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© Foto: picture alliance /Westend61 | Christophe Papke.

Robert Misik ergründet die neue (Ab)Normalität der Pandemie Was bleibt?

Was bleibt? Das ist eine der Ur-Fragen des menschlichen Lebens. Was ist beständig? Worauf kann ich mich verlassen? Was bleibt von mir? Und was bleibt morgen noch von dem, was uns heute wichtig ist? Robert Misik, der engagierte Journalist und Schriftsteller aus Wien, schaut in seinem neuen Buch auf unser Leben in der pandemischen Gesellschaft und fragt, was dies eigentlich ist und was davon bleibt, wenn die Pandemie geht.

Die Bestandsaufnahme ist dabei mitunter widersprüchlich. Wir erleben alle diese Pandemie gleich einem totalen Moment, der eben jeden erfasst. Niemand kann sich freimachen von der Pandemie. Zugleich erleben wir diesen Moment nicht gemeinschaftlich, denn das Ziel unglaublich vieler Maßnahmen ist ja gerade, keine Begegnungen, keine Gemeinschaft zuzulassen. Wir müssen uns immens kontrollieren – ständiges Händewaschen, auf gar keinen Fall Händeschütteln –, erleben aber zugleich einen erheblichen Kontrollverlust: Trotz Einhaltung aller Vorsichtsregeln können wir uns irgendwo anstecken. Wir wünschen uns Solidarität, mitunter enden wir aber im hamsternden Egoismus. Wir sehnen uns nach Nähe und Berührung, wechseln aber auf die andere Straßenseite, wenn uns jemand zu nahe kommt. Kann man aus all diesen widerspruchsvollen Splittern der Gegenwart irgendetwas ableiten? Kann man jetzt schon – mitten in der Pandemie – irgendetwas darüber sagen, was bleiben wird?

Man kann auf jeden Fall gut begründete Schlüsse ziehen. Und Robert Misik zeigt, wie. Kaleidoskopartig nimmt er das Jahr der Pandemie in den Blick und schaut, was es mit uns gemacht hat. Wie sich soziale Beziehungen verändert haben, wie ungleich die Pandemie wirkt – »erst stecken sich die Reichen an, dann wütet sie unter den Armen« –, wie wenig selbstverständlich das war, was wir zuvor als Normalität wahrgenommen haben und wie eigenartig unsere neue »(Ab)Normalität« nun ist.

Dabei verbindet Misik jeweils das unmittelbare Erleben und Handeln der Einzelnen mit den dahinterliegenden gesellschaftlichen Strukturen. Er verdeutlicht immer, wie stark die Handlungsmöglichkeiten jedes Menschen von gesellschaftlichen Voraussetzungen abhängen, die er alleine nicht schaffen kann: »Vom Moment, an dem wir jeden Morgen aufwachen, wenn wir das Licht einschalten (Stromversorgung!), die Mails checken (Breitband-Infrastruktur!) und uns dann duschen (öffentliche Wasserwirtschaft!) und zu den U-Bahnen hetzen (kommunale Verkehrsmittel!).« Für die Pandemie ergibt sich daraus die klare Schlussfolgerung, dass wir trotz aller individueller Betroffenheit nur mit gemeinsamen Strukturen irgendwie aus der Krise kommen werden.

Es gehört zu den Stärken dieses Buches, dass es sich nicht nur auf die unmittelbaren Beobachtungen und Wahrnehmungen des Autors bezieht. Es kommen auch andere Stimmen zur aktuellen Lage zu Wort, zahlreiche Analysen werden aufgegriffen und aufeinander bezogen und sogar erhellende Untersuchungen zu den pandemischen Momenten vergangener Jahrhunderte fehlen nicht.

Epidemien waren immer – das zeigt Misik eindrucksvoll – Motoren des gesellschaftlichen Wandels. Neben all den unvorstellbaren Tragödien, die sie gebracht haben, haben sich durch die Pandemien oft auch Strukturen zum Besseren hin verändert. Unser heutiger Sozialstaat, unsere rationale Verwaltung, unsere Versorgung mit sauberem Trinkwasser – all das sind auch Ergebnisse von Pandemien. Misik nimmt dabei auch Bezug zur US-amerikanischen Schriftstellerin Rebecca Solnit und ihrem Titel A Paradise Built in Hell von 2009. Fern aller romantischen Vorstellungen darüber, dass Krisen automatisch jede Menge Solidarität hervorbrächten, zeigt sie am Beispiel von Katastrophen wie dem Erdbeben in San Francisco von 1906, 9/11 oder dem Hurrikan Katrina 2005 auf, dass im Angesicht der Katastrophe mitunter bessere Gesellschaften entstehen können.

Bücher, die so nah an der Aktualität geschrieben sind, wie Misiks Die neue (Ab)Normalität laufen immer auch Gefahr, dass sie nur kurz auf der Höhe der Zeit sind, dann aber wegen ihrer Gegenwartsbezogenheit rasch in Vergessenheit geraten. Was bleibt von all den Diagnosen, wenn die Gegenwart zur Vergangenheit geworden ist?

Bei diesem Buch gibt es eine gute Chance, dass auch über die Krise hinaus etwas bleibt. Denn Misik verbindet all die kleinen, feinen Alltagserfahrungen zu einem größeren Bild. Es entsteht eine Zeitanalyse, die mehr ist, als die Summe der einzelnen Beobachtungen. Es gelingt, das, was wir alle täglich erleben, in Bezug zu setzen zu übergreifenden Entwicklungen und Trends. Dass wir beispielsweise eine Renaissance des handlungsfähigen Staates erleben, dessen Notwendigkeit auch der härteste Neoliberale zugestehen muss, hängt unmittelbar mit der Pandemie zusammen. Und dass es keine staatlichen Nothilfen für Cafés und Restaurants gibt oder dass das Gesundheitswesen nur nach Marktgesetzen funktioniert, ist in Zeiten verwaister Innenstädte und überfüllter Intensivstationen einfach kein attraktives Modell. Der Wandel hin zu einer Neubewertung von Staatlichkeit nach 30 Jahren ideologisch getriebener Privatisierungsfantasien ist allerdings nicht neu. Misik verweist etwa auf Stephanie Kelton, Frontfrau der Modern Monetary Theory, die schon vor der Pandemie auf die Notwendigkeit staatlicher Investitionen und damit mitunter auch die Notwendigkeit staatlicher Schulden hingewiesen hat.

Es wird deutlich: Stimmen für einen aktiveren Staat, für ein solidarischeres Gesundheitssystem oder für eine faire Entlohnung all derjenigen, die unmittelbar am Menschen arbeiten, die gab es auch schon vorher. Durch die Pandemie werden sie lauter, ihr Anliegen wird klarer und es gibt eine echte Chance auf Wandel.

Bei alledem ist Misik nicht naiv. Eine bessere Gesellschaft wird nicht von alleine kommen. Es gibt vielmehr eine erstaunliche Beharrungskraft im Denken, wie Misik im Zusammenhang mit der Lastenverteilung der Krise zeigt: »Dem Wirt darf man sein Lokal monatelang zusperren, dem Schauspieler die Ausübung seines Berufs verbieten – aber dem obersten Prozent der Superreichen ein Prozent von seinem Vermögen wegsteuern, das darf man offenbar nicht.«

Aber Misik macht auch deutlich, dass es ein Zurück zum Status quo ante nicht geben kann. Er zeigt – übrigens unter Verweis auf Olaf Scholz – was nun kommen muss: ein investierender Staat, ein weiteres Zusammenwachsen der europäischen Staaten und ein solidarisches Steuersystem. »Build back better« – der Slogan von Joe Biden schwingt bei alledem mit.

Kann das gelingen? Oder kommt nach der Pandemie nicht die völlige Verwerfung? Ein Blick in die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zeigt, dass wir optimistisch sein können. Nach der Spanischen Grippe kamen die 20er Jahre und mit ihr eine ungeheure Lebenslust und jede Menge neuer Ideen und Konzepte. Eine Aufbruchsstimmung lag in der Luft. Bauhaus, Frauenemanzipation, Demokratie, Tanzhallen, Flugzeuge – Zukunftsideen wurden plötzlich Gegenwart. Und wer in die Ideengeschichte der Sozialdemokratie schaut, der stellt fest, dass viele ihrer wirkmächtigsten Konzepte und Politiken in den 20er Jahren erdacht wurden.

Misiks Buch bietet Orientierung. Er zeigt, dass aus der Pandemie auch Fortschritt entstehen kann. Und damit hilft er, in diesen verrückten Tagen nicht zu verzweifeln.

Robert Misik: Die neue (Ab)Normalität. Unser verrücktes Leben in der pandemischen Gesellschaft. Picus, Wien 2021, 160 S., 16 €.

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