondern den Umgang mit den der Schule anvertrauten Kindern und die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Lehrer von Grund auf verändern. Die Schule, meint Hauschke, solle sich weniger an den Vorgaben der Ministerialbürokratie denn an den Bedürfnissen der Kinder orientieren. Statt immer mehr Stoff in die Köpfe der Kinder zu stopfen, sollten die Lehrer die Kinder für das Lernen begeistern. Der »Bewertungswahn« und die damit verbundenen allzu häufigen negativen Rückmeldungen an die Kinder müssten aufhören, stattdessen müsse es in der Schule erlaubt sein, Fehler zu machen. »An einem Ort, an dem Bildung nicht mehr dem Zweck des Systems dient, sondern der individuellen Entwicklung unserer Kinder«, so Hauschke, »ist eine punktuelle Beurteilung, die sich in Ziffernnoten ausdrückt, nicht mehr notwendig. Und damit entfällt auch die Notwendigkeit von Klassenarbeiten, Prüfungen und Zeugnissen.« Der Autor plädiert darüber hinaus für eine kindgerechte Lernumgebung und für ein weitgehend selbstbestimmtes Lernen, was immer das im Detail heißt, für eine Art Gleitzeit, die den für alle Schüler verpflichtenden frühen Schulbeginn ablösen soll, und für mehr Chancen zum Erwerb sozialer Kompetenzen.

Im Großen und Ganzen befürwortet Hauschke Veränderungen, wie sie heute von vielen »progressiven« Pädagogen, Bildungspolitikern und Didaktikern erwogen und wie sie hier und da in Schulen und Kindergärten auch schon praktiziert werden. Sein Credo lautet: »Die Schule darf nicht ein Ort militärischer Ordnung sein, in dem Arbeitssoldaten passgenau für die Wirtschaft abgerichtet werden. Sie muss ein Ort für Freiheit sein, voller Wildheit, voller Eigensinn und voller Möglichkeiten.« Aber genau an diesem Punkt gehen die Meinungen deutlich auseinander. Zwar ist so gut wie niemand für militärischen Drill in Schulen und Kindergärten und die allermeisten lehnen Tendenzen ab, Bildung durch »Qualifikation« im Sinne der jeweils aktuellen Qualifikationsprognosen der Wirtschaft zu ersetzen. Aber Hauschkes Forderung Notengebung, Klassenarbeiten und Prüfungen überhaupt aus der Schule zu verbannen, trifft bei vielen Eltern, Lehrern und Bildungspolitikern aller Parteien auf heftigen Widerspruch.

Am heftigsten wird dieser Widerspruch schon seit Jahren von dem Kinder- und Jugendpsychiater Michael Winterhoff vorgebracht. In seinem neuen Buch Deutschland verdummt stellt er gleich zu Anfang fest: »Kindergärten und Grundschulen sind zu Stätten des organisierten Verwahrens mutiert, in denen Kinder auf sich selbst gestellt keine Entwicklungsmöglichkeiten für ihre emotionale und soziale Psyche haben und von daher verdummen oder sogar krank werden und zu Lernbegleitern degradierte Erzieher und Lehrer in eine völlige Überforderung geraten und viele in die Frühverrentung rutschen.« Das Hauptproblem für die Gesellschaft liegt laut Winterhoff darin, dass viele Kinder heute weder im Elternhaus noch in Schule und Vorschule zu verantwortlich handlungsfähigen Erwachsenen heranreifen können, dass sie nicht nur in der Schule viel zu wenig lernen, sondern auch nicht die emotionale und soziale Intelligenz erwerben, die sie für ein produktives Miteinander in der Gesellschaft dringend benötigen. Jede Gesellschaft könne aber nur einen begrenzten Anteil an Menschen vertragen, die ohne die Fähigkeit zur Empathie oder Solidarität ausschließlich auf das eigene Wohl bedacht seien.

Nach Winterhoff müssten, um die verhängnisvolle Fehlentwicklung zu stoppen, Eltern und Lehrer die Kinder wieder als Kinder und nicht als kleine Erwachsene behandeln. Sie müssten den Mut haben, Disziplin einzufordern und den Kindern Grenzen zu setzen, wenn sie Regeln missachteten, sie dürften keine Hemmungen haben, den Kindern deutlich zu machen, dass sie als Erwachsene mehr von der Welt verstehen, in die sie die Kinder zu führen haben, als diese selbst. »Die Entscheidung, die wir Erwachsenen dringend für unsere Kinder treffen müssen, ist nicht die zwischen ›offenem Unterricht‹ und ›Frontalunterricht‹. Sondern zwischen ›Unterricht, in dem die Kinder allein gelassen werden‹ und ›Unterricht, in dem die Kinder von Lehrern angeleitet und begleitet werden‹«.

Manchmal klingt Winterhoff wie der ehemalige Leiter der Privatschule Schloss Salem, Bernhard Bueb, der im Jahre 2006 die Republik mit seinem Lob der Disziplin in Aufregung versetzte. Winterhoffs allzu pauschale und zuweilen alarmistische Beschreibung der Lage ist sicher ärgerlich. Seine Kernbotschaft hingegen, dass Kinder neben Liebe und Zuwendung auch Bindung und sachlich begründete Autorität brauchen, um in einem längeren Reifeprozess zu eigenständig denkenden und handelnden Erwachsenen zu werden, ist entwicklungspsychologisch gut belegt. Sein Beharren auf einer gewissen Distanz zwischen Eltern, Erziehern und Lehrern auf der einen und den Kindern auf der anderen Seite und seine vor allem an die Eltern gerichtete Warnung vor einem »symbiotischen« Verhältnis zu den eigenen Kindern sollten nicht vorschnell als vorgestrig abgestempelt werden.

Auch Jürgen Kaube, der Feuilletonchef und Mit-Herausgeber der FAZ, sieht in dem Verfall der »Unterrichtsressource Autorität« eines der Hauptprobleme in der schulischen und vorschulischen Erziehung. Die Disziplin, die es in der Schule herzustellen gilt, definiert er in deutlicher Abkehr von dem autoritären Erziehungsstil, der noch in den 50er und 60er Jahren vorherrschte, als »Habitus von Konzentration, Nachdenken und fragend bei der Sache bleiben«. Seine Hauptsorge gilt allerdings der kaum zu leugnenden Tatsache, dass heute von den Schulen, Kitas und Kindergärten gesellschaftspolitische Wundertaten erwartet werden, die diese Institutionen völlig überfordern. Die ministerialen Lehrpläne, so Kaube, seien hoffnungslos überfrachtet mit zu vielen Aufgabenstellungen, die eher in das Ressort der Sozialpolitik gehören und von den Schulen und ihren Lehrern gar nicht erfüllt werden können. »Gerade wenn soziale Ungleichheit über so viele Faktoren (Einkommen, Wohnen, Bildung, Sprache, Medienkonsum) verstärkt wird, ist es eine soziologisch völlig blinde Phantasie, von der Schule zu erwarten, sie könne die Gesellschaft auf dem Weg über Mathematik- und Deutschstunden ändern. Sozialpolitik ist die beste Sozialpolitik, Bildungspolitik ist die beste Bildungspolitik.« In ironischer Überzeichnung schreibt er: Es habe keinen Sinn, darüber zu klagen, »dass die Abschaffung der Klassengesellschaft nicht von der Schule verwirklicht wird, dass sie zu wenig zur Auflösung der Unterschicht beiträgt, dass dem Abitur keine Abendländer im vollumfänglichen Sinn entspringen oder Leute, die auf die Herausforderungen des Weltmarkts ausreichend vorbereitet sind (…).«

Was also ist Bildung, was kann und sollte Bildung heute sein? Das ist das Thema, das Konrad Paul Liessmann in seinem Buch Bildung als Provokation verhandelt. Zunächst sagt er, was wahre Bildung nicht sei, was aber heute fälschlicherweise allzu oft unter Bildung verstanden werde: Bildung als »Ausbildungs- und Qualifizierungsprogramm mit knappem Zeitmanagement«, wobei »jede Form einer flottierenden Neugier, jede Lust am Erkennen, jede Freude am Schönen als unnütz, als Verschwendung von Zeit und Geld« angesehen werde. In diesem Punkt würden ihm Winterhoff und Kaube sicher, vermutlich sogar Hauschke, zustimmen. Es ist allerdings offensichtlich, dass das heute von Bildungspolitikern und Pädagogen zu feierlichen Anlässen immer gern bemühte »humanistische« oder »humboldtsche Bildungsideal«, das erkennbar auch Liessmann beseelt, in der Alltagspraxis von Schule und Hochschule oft keine Rolle mehr spielt. »Solange Bildung formal als Durchlaufen von Zertifizierungsstellen oder Sammeln von Leistungspunkten definiert und auf den Erwerb von Kompetenzen und zeitgemäßen Kulturtechniken reduziert wird, erwächst aus diesen Bestimmungen weder eine notwendige noch eine mögliche Kraft zur Veränderung.«

Worauf es bei der angemahnten Veränderung denn nun hinauslaufen soll, wird leider auch bei Liessmann nicht klar. Vage Hinweise auf den »Gymnasialprofessor des 19. Jahrhunderts«, der sich noch »als Wissenschaftler« verstand und »in der Höheren Schule eine Institution zur Vermittlung dieser Wissenschaft« sah, ein wenig – in vielem durchaus berechtigte – Polemik gegen »die OECD, Testkonsortien und die Bertelsmann-Stiftung« als moderne »Glaubenskirchen«, die die Schule für die Segnungen der Digitalisierung öffnen, den Frontalunterricht ächten und die Lehrer zu bloßen »Lernbegleitern« machen, und die Forderung nach einem verbindlichen Kanon der europäischen Literatur reichen sicher nicht, um in der gegenwärtigen bildungspolitischen Auseinandersetzung für Orientierung zu sorgen. Da ist es ein Trost, dass es trotz allen Streits über Schulformen, Lehrpläne und Didaktik noch Schulen wie die Gebrüder-Grimm-Schule in Hamm gibt, die kürzlich dafür ausgezeichnet wurde, dass sie in einem schwierigen sozialen Umfeld einfach guten Unterricht macht und die Schüler für das Lernen und für ihre Schule zu begeistern vermag.

Oliver Hauschke: Schafft die Schule ab. Warum unser Schulsystem unsere Kinder nicht bildet und radikal verändert werden muss. mvg, München 2019, 224 S., 16,99 €. – Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder? Rowohlt Berlin, 2019, 336 S., 22 €. – Konrad Paul Liessmann: Bildung als Provokation. Paul Zsolnay, Wien 2017, 240 S., 22 €. – Michael Winterhoff: Deutschland verdummt. Wie das Bildungssystem die Zukunft unserer Kinder verbaut. Gütersloher Verlagshaus, 2019, 224 S., 20 €.

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