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Programmatische Selbstverpflichtung oder bloßer Formelkompromiss Was heißt progressives Regieren?

Progressives Regieren ist dem allgemeinen Verständnis nach der Gegenbegriff zu konservativem Regieren oder reaktionärer Politik. Es versteht sich als entschiedene Parteinahme für Veränderungen, die zu mehr Wohlstand und dessen gerechterer Verteilung führen sollen. Progressives Regieren wiederum unterscheidet sich von fortschrittlicher Politik darin, dass es einen stärkeren Akzent auf die eigene Entschlossenheit legt. Reklamiert fortschrittliche Politik für sich, der Begleiter und Unterstützer des politischen und gesellschaftlichen Fortschritts zu sein, von dem angenommen wird, dass er einer Entwicklung entspricht, die sich von selbst durchsetzen würde, wenn ihr nicht einflussreiche Interessengruppen entgegenstünden, so stellt progressives Regieren sehr viel stärker den Willen der Regierenden zum Fortschreiten heraus.

»Vorreiter oder Zugpferd einer Veränderung.«

Fortschrittliche Politik kokettiert damit, dem Zeitgeist zu entsprechen und insofern dem potenziellen Willen einer Mehrheit zu folgen; progressives Regieren dagegen nimmt für sich in Anspruch, Vorreiter oder Zugpferd einer Veränderung zu sein, der große Kreise der Bevölkerung – also nicht nur einflussreiche Kreise – skeptisch bis widerspenstig gegenüberstehen. Es besteht darauf, das Interesse der überwiegenden Mehrheit notfalls auch gegen deren zögerliche Zurückhaltung durchzusetzen. Fortschrittliche Politik ist dagegen um einiges widerstandssensibler als progressives Regieren, das von vornherein darauf eingestellt ist, Widerstände zu überwinden.

Progressives Regieren weist ein deutlich höheres Risiko des Scheiterns auf als fortschrittliche Politik, denn die Gefahr der Selbstüberforderung ist hier größer, und es ist mit einer Mischung aus missmutiger Distanz oder offener Ablehnung in der breiten Bevölkerung zu rechnen, die den von der Regierung verfolgten Zielen entgegensteht. Die Unterstützung eines forcierten Fortschritts durch Aktivistenverbände und Nichtregierungsorganisationen, auf die eine progressive Regierung bei der Formulierung ihrer Ziele zunächst setzen kann, schlägt in Enttäuschung um, wenn ihnen der Fortschritt zu langsam ist, nicht zuletzt deshalb, weil die Regierung, die sich dem Progressiven verschrieben hat, nicht alle von ihr ins Auge gefassten Projekte gleichzeitig in Angriff nehmen kann, sondern Schwerpunkte setzen muss.

Unter Druck von zwei Seiten.

Infolgedessen wenden sich anfängliche Unterstützer der progressiven Politik von der Regierung ab und werden zu deren Dauerkritiker. In der Folge gerät progressives Regieren von zwei Seiten unter Druck: von Seiten derer, denen alles zu schnell und zu weit geht, und von Seiten jener, die aufs Tempo drücken und die das langsame Fortschreiten nicht auf die »Mühen der Ebene« (Bertolt Brecht), sondern auf die Unentschlossenheit der Regierung zurückführen. Fortschrittliche Politik, um diese Unterscheidung noch einmal aufzugreifen, ist sehr viel einfacher als progressives Regieren. Das wirft die Frage auf, warum sich politische Akteure überhaupt auf progressives Regieren verpflichten und sich nicht mit fortschrittlicher Politik begnügen.

Nun lässt sich gegen diese Überlegungen einwenden, dass es sich bei der Unterscheidung zwischen progressivem Regieren und fortschrittlicher Politik womöglich gar nicht um Bezeichnungen für eine substanziell unterschiedliche Politik handelt, sondern um Selbstetikettierungen von Regierungen, mit denen diese ihr politisches Programm und den Stil ihres Handelns charakterisieren. Was sich im konkreten Fall dahinter verbirgt, ist eine ganz andere Sache.

So könnte, wenn die Kommunikationsstrategen dies für vorteilhaft halten, eine vordem fortschrittliche Politik als progressives Regieren dargestellt und progressives Regieren als eine bloß fortschrittliche Politik camoufliert werden – je nach Vorgabe dessen, was die Demoskopen als vorherrschende Stimmung vermelden. Das würde heißen, dass die Inhalte der Politik keine oder allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen und es im Kern nur um Bezeichnungen und Etiketten geht, die bei der eigenen Klientel oder einer Mehrheit der Bevölkerung die größere Zustimmung versprechen.

»Die Art der Vermittlung hat das zu Vermittelnde nicht irrelevant gemacht.«

Tatsächlich ist schwer zu bestreiten, dass die Kommunikation für die operative Politik eine wichtige Rolle spielt und diese immer wieder an einer unzulänglichen Kommunikation gescheitert ist. Aber das heißt nicht, dass die tatsächliche Politik belanglos ist und es nur auf deren Vermittlung ankommt. Nicht einmal Donald Trump, der dieser Vorstellung von der Macht der Benennungen und Narrative wohl am nächsten gekommen ist, hat das so gesehen. Das Gewicht des Kommunikativen gegenüber dem Operativen ist im Verlauf der letzten zwei, drei Jahrzehnte erheblich gewachsen, aber die Art der Vermittlung hat das zu Vermittelnde nicht irrelevant gemacht. Das hat die Ampelkoalition zuletzt schmerzlich zu spüren bekommen.

Es gibt Grundstimmungen in der Bevölkerung – oder doch politische Annahmen über solche Grundstimmungen –, die bei der Formulierung der politischen Programme von Parteien wie Regierungen als Grundlage dafür angesehen werden, ob man stärker auf Veränderung oder auf Bewahrung setzten soll, und wenn man sich für die Veränderung entscheidet, ob man das in Anlehnung an eine vorherrschende Fortschrittsgestimmtheit tut oder ob man sich als Lokomotive der Veränderung präsentiert. Die Einschätzung dieser Grundstimmung spielt vor allem bei Regierungswechseln (oder der Neugründung beziehungsweise Neuausrichtung von Parteien) eine Rolle, denn eine Regierung, die eine Wahl gewonnen hat und weiterregieren kann, hat wenig Neigung, hinfort alles anders zu machen.

Aus Rückenwind wurde Gegenwind

Eine Präferenz für Veränderung und Innovation gibt es dagegen dann, wenn eine Mehrheit der Wähler das Empfinden hat, man habe es mit einem Reformstau zu tun und viele Herausforderungen seien liegen geblieben. Das war nach der letzten Bundestagswahl der Fall. Die Bildung der Ampelkoalition war von einer solchen Grundstimmung getragen, einer freilich, die nicht überwältigend war. Die Ampel verfügte zunächst über einen politischen Rückenwind, der inzwischen in einen scharfen Gegenwind umgeschlagen ist. Wieso?

Zunächst, weil man die »Gunst der Stunde« für nachhaltige Veränderungen offenbar überschätzt hatte und von reformfreudigen Konstellationen ausgegangen war, was jedoch eher einer Augenblickslaune als einer soliden Grundstimmung entsprach. Im Zeichen der abklingenden Pandemie und in Erwartung einer wieder anspringenden Weltkonjunktur ging man von wirtschaftlichen Spielräumen aus, die dann nicht vorhanden waren. Auch hat keiner mit dem russischen Überfall auf die Ukraine und dessen wirtschaftlichen Folgen gerechnet, der hochgeschossenen Inflation sowie dem Ausfall von aus Russland bezogenem Erdgas als Brückenenergie auf dem Weg zu einer dekarbonisierten Wirtschaft.

Mit einem Mal wurde alles teurer, nicht nur die Fortführung des Bestehenden, sondern auch die Finanzierung der angestoßenen Veränderungen. Die von der Ampel betriebene Politik entsprach schon bald nicht mehr der Erwartung vom Fortschritt. Im Gegenteil: In materieller Hinsicht, dem wesentlichen Maßstab einer Mehrheit der Bevölkerung, wurde die Fortschrittserwartung von Rückschrittserfahrungen überlagert. Statt vieles besser, so der Eindruck einer Mehrheit, wurde alles schlechter. Dieser Stimmungsumschwung fand seinen Niederschlag in den demoskopischen Daten. Darauf fand die Regierung keine Antwort. Stattdessen zerstritt sie sich zunehmend und blockierte sich dadurch selbst.

»Der Fortschrittsbegriff, auf den man gesetzt hatte, erwies sich als ein Formelkompromiss, der keine politische Kraft zu entfalten vermochte.«

Hier kommt die Unterscheidung zwischen fortschrittlicher Politik und progressivem Regieren wieder ins Spiel. Vermutlich hat diese Differenz bei der Regierungsbildung keine größere Rolle gespielt; man begnügte sich mit dem Fortschritt als Leitdevise des Regierungsprogramms, unter der sich unterschiedliche politische Vorstellungen zusammenbinden ließen. Das hätte bei entgegenkommenden Verhältnissen funktionieren können, zumal bei finan­ziellen Spielräumen, die eine Befriedung der diversen Parteiklientele erlaubt hätten. Das Gegenteil ist eingetreten: Alle drei Parteien der Ampel haben an Zustimmung verloren. Der Fortschrittsbegriff, auf den man gesetzt hatte, erwies sich als ein Formelkompromiss, der keine politische Kraft zu entfalten vermochte. Die divergierenden Programmatiken der Parteien, deren Differenz mit wachsenden Problemen immer deutlicher zutage traten, ließen ihn als hohle Phrase erscheinen.

Als fortschrittliche Politik im oben beschriebenen Sinn nicht mehr möglich war, setzten einige in der Regierung auf progressives Regieren, während andere eine Politik der Besitzstandssicherung verfolgten, also die Vorstellung der Veränderung zugunsten einer Stabilisierung des Bestehenden aufgaben. Die damit entstandenen Risse ließen sich auch durch eine vermehrte Anrufung des Fortschrittsbegriffs nicht mehr überdecken. Statt dessen wurde sichtbar, dass die Vorstellung, man stehe auf der Seite des Fortschritts, dazu beigetragen hatte, die Politik der Veränderung nicht hinreichend solide zu planen und anzugehen. Man hatte auf einen semantischen Bündnispartner gesetzt, der sich in Luft auflöste.

Ja, man hätte einiges im kommunikativen wie im operativen Bereich besser machen können, vermutlich sogar sehr viel besser. Aber das Grundproblem, mit dem eine jede sich auf den Fortschritt berufende Politik in den nächsten Jahrzehnten zu kämpfen haben wird, hätte sich auch durch größeres taktisches Raffinement nicht aus der Welt schaffen lassen – und das ist die Auflösung des Fortschrittsbegriffs, der kaum noch als programmatische Selbstverpflichtung taugt und sich in einen bloßen Formelkompromiss verwandelt hat.

Im Prinzip ist es ein Bruch der Semantik, der zum Grundproblem einer jeden Politik der linken Mitte geworden ist: Von Frankreich Mitte des 18. Jahrhunderts ausgehend wurde Fortschritt zu einem Kollektivsingular, der eine Richtungsanzeige politischer und sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Entwicklungen darstellte und dabei das bis dahin vorherrschende Kreislaufmodell der auf- und absteigenden Geschichtsverläufe ablöste. Kollektivsingular heißt, dass nicht länger, wie zuvor, von einzelnen Fortschritten in unterschiedlichen Bereichen die Rede war, welche miteinander konkurrierten und sich womöglich gegenseitig blockierten, sondern dass Fortschritt zur generellen Richtungsanzeige der Geschichte wurde. Man verstand sich als fortschrittlich, auch wenn man in einigen Fragen durchaus konservativ war. Der Kollektivsingular Fortschritt homogenisierte solche Divergenzen.

Dieser Kollektivsingular Fortschritt hat sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte aufgelöst. Als einer der Ersten hat der dafür sensible Erhard Eppler dem mit der Unterscheidung von Wert- und Strukturkonservatismus Rechnung zu tragen versucht, wobei er das Wertkonservative der Fortschrittsvorstellung einverleiben zu können meinte. Das ist inzwischen nicht mehr möglich, unter anderem wegen der Kolonisierung des politischen Fortschritts durch Identitätspolitiken, die mit Wertkonservatismus unvereinbar sind. Sie sind ein gutes Beispiel für das Ende des Kollektivsingulars Fortschritt.

»Es gibt keine politikrelevante Gruppe mehr, die partielle Fortschritte zu einem Paket zusammenschnüren kann.«

Ein anderer Indikator für die Pluralisierung der Fortschrittsvorstellungen ist die Zersplitterung des politischen Spektrums derer, die den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben haben. An die Stelle des Fortschritts sind partielle Fortschritte getreten, und es gibt keine politikrelevante Gruppe mehr, die diese Fortschritte zum Paket des Fortschritts zusammenschnüren kann. Vermutlich ist das bei den Konservativen spiegelverkehrt im Prinzip ähnlich, aber das kann hier dahingestellt bleiben.

Progressives Regieren ist dabei eine – man möchte fast meinen: verzweifelte – Reaktion auf die Auflösung des Kollektivsingulars Fortschritt. Es ist eine Reaktion »von oben«, eine des Voluntativen, die der vermuteten Trägheit der Masse auf die Sprünge helfen will. Sie provoziert dabei entschiedenen Widerstand, der sie, in einer Demokratie jedenfalls, dann politisch ausbremst. Fortschrittliche Politik dagegen tut so, als sei der einstige Kollektivsingular noch belastbar, wofür solche Politik den Preis zahlt, dass sich die tatsächliche Divergenz der zusammengebundenen Fortschritte umgehend als Streit in der Regierung geltend macht. Wer sich diesem Dilemma nicht stellt, wird ein ums andere Mal in dieselben Probleme geraten und an ihnen politisch scheitern.

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