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© picture alliance/Ulrich Baumgarten

Was die Deutschen von Europa erwarten

Wohin wir auch schauen, die Welt verändert sich in rasantem Tempo: Ungleichheit, Digitalisierung, Globalisierung, Migrationsbewegungen, Klimawandel, Handelskonflikte und nicht zuletzt die Krise der Europäischen Union. Dies werden die großen Themen der Zukunft sein. Die Politik ringt um Antworten, während viele Gesellschaften zusehends auseinanderdriften und sich in Teilen radikalisieren. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben deutlich gezeigt: Auch Deutschland steht vor tief greifenden politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen. Die Soziale Demokratie, die immer die politische Kraft war, die die Zukunft gestaltet hat, muss darauf glaubhafte, umsetzbare und zukunftsweisende Antworten bieten.

Die Europäische Union wird in dieser unübersichtlichen Welt, in der alte Gewissheiten verschwinden, eine gewichtigere, selbstständigere Rolle spielen müssen. Bei aller Skepsis, die viele Menschen gegenüber der EU haben, der Zuspruch zu Europa ist in den vergangenen Jahren immer dann gestiegen, wenn es auf der Weltbühne ungemütlich wurde. Wie aber genau soll es weitergehen mit Europa?

Rund sechs Monate vor den Wahlen zum neuen EU-Parlament – manche Beobachter/innen sprechen von »Schicksalswahlen« – wollten wir daher von den Deutschen wissen, was sie genau von der EU erwarten. Momentan scheint für Europa die Krise der Normalzustand zu sein: der Brexit, der Handelsstreit mit den USA, EU-feindliche Populisten in vielen Parlamenten. Das große historische Projekt wird zunehmend infrage gestellt. Nach außen wirkt die Gemeinschaft uneins. Im Innern wenden sich immer mehr Bürger/innen von der EU ab. Das Versprechen von Demokratie, Fortschritt und Wohlstand löst Europa für Viele nicht mehr ein. Wie Studien zeigen, entwickelt sich der Kontinent wirtschaftlich und sozial in beunruhigendem Maße auseinander. Allein 140 Millionen Europäer/innen sind weiterhin von Armut bedroht. Statt Wohlstand für alle herrschen Konkurrenzkampf, zunehmende Ungleichheit und schlechte Arbeit. Das verbreitete Gefühl, dass die EU ihre Versprechen nicht einlöst, wird zu einer Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt und untergräbt schließlich das Vertrauen der Bürger/innen in die Demokratie.

Angesichts dieser gravierenden Ungleichheiten in und zwischen den EU-Mitgliedsländern kann auch nicht überraschen, dass europakritische bis ‑feindliche Stimmen links wie rechts immer lauter werden. Nationale Alleingänge erscheinen wieder als attraktive und scheinbar einfache Lösungen. Das ist auch das Ergebnis einer europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik, die schon lange zu einseitig auf Austerität und Wettbewerbsfähigkeit setzt, die Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielt und den europäischen Integrationsprozess damit gefährdet. Eine EU mit Zukunft aber heißt: Zusammenhalt statt jeder gegen jeden. Doch wie viel Ungleichheit hält die EU aus? Wie groß ist das Bedürfnis der Menschen nach mehr sozialem Ausgleich angesichts dieser Herausforderungen? Und wie stehen sie zu Politiken, die für mehr soziale Sicherheit und Zusammenhalt in der EU sorgen könnten? Wo wollen sie mehr und wo vielleicht eher weniger EU? In unserer Studie haben wir nachgefragt, was genau die Menschen in Deutschland von der Europäischen Union erwarten.

Wunsch nach Veränderung

Trotz aller Krisen, der Ruf der Europäischen Union wird besser. Die Zustimmung zur EU war, laut Eurobarometer, im September 2018 auf dem höchsten Stand, der je gemessenen wurde. Auch eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2017 zeigte in acht EU-Mitgliedsländern im Vergleich zu 2015 deutlich optimistischere Einstellungen zur Union. Im Herbst 2018 aber ist die deutsche Bevölkerung hinsichtlich der Frage, ob die Mitgliedschaft in der EU eher Vorteile oder Nachteile für Deutschland hat, gespalten: Die Ergebnisse der aktuellen FES-Studie zeigen, dass die EU zwar eine breite Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung genießt. Gegenwärtig trauen die Menschen ihr aber nur wenig zu. Nur ein Fünftel ist der Meinung, dass die EU im Großen und Ganzen so funktioniert, wie sie sollte. Fast die Hälfte findet, dass die EU schlecht funktioniert, aber mit einigen Veränderungen wieder in Ordnung gebracht werden könnte. So sehen zwei Drittel der Bürger/innen Reformbedarf.

Die Umfrage zeigt aber auch: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Europaskepsis und Einkommen. Menschen mit schwächerem Einkommen (38 %) sehen mehr Nachteile in einer EU-Mitgliedschaft als Einkommensstarke (21 %). Die Zufriedenheit mit der EU sinkt in dem Maße, in dem die Befragten selbst nicht vom Wohlstand profitieren. Ungleichheit und Europaskepsis hängen also direkt zusammen.

Deutliches Gerechtigkeitsdefizit.Die EU muss gerechter werden und sie soll mehr für gleichwertige Lebensverhältnisse tun, finden die Deutschen. Das wird deutlich in der hohen Diskrepanz zwischen den Werten, welche die Bürger/innen der EU zuschreiben, und denjenigen Werten, die sie stärker in der EU verwirklicht sehen möchten. Am größten ist diese Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit bei Sicherheitsaspekten, bei den Themen »Gerechtigkeit« sowie »Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen/Lebenschancen«. Während etwa nur für 13 % der Befragten die EU derzeit für Gerechtigkeit steht, wünschen sich 33 %, dass sie genau dafür stärker eintreten sollte. Die Bürger/innen sehen in der EU also ein deutliches Gerechtigkeitsdefizit.

Ungleichheit schadet Deutschland.Auch zwischen den Mitgliedstaaten nehmen die Deutschen große wirtschaftliche und soziale Unterschiede wahr. Drei Viertel der Befragten glauben, dass die meisten Probleme der EU auf diese gravierenden Ungleichheiten zurückzuführen sind. Etwa 80 % sind dementsprechend der Meinung, dass die Ungleichheit in der EU auch schädlich für Deutschland ist. Und mehr als die Hälfte sieht jeweils die folgenden Themen als große bis größte Herausforderung für die EU: unterschiedliche Lebensverhältnisse (55 %), unterschiedliche Sozialsysteme (57 %), wirtschaftliche Unterschiede zwischen den EU-Ländern (58 %). Die Bevölkerung in Deutschland hat also durchaus ein starkes Bewusstsein dafür, dass die Länder Wohlstand nur gemeinsam und nicht im Alleingang garantieren können.

Soziales am wichtigsten.Welche Themen sind den Menschen aber in ihrer konkreten Lebenswelt am wichtigsten? Für die Bürger/innen in Deutschland sind im Herbst 2018 vor allem sozialpolitische Themen von Bedeutung. Unter den fünf wichtigsten Bereichen finden sich vier, die soziale Fragen und gleichwertige Lebensbedingungen betreffen: Rente und Altersvorsorge, Gesundheit, Bildung und Erziehung sowie Wohnen und Miete. Auffällig ist, dass die Menschen bei diesen konkreten sozialpolitischen Themen mehrheitlich nationale Lösungen erwarten. Dafür kann es verschiedene Erklärungen geben: Viele Bürger/innen nehmen die Mitgliedstaaten als uneinig wahr und trauen der EU dementsprechend keine effektiven Lösungen zu – zumindest momentan. Die Mehrheit ist gar der Meinung, dass es der EU in erster Linie sowieso nur um die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen einiger weniger geht und sie sich nicht um die Alltagssorgen der Menschen kümmert. Außerdem verbinden viele Bürger/innen die EU schlicht nicht mit Sozialpolitik, zumal die EU in diesem Bereich bisher nur über wenige Kompetenzen verfügt.

Mehrheit will solidarische Politik.Dennoch genießen sozialpolitische Maßnahmen, die dazu beitragen könnten, die soziale Ungleichheit im europäischen Kontext zu reduzieren, hohe Zustimmung. Drei von vier Deutschen etwa sind für die Einführung eines EU-weiten länderspezifischen Mindestlohns und ebenso viele befürworten gemeinsame soziale Mindeststandards. Die höchsten Zustimmungsraten haben dabei Maßnahmen, die stärkere Kontrolle und Regulierung beinhalten. Dazu gehören etwa die einheitliche Besteuerung multinationaler Unternehmen (77 %) und die haushaltspolitische Kontrolle zur Regulierung der Staatsverschuldung in der EU (79 %). 73 % stimmen der Aussage zu, dass einzelne EU-Länder davor geschützt sein sollten, dass Sozialleistungen abgebaut werden. Maßnahmen, die als zu einseitig wahrgenommen werden, finden hingegen weniger Akzeptanz. Hierzu zählt etwa ein Schuldenerlass für EU-Länder mit hoher Staatsverschuldung.

Vertrauen gewinnen.Die Studienergebnisse zeigen deutlich: Die Deutschen wollen eine sozialere EU. Allein es fehlt am politischen Angebot. Denn ein großer Teil (41 %) der deutschen Bevölkerung traut aktuell keiner Partei zu, für soziale Gerechtigkeit in Europa zu sorgen. Mit Blick auf die anstehenden Europawahlen heißt das: Wenn die Politik der verbreiteten Europaskepsis etwas entgegensetzen will, sollte sie dringend ihren Kurs ändern. Das bedeutet, glaubhafte und umsetzbare Alternativen zur bisherigen Wettbewerbspolitik anbieten: für eine geringere wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Mitgliedstaaten und für mehr sozialen Ausgleich in Deutschland und in ganz Europa. Mehr sozialer Zusammenhalt, statt jeder gegen jeden.

(Unter www.fes.de/politik-fuer-europa ist die Studie »Was die Deutschen von Europa erwarten« abrufbar.)

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