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© picture alliance / Zoonar | Nikolai Sorokin

Eine rationale Strategie erfordert mehr und andere ökonomische Expertise Was die Sicherheit nach der Zeitenwende kostet

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Deutschland und seine westlichen Partner gleichermaßen schockiert wie geeint. Nur drei Tage nach Beginn trat der Deutsche Bundestag am 27. Februar 2022 zu einer Sondersitzung zusammen. Dort legte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung dar, dass der Krieg eine Zeitenwende für Europa bedeutet und kündigte erste konkrete Konsequenzen für die deutsche Sicherheitspolitik an.

Seitdem dreht sich diese grundsätzlich sinnvolle Diskussion vor allem um die Frage der Verteidigungsausgaben. Dass die Diskussion um die Bundeswehr, das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro und das Zwei-Prozent-Ziel der NATO besonders viel Aufmerksamkeit erhalten, verwundert nicht. Es geht schließlich um enorme Summen. Nach der ersten politischen Überraschung rief die Ankündigung daher auch die erwartbare Kritik hervor. Sowohl Befürworter_innen wie auch Gegner_innen von höheren Verteidigungsausgaben traten auf den Plan. Beide Seiten sollten sich aber nicht an den falschen Stellen »verkämpfen«.

Die Kritiker_innen der neuen Mittel fürs Militär sollten sich keinen Illusionen hingeben: Die finanziellen Bedarfe der Bundeswehr sind sehr real. Die Berichte der Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestags aus den vergangenen Jahren legen hierfür ebenso Zeugnis ab wie die Übersichten des Verteidigungsministeriums zur Einsatzbereitschaft der Hauptwaffensysteme. So lange man die Notwendigkeit einer Armee anerkennt, sollte diese aber auch so ausgestattet sein, dass sie ihren Auftrag jederzeit erfüllen kann.

Es gibt zudem auch (noch) keinen Grund, das Schreckgespenst des deutschen Militarismus wieder an die Wand zu malen. Im Globalen Militarisierungsindex 2021 (GMI), der vom Bonner Internationalen Zentrum für Konfliktforschung (BICC) erstellt wird, fand sich Deutschland auf Rang 103 – zwischen Österreich und Albanien. Die Russische Föderation stand auf Rang 10, die USA auf Rang 25. Angesichts des menschenrechts- und völkerrechtsverachtenden Vorgehens der Russischen Föderation unter Wladimir Putin ist eine Ausstattungs- und Modernisierungsinitiative der Bundeswehr also durchaus nicht unvernünftig oder unverhältnismäßig.

Die Befürworter_innen der neuen Mittel dürfen sich aber umgekehrt auch nicht aus der Verantwortung stehlen, wenn es um die Finanzierung geht. Denn es ist sicherheitspolitisch höchst relevant, wie die geplanten Ausgaben finanziert werden (siehe unten). Sie sollten sich auch nicht sklavisch an die Werte von 100 Milliarden Euro und zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes ketten. Beide Zahlen haben vor allem symbolischen Charakter. Viel wichtiger ist es zu klären, für welche Fähigkeiten die Mittel ausgegeben werden sollen. Wenn die Bundeswehr die nötigen Fähigkeiten schon für 1,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) glaubwürdig und nachhaltig vorhalten könnte, gäbe es keinen Grund, mehr für die Verteidigung auszugeben.

Viele andere Bereiche der Sicherheitsvorsorge könnten von den verbleibenden 0,2 Prozent (immerhin gut sieben Milliarden Euro) sehr gut Gebrauch machen. Allerdings fehlt uns das analytische Instrumentarium und eine schlüssige Strategie, um überhaupt beantworten zu können, welche militärischen Fähigkeiten wir denn genau brauchen. Und in so einer Situation kann man leicht auf einen Pfad gelangen, der – neben der Verschwendung üppig fließender Gelder – in einem Dilemma endet, wie es Rosa Brooks für die USA in ihrem 2016 erschienen Buch How everything became war – and the military became everything beschreibt. Nachdem im Laufe der Zeit immer mehr Aufgaben und immer mehr Haushaltsmittel beim US-Militär gelandet waren, stellte sie nüchtern fest, dass man eigentlich gar nicht wüsste, »(…) welche Art Militär wir brauchen oder wie wir zwischen militärischen und zivilen Aufgaben und Rollen unterscheiden«. Das sollte uns nicht passieren.

Drei Fragen zur Ökonomie deutscher Sicherheitsvorsorge

Während es relativ unstrittig ist, dass man die eigene Verteidigung stärken, die Alliierten rückversichern und Akteure wie Putin von weiterer Aggression abschrecken sollte, sind viele Fragen zur Finanzierung und Priorisierung der verschiedenen Instrumente der Sicherheitsvorsorge noch unbeantwortet. Die drei zentralen Fragen der deutschen Sicherheitsvorsorge sind daher solche der Sicherheitsökonomie:

Erstens: Wer zahlt die Zeche für die Sicherheitsvorsorge? Diese Frage betrifft den Kern der bisherigen Kritik an einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben: Woher kommt das nötige Geld? Sollen die neuen Panzer über Schulden, durch Kürzungen in der Sozialpolitik oder aber durch Steuererhöhungen gegenfinanziert werden? Bisher sieht es so aus, als ob die Zeche zunächst vor allem über die Staatsverschuldung von künftigen Generationen bezahlt werden soll (»Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro).

Zudem zeichnet sich im neuen Haushaltsentwurf ab, dass einige wichtige Programme in anderen Bereichen vorerst noch nicht kommen könnten. Im Bereich Entwicklungszusammenarbeit sollten die bisherigen Haushaltsmittel sogar gekürzt werden. Dabei erreichen wir die wirklich beängstigende Bruchkante ja erst, wenn die Schuldenbremse wieder greift. Wenn dann der Bundeswehrhaushalt mittelfristig weiter steigen soll, müssen andere Bereiche umso mehr sparen. Zumindest so lange es für Steuererhöhungen weiterhin keine politischen Mehrheiten gibt.

Angesichts der Abfolge von Krisen in den letzten 15 Jahren (Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise und nun die Sicherheitskrise), drängt sich aber ein ebensolches Finanzierungsinstrument auf, um den Staat resilienter und leistungsfähiger zu machen: die Vermögensabgabe. Über diese wurde ein großer Teil der außerordentlichen Lasten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges umverteilt. Sie wurde von einer konservativen Regierung beschlossen und hat das anschließende Wirtschaftswunder eben nicht unterminiert. Warum sie in der jetzigen Krisenhäufung nicht einmal ernsthaft diskutiert wird, erschließt sich nicht.

Zweitens: Welche ökonomische Logik soll die öffentlichen Ausgaben in den verschiedenen Bereichen der Sicherheitsvorsorge leiten? Die aktuelle Diskussion um die Zeitenwende legt nahe, dass die bisherige Sicherheitspolitik zu sehr auf naiven Friedensoptimismus, auf Dialog und Verständigung gesetzt und eine viel zu hohe Friedensdividende eingestrichen hat. Dieses dominierende Narrativ sollte man aus verschiedenen Gründen kritisch hinterfragen – nicht zuletzt, weil es den desaströsen Einfluss derjenigen ökonomischen Leitbilder ausblendet, die wesentlich zu den heutigen Defiziten bei der Bundeswehr beigetragen haben dürften.

Es ist die Kombination aus betriebswirtschaftlicher Effizienzorientierung im Sinne von Kostenminimierung und dogmatischer Austeritätsfixierung. Diese hat eben nicht nur in der Bildung, im Gesundheits- und Pflegewesen, in der öffentlichen Verkehrsinfrastruktur und in der öffentlichen Verwaltung eine Schneise der Verwüstung hinterlassen, sondern auch im Bereich der Sicherheitspolitik. Für Karl-Theodor zu Guttenberg war 2010 noch die Schuldenbremse »der mittelfristig höchste strategische Parameter« für die Bundeswehr. In einem Feld, in dem die »ganze Raison d’Être« eigentlich auf Reserven und Redundanzen abzielen müsste, wurde das Ruder in Richtung Kostenminimierung anstelle von teurer Lagerhaltung umgelegt. So wurde die Wehrpflicht in verfehlter Hoffnung auf Kosteneinsparungen ausgesetzt und drastische Sparziele vorgegeben.

Der Leitgedanke der Effizienz fand sich sogar im Titel des Berichts der Bundeswehr-Strukturkommission aus dem Jahr 2010 wieder. Die Folgen dieser Politik sind bis heute in Form der Defizite der Bundeswehr sichtbar. Und das, obwohl 2015 entsprechende Trendwenden eingeleitet wurden und der Verteidigungsetat schon vor der »Zeitenwende« um sagenhafte 44 Prozent angestiegen ist: von 32,4 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 46,9 Milliarden Euro 2021. Der strukturelle Schaden war da aber bereits eingetreten.

Seither musste sich die Truppe unter dem Euphemismus »dynamisches Verfügbarkeitsmanagement« mit einer Mangelwirtschaft behelfen. In der Konsequenz sind nun von den 100 Milliarden Euro des geplanten Sondervermögens allein bis zu 20 Milliarden Euro für die Wiederauffüllung der Munitionsbestände vorgesehen. Sicher, auch ein leistungsfähiger und resilienter Staat muss sorgsam mit seinen begrenzten Ressourcen wirtschaften; er darf sich dabei aber nicht länger unkritisch an schiefen Effizienz-Analogien zur Privatwirtschaft orientieren.

Drittens: Wie priorisieren wir die Ressourcen zwischen den verschiedenen Instrumenten der Sicherheitsvorsorge? In der sicherheitspolitischen Diskussion ist das typische Muster, dass sich die einzelnen Ressorts und Fachpolitiker_innen auf ihre jeweiligen Ressorthaushalte konzentrieren: Der eigene Anteil am Kuchen soll verteidigt oder vergrößert werden. Im Verteidigungsbereich sind es oft einzelne Waffensysteme, die isoliert, dafür aber besonders intensiv diskutiert werden. Die Abwägung zwischen den einzelnen Haushaltsposten und den verschiedenen Ressorts wird hingegen offensichtlich kaum systematisch betrieben. Mark Galeotti bringt in seinem Buch The Weaponisation of Everything das damit verbundene Problem auf den Punkt: »größere Länder, die versuchten alle Bereiche abzudecken, könnten sehr bald feststellen, dass es keinen großen Unterschied macht, ob sie den modernsten Kampfjet oder überragende Soft Power haben, wenn die Infrastruktur anfällig für Hacker und die politische Elite anfällig für Bestechung und äußere Einflussnahme ist«.

Genau für diese Abwägung fehlt uns indes das analytische Instrumentarium um angesichts des komplexen Risiko- und Bedrohungsumfelds zu rationalen Priorisierungen zwischen den sehr unterschiedlichen Bereichen der Sicherheitsvorsorge zu kommen. Tatsächlich sollte es aber genau darum jetzt gehen: Die neue deutsche Sicherheitsstrategie muss weniger eine nationale als eine rationale Sicherheitsstrategie werden.

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