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Literaturkritik auf der Abschussliste? Das Beispiel WDR 3 Was fällt, das soll man stoßen

Er ist in einer rührenden Weise dumm, der intuitive Mensch, fällt immer wieder in dieselbe Grube. Dann schreit er laut und hat keinen Trost. Selbst halb verhungert aber wird er sich noch an der Schönheit berauschen. So steht es bei Friedrich Nietzsche, so wird es stimmen. Er lebt für die Kunst, der Gefühlsmensch, entweder in seliger Harmonie oder in querulantischer Dissidenz, ist also Künstler oder Kritiker. Dass Dionysiker zugleich Virtuosen der Empörung sind, kommt nicht von ungefähr. Schwer haben sie es schließlich überall, wo Verstandesmenschen regieren. Auch und ganz besonders gilt das im Rundfunk, selbst im sogenannt öffentlich-rechtlichen, der doch, so immerhin sein »Auftrag«, ein Reservat für die Ekstatiker in ihren Bocksfellen bereithalten muss. Immer mehr aber wurde abgezwackt vom Refugium des freien, trunkenen Geistes. Vom Intendanten-Thron bis zu den Hospitanten-Stallungen herrschen im Rundfunk, um in Nietzsches Terminologie zu bleiben, die Apolliniker, und das hat gute Gründe. Ein stoischer Mensch »schreit nicht und verändert nicht einmal seine Stimme«, was sehr angenehm wirkt am Lautsprecher. Und er weiß, wie man Pläne macht, Sendepläne und Programmschemata in diesem Fall. Am großen Querschnitt, an der Quote, hat er einen Narren gefressen. Auch deshalb kann ihn wenig erschüttern: »Wenn eine rechte Wetterwolke sich über ihn ausgießt, so hüllt er sich in seinen Mantel und geht langsamen Schrittes unter ihr davon«, so Nietzsche.

Eben dieses Schauspiel wird gerade wieder aufgeführt, wobei die Stoiker das schwere Wetter wie üblich selbst über sich gebracht haben, denn heimlich frönen sie doch einer einzigen Leidenschaft, der des leutseligen Abreißens, der Disruption um der Disruption willen, was in den Kulturmedien seit Anbeginn auf den Namen Programmreform hört. Durch einen wütend bedauernden Brief, den die Literaturredaktion von WDR 3 an freie Kritiker geschickt hat, wurde bekannt, dass in der werktäglichen Sendung Mosaik ab März 2021 die tägliche Buchrezension (nebst einigen weiteren Literaturformaten) ersatzlos gestrichen werden soll, aufs Jahr gerechnet damit also – auf Druck des Senders – Hunderte von Buchbesprechungen wegfallen. Das ist nicht der Untergang des Abendlandes, wäre aber in der Tat das Ende des Versuchs, auf der Kulturwelle des Westdeutschen Rundfunks die internationale Buchproduktion in repräsentativer Breite rezensorisch im Blick zu behalten.

Mit einem Aufschrei hatte man wohl gerechnet, mit einer solchen Empörungswelle vermutlich nicht, handelte es sich doch auf den ersten Blick nur um die Umstrukturierung einer Sendung. So gut wie alle deutschen Feuilletons aber stiegen auf das Thema ein (Die Zeit etwa beklagte »die notorische Unterschätzung des Publikums«); Autoren wie Kathrin Röggla wendeten sich lautstark gegen die »Snackability« der Kulturprogramme; der Germanist Michael Maar nannte das opportunistische Vorgehen des Senders »schlimmer als ein Verbrechen«, nämlich »eine Dummheit«; der Börsenverein des Deutschen Buchhandels protestierte offiziell gegen den »inhaltlichen Kahlschlag«; eine von der Kritikerin Insa Wilke gestartete Online-Petition verzeichnete mehr als 6.000 Unterschriften; eine Phalanx von renommierten Verlegerinnen und Verlegern mahnte in der Süddeutschen Zeitung die Einhaltung des Kulturauftrags an, sah sogar das Gemeinwesen in Gefahr (»Lesen trainiert Demokratie«). All diese Entrüsteten haben recht, doch das Problem liegt tiefer.

Programmverantwortliche der Sender beklagen, dass bei jeder Neuerung in der Kulturszene der Alarm schrillt. Das stimmt, hat aber nicht nur mit Überempfindlichkeit zu tun. Zu oft wurden die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, stand am Ende des Umbaus das leichte, seichte Format. Intellektuelle Herausforderungen ziehen heute kein Publikum mehr; Geschmackserziehung ist beinahe ein Unwort. In der neuen Medienkonkurrenz scheint Quote mehr zu zählen als je zuvor. So lautet die gängige Antwort von Kultursendern auf schwindende Einschaltquoten eben Komplexitätsreduktion, auch wenn das auf lange Sicht auf die Selbstabschaffung hinausläuft. So ritualisiert wie diese Reaktion ist allerdings auch der Protest. Das zeigt sich etwa an den »Radiorettern«. Unter diesem Label traten schon im Jahr 2012 Kulturschaffende öffentlich einer Umgestaltung der Kulturwelle WDR 3 entgegen, weil sie »ein leicht konsumierbares Häppchenangebot« befürchteten. Bis auf kleine Zugeständnisse wurde die Reform damals jedoch durchgezogen. Was heute als bewahrenswertes Hochkulturprogramm gilt, ist das, was die »Radioretter« für eine Kapitulation hielten. Änderungen generell abzulehnen, ist also sicher ein falsch verstandener Konservativismus. Misstrauen aber bleibt durchaus geboten.

Als der WDR-3-Programmchef Matthias Kremin, bis vor einem guten Jahr noch Leiter des WDR-Programmbereichs Kultur Fernsehen, auf die Kritik an der von ihm initiierten Reform reagierte (formal nicht sonderlich geschickt im Selbstinterview), tat er die Berichterstattung verschnupft als »Unsinn« ab. Es gehe »lediglich« um Formatfragen: »Wir wollen mehr Menschen mit Literatur und Debatten darüber erreichen.« In weichgespülter Verkaufsrhetorik warb Kremin für eine Auseinandersetzung mit Literatur, die »abwechslungsreicher, innovativer und vielfältiger« sei, mit einem – schrecklichen – Wort: »zeitgemäß«. Nun durfte man tatsächlich alarmiert sein. Was in dem kurzen Text an möglichen innovativen Formaten anvisiert wird, etwa von Hörern eingesprochene Lesungen, »Gespräche mit den Autor*innen« oder »Podcast-Binge-Fortsetzungslesungen von Klassikern«, läuft alles – so viel zum Wörtchen »lediglich« – auf einen fundamentalen programmatischen Wechsel von der Kritik (die es in stark verkleinertem Umfang weiterhin geben soll) zur Aufführung hinaus. Kremin verhehlt seine Sympathie für »Primärlesungen« auch gar nicht. Aus dem intellektuellen Debattenraum im Äther würde eine pure Plattform. Für eine Welle unter Sparzwang mag das verführerisch sein, weil man sich damit die Kosten für die Kritiker spart. Lesungen, zumal von Hörern eingelesen, bekommt man äußerst preiswert. Autorengespräche sind sogar stets kostenfrei, denn die Autoren bewerben auf diese Weise ihre Bücher (Verlage würden, das zeigt der Magazinmarkt, im Zweifel sogar dafür zahlen). Deshalb finden heute im Radio immer mehr dieser naturgemäß wenig kritischen »Gespräche« statt, in denen Autoren die eigenen Werke zusammenfassen. Es handelt sich schlicht um PR – und um eine Selbsterniedrigung des Kulturradios. Kremin unterscheidet erstaunlicherweise gar nicht zwischen Primärtext und Analyse, beides fällt für ihn unter »Literatur«. Schlimmer noch: Was sich als Hinwendung zur Kunst selbst geriert (»›Stoff‹ pur: Sechzig Minuten reine Lesung«), ist eigentlich ein Abschied von ihr, denn in dem Doppelsystem aus Kunst und Kritik – zwei einander bedingende, umspielende Kräfte – ist der Platz der Medien bis auf wenige Ausnahmen auf Seiten der Kritik. Eine der Ausnahmen wäre das Avantgarde-Hörspiel, das aber wohl noch weniger Publikum anzieht als Literaturrezensionen. Texte vorlesen, die jeder selbst lesen kann, ist hingegen reichlich redundant.

Andererseits dürften Einsprüche, die einzig auf die Abwehr von Veränderungen zielen, ohne Vorschläge zu machen, wie sich angestaubte Formate mit neuem Leben füllen lassen – denn auch das gibt es ja tatsächlich: ermüdend den Inhalt nacherzählende, schwärmerische Etiketten aufklebende Literaturrezensionen –, allenfalls eine Weile erfolgreich sein. Es ist die Grube, in die die Empörten immer wieder fallen. So führten etwa die Pläne, aus hr2-kultur eine »durchhörbare Klassikwelle« mit weniger Wortbeiträgen zu machen, zu massiven Protesten. Im Sommer 2020 wurde die Reform weitgehend zurückgenommen: vorerst, muss man wohl sagen. Gar nicht erst erfolgreich war ein Jahr zuvor der starke Widerstand gegen die Einstellung der altehrwürdigen Fernseh-Literatursendung Bücherjournal im NDR, die von den Verantwortlichen mit Sparzwängen (trotz konstanter Rundfunkbeitragseinnahmen) und der mageren Quote von 2,5 % (trotz Quotenunabhängigkeit: dafür gibt es ja die Gebühren) gerechtfertigt wurde. Und auch bei der WDR 3-Umgestaltung ist kein Einlenken zu erkennen. Man schnallt den Gürtel enger und geht gemessenen Schrittes unter dem Gewitter hindurch. Die tägliche Literaturrezension in Mosaik wird nicht zurückkehren.

Braucht die bedrohte Literaturkritik deshalb Bestandsschutz? Das Gegenteil ist der Fall. Man hat sie viel zu lange geschont, in ihrer Nische blühen lassen. Und sie hat sich diese Entwertung gefallen lassen. So verlor die Rundfunk-Literaturkritik ihren Stachel, er faulte ihr einfach ab. Das ist, um Maar zu variieren, schlimmer als ein Verschwinden. Was fällt, das soll man doch lieber stoßen. »Die Kritik ist tot«, schrieb schon der große Essayist Walter Boehlich: »Welche? Die bürgerliche, die herrschende. Sie ist gestorben an sich selbst, gestorben an der bürgerlichen Welt, zu der sie gehört hat, gestorben mit der bürgerlichen Literatur, die sie schulterklopfend begleitet hat«. Das war 1968 im Text »Autodafé« im Kursbuch. Immer wieder wurde in jenen Jahren die Literaturkritik zu Grabe getragen. Sie wurde von innen hinterfragt, bitter angeklagt, in Stücke gerissen. Nie war sie lebendiger. Nie war ihre Macht größer. Natürlich war auch Boehlich, einer der potentesten Literaturkritiker des vergangenen Jahrhunderts, der Letzte, der sie aufgeben wollte. Es ging um Positionsbestimmungen: »Können wir keine Kritik haben, die den fadenscheinig gewordenen Kunstwerk-Begriff über Bord wirft und endlich die gesellschaftliche Funktion jeglicher Literatur als das Entscheidende versteht und damit die künstlerische Funktion als eine beiläufige erkennt?« Das mag so längst nicht mehr gelten, aber was ist denn heute die Aufgabe von Literaturkritik? Ohne eine wenigstens versuchsweise Antwort auf diese Frage kommt man aus der Verdummung-durch-Verständlichkeit-Spirale nicht heraus.

Literaturkritik ist mehr Theorie als Praxis, eine Haltung, keine Formerfüllung. Ob Sechsminutenbeitrag mit drei O-Tönen oder Podcast aus der eigenen Küche, das hat an sich überhaupt keine Bedeutung. Literaturkritik sollte zudem auf den Inhalt der besprochenen Texte pfeifen und sich auf die sprachliche Form kaprizieren, dabei aber die eigenen Kriterien transparent machen. Keine neobürgerliche Schönfinderei mehr, keine drögen Lesetipps. Sie sollte wirklich etwas wollen, die Kritik, den dionysischen Rausch idealerweise. Mehr diskursive Härte und blitzender Witz wäre ihr zu wünschen. Die Negation als Grundmodus. Autoren haben diese Ehre verdient. Als »bewaffneter Arm« der Literaturwissenschaft, als »Terrororganisation« der abgefeimten Form könnte die Kritik sich und der Literatur die Relevanz zurückerkämpfen, die sie beide verdienen. Es gälte, Literaten als Intellektuelle zu diskutieren statt sie auf der letzten Schwundstufe der Genieästhetik zu Prominenten zu verklären. Statt buttriger Feuilleton-Reportagen über Schriftsteller in ihren Häusern am See gäbe es detaillierte Werkbetrachtungen aus der Distanz, die vor heftigen Verrissen nicht Halt machten. Wenn aus der lobhudelnden Freundschaft zwischen Autoren und Kritikern wieder konstruktive Gegnerschaft geworden ist, können Letztere ihre Kontrollfunktion wieder erfüllen. Von ganz alleine verflüchtigte sich dann auch die bleierne Langeweile, die Literaturbetrachtungen heute nicht selten umgibt. Die Dionysiker haben sich lange genug empört über ihre Missachtung. Sie sollten endlich wieder selbstbewusster werden, sich mit offenem Visier Diskursräume und Sendeplätze zurückerobern. Wer sagt denn, dass man Medien – und zumal die öffentlich-rechtlichen – nicht zur Gänze den Vernunft-Verwaltern entreißen und zur Spielwiese für bacchantische Orgien des kritischen Geistes machen kann? Bei WDR 3 ließe sich damit beginnen.

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