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Was bleibt von der Linken in Europa?

Für Europas Mitte-links-Parteien stehen die Zeichen weiterhin auf Sturm. Im vergangenen Jahr hagelte es Niederlagen in Spanien, Kroatien und Irland, im Jahr zuvor in Großbritannien und knapp einem Dutzend anderer europäischer Länder. Im Resultat wird derzeit kaum noch ein Mitgliedsland der Europäischen Union von der linken Mitte regiert – und dort, wo dies noch der Fall ist, scheinen die Tage an der Macht vorerst begrenzt zu sein. So steuert die Parti Socialiste in Frankreich auf eine ebenso historische Niederlage zu, wie der niederländische Rechtspopulist Geert Wilders auf einen Triumph. Und selbst in Schweden, dem traditionellen Kernland der europäischen Sozialdemokratie, erreichen die rechtspopulistischen Schwedendemokraten derzeit in den Umfragen bis zu 25 % Zustimmung. Ganz zu schweigen von Osteuropa. Dort liegt die Unterstützung für Mitte-links-Parteien in weiten Teilen ohnehin seit Längerem im einstelligen Bereich. Und in Polen sind die Sozialdemokraten nicht einmal mehr im Parlament vertreten.

Obwohl die Gründe für diesen historischen Einbruch komplex sind, zeichnen Wahlanalysen zugleich ein überraschend deutliches Bild: Zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass die europäischen Mitte-links-Parteien derzeit einen Preis dafür bezahlen, sich vor allem in zwei zentralen Politikfeldern von ihrer Stammwählerschaft entfernt zu haben: im Bereich der Ökonomie und in Fragen der Identitätspolitik. Gerade in Analysen in den Nachwehen der Trump-Wahl ist überzeugend herausgearbeitet worden, dass beide Politikfelder – und die darin von Mitte-links-Parteien vertretenen Positionen – für einen guten Teil ihrer traditionellen Wähler zu einer Chiffre für zunehmend kritisch bewertete Globalisierungsphänomene geronnen sind. So verweist eine im Dezember veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung auf die Verzahnung von Globalisierungsangst und Skepsis gegenüber Migration als globaler Herausforderung – und zwar in allen neun untersuchten europäischen Ländern.

Konsequenzen des Kurswechsels

Eine Hauptursache dafür, dass sich derzeit die Arbeiter von den (ehemaligen) Arbeiterparteien abwenden, ist zu Recht im strategischen Kurswechsel europäischer Mitte-links-Parteien Ende der 90er Jahre verortet worden, in der sich weite Teile der europäischen Sozialdemokraten als New Labour, »dritte Wege« und »neue Mitte« neu zu erfinden suchten. Parteien trennten sich von ihren traditionellen regulatorischen Positionen und öffneten sich für Liberalisierungen der Märkte, für Deregulierung und für Freihandel. In der Anfangsphase erwies sich dieser Weg als durchaus fruchtbar. Immerhin gelangen Mitte-links-Parteien mit diesem Ansatz wiederholt entscheidende Wahlsiege, nicht zuletzt in Großbritannien und in der Bundesrepublik. Doch langfristig erwies sich das Fruchtbare als furchtbar. Denn die Wendung zur Mitte hinterließ zugleich einen tiefen ideologischen Graben zwischen den Parteien der linken Mitte und ihrer traditionellen Wählerschaft. Mancherorts entstanden nicht zuletzt in dieser Konsequenz neue linksgerichtete Parteien, die sich als Gralshüter der reinen Lehre profilieren konnten.

In zahlreichen europäischen Parteien wurden die programmatischen Verschiebungen in Wirtschaftsfragen dabei durch zunehmend progressivere Positionen in soziokulturellen Fragen ergänzt – nicht zuletzt in Fragen der Migrations- und Integrationspolitik. Fast schien es, als sollte der fragwürdige Pragmatismus in Bezug auf sozioökonomische Prinzipien durch ideologische Fortschrittsbekenntnisse in identitätspolitischen Bereichen ausgeglichen werden. Durch die Bank lockerten Mitte-links-Parteien Einwanderungsbeschränkungen, liberalisierten Staatsbürgerschaftsrechte und setzten auf progressive Identitätspolitik – etwa in Bezug auf die völlige Gleichstellung homosexueller Lebensentwürfe – als ideologisches Erkennungsmerkmal und zunehmenden Wesenskern einer nach wie vor progressiven Gesinnung. Gesellschaftlich zeitigte diese Politik durchaus positive Effekte. Sie erleichterte an vielen Stellen die Integration von Minderheiten – und war für viele Gesellschaften segensreich. In Summe jedoch erweist sich die kreuzweise Positionsverschiebung nun als durchaus handfeste Hypothek.

Denn so progressiv und konsequent diese Politik auch erscheint, so sehr erweist sie sich zumindest in Teilen als inkompatibel mit den derzeitigen Problemhierarchien des traditionellen Wählermilieus der linken Mitte. Vor allem viele normativ eher konservativ eingestellte Wählerinnen und Wähler am unteren Ende des sozialen Spektrums fühlen sich von ökonomischen Entwicklungen der Globalisierung als auch von Veränderungen im soziokulturellen Bereich verunsichert und zurückgelassen. Und selbst wo die Befindlichkeiten nicht in Frustration umschlagen, trifft manch ein als bahnbrechend bejubelter sozioökonomischer Fortschritt im traditionellen Wählermilieu der Linken bestenfalls auf desinteressiertes Schulterzucken.

Doch was ist die Folge einer Politik, die Befindlichkeiten weiter Teile des Elektorats nicht mit Verständnis, sondern mit habituellem Misstrauen und skeptischem Schweigen begegnet – wenn nicht gar mit belehrenden Zurechtweisungen? Eine Chance für den politischen Gegner. In der Konsequenz haben sich allzu viele klassische Wählergruppen der sozialdemokratischen Parteien neuen politischen Kräften zugewandt. Und zwar solchen, die über ihre klammheimlich empfundenen Verunsicherungen nicht die Nase rümpfen, sondern die Sorgen aufgreifen und, ja sicher, verstärken und für ihre Zwecke instrumentalisieren. In Österreich und Großbritannien wurden populistische Parteien bei den letzten Wahlen von bis zu 80 % der Arbeiterschaft unterstützt.

Selbstzerstörerische Richtungsdebatten

Angesichts dieser zunehmend existenziellen Krise haben die Richtungsdebatten in den Mitte-links-Parteien Europas mancherorts die selbstzerstörerischen Ausmaße eines Bürgerkriegs angenommen. In Großbritannien hat die Wiederwahl von Jeremy Corbyn zum Chef der Labour Party die bestehende Kluft zwischen Parteiführung und Mehrheitsgesellschaft massiv vertieft. In Spanien hat die Niederlage der Sozialisten im vergangenen Jahr die größte Führungskrise seit 40 Jahren nach sich gezogen. Eine ähnliche Auseinandersetzung droht in Frankreich, wo François Hollande gerade auf eine zweite Amtszeit verzichtet hat. Und in Deutschland kämpfen die Sozialdemokraten darum, verlorenen Boden wieder gutzumachen, indem sie sich auf Themen wie soziale Gerechtigkeit und Gleichheit konzentrieren.

Für viele progressive Beobachter sind diese Auseinandersetzungen ein schmerzhafter aber notwendiger Schritt. Für sie ist die politische Kurskorrektur nach links ein Signal für eine längst überfällige Rückkehr zu den ideologischen Kernkompetenzen der linken Mitte und für die ersehnte Befreiung aus der babylonischen Gefangenschaft des Neoliberalismus. Einerseits: Das mag durchaus zutreffen. Doch so sinnvoll dieser Schwenk auch erscheinen mag, er ist kein Allheilmittel. Der langfristige Erfolg ist vor allem deshalb nicht garantiert, weil die angestrebte Rückbesinnung nach links nur eines von zwei Kernthemen anspricht, die die Mitte-links-Parteien in Europa sträflich vernachlässigt haben: das der Wirtschaft. Das augenscheinlich gewordene Unbehagen der Wählerschaft gegenüber Aspekten progressiver Identitätspolitik und hier vor allem zu Fragen der Migration, die sich während der Flüchtlingskrise im vergangenen Jahr weiter verschärfte, bleiben in einer solch einseitigen Rochade noch immer weitestgehend unbeachtet.

Das Problem ist nur: Die wirtschaftliche Misere ist nicht nur lediglich ein Teil des Gesamtbildes, sondern augenscheinlich nicht einmal der wichtigste. Das zumindest ist das Ergebnis der jährlichen, europaweiten Befragung der Europäischen Kommission. Die Eurobarometer-Befragungen in 34 europäischen Ländern und Regionen zeigen, dass die zwei wichtigsten Themen der Europäer derzeit Immigration und terroristische Gewalt darstellen – weit vor der wirtschaftlichen Lage des Kontinents und der Arbeitslosigkeit. In Europa gilt eben nicht: it’s the economy, stupid – auch wenn Mitte-links-Parteien gerne so tun als ob.

Es ist ja fast schon eine Binsenweisheit: Mitte-links-Parteien in Europa, die die breite Unterstützung der europäischen Öffentlichkeit zurückgewinnen wollen, müssen die tatsächlichen Sorgen und Kerninteressen dieser Öffentlichkeit ansprechen, nicht nur die Themen, bei denen sie sich aus Tradition und im Hinblick auf ihr überliefertes ideologisches Instrumentarium für besonders qualifiziert halten. Ansonsten findet der Wählerwille weiterhin andere Vehikel – und die Zeichen für Europas Mitte-links-Parteien stehen weiterhin auf Sturm.

 

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