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Was ist eigentlich Respekt?

Wer wie ich als Kind und Jugendlicher in den 50er Jahren aufwuchs, hatte es in allen Bereichen des Lebens mit sogenannten »Respektspersonen« zu tun. Lehrer waren Respektspersonen, Bürgermeister und sonstige Amtsinhaber, Vorgesetzte und Chefs sowieso, aber auch Postbeamte, Zugschaffner, Polizisten und Hausmeister. Natürlich galten auch die eigenen Eltern als Respektspersonen, im Grunde alle Erwachsenen bis auf einige Ausnahmen, die dann oft als »Asoziale« abgestempelt und zur allgemeinen Verachtung freigegeben wurden. Erwachsene hielten sich damals zumeist ganz selbstverständlich gegenüber uns Jüngeren für erziehungsberechtigt, was besonders dann akut wurde, wenn man als Junge die Haare etwas länger oder als Mädchen den Rock etwas kürzer trug. Der Prototyp der Respektsperson war ein Mann im Anzug, mit kurzem, streng gescheiteltem Haarschnitt und Krawatte und mit einer Stimme, die auch dann noch etwas von einem Kriegsberichterstatter hatte, wenn er, von dem Vorgetragenen und von sich selbst tief ergriffen, vor der Klasse Goethe, Schiller oder Mörike zitierte.

Die vielen Respektspersonen erwarteten von uns Jüngeren jederzeit Respektbezeugungen und forderten diese auch lautstark ein, wenn sie, was oft vorkam, den Eindruck hatten, dass wir es an Respekt fehlen ließen. Dass auch sie selbst Kindern, Jugendlichen, Andersdenkenden und Andersaussehenden ein gewisses Maß an Achtung und Respekt schuldeten, kam ihnen eher selten in den Sinn. Wie in vordemokratischer Zeit kannten Respektbezeugungen im Grunde nur eine vorgeschriebene Richtung: von unten nach oben. Als respektlos dagegen galt, einer Respektsperson zu widersprechen, auch wenn das, was diese äußerte, ganz offensichtlich Unsinn war. Respektlos war es auch, Fragen zu stellen, wo es nach der Ansicht der Respektsperson nichts zu fragen gab. Respektlos war es, Kaugummi zu kauen, auf der Straße Ball zu spielen, laut zu lachen und sich in Gespräche von Erwachsenen ungefragt einzumischen.

Es ist wichtig, sich an den noch vor gar nicht so langer Zeit üblichen und bis heute nicht ganz ausgestorbenen geradezu inflationären Missbrauch des Respektbegriffs zu erinnern, wenn wir heute angesichts der Verrohung des Umgangs in der Gesellschaft, angesichts von Hate Speech und Cybermobbing im Netz, rassistischer Entgleisungen von Abgeordneten der AfD und zuweilen auch anderer Parteien, angesichts zunehmender sozialer, kultureller, ethnischer und religiöser Spaltung und zunehmender Ungleichheit wieder verstärkt über die für den Zusammenhalt und die Zivilität der Gesellschaft so wichtige Funktion des Respekts diskutieren.

Was ist Respekt? In der Umgangssprache hat der Begriff viele verschiedene Bedeutungen: Man kann einer Person gegenüber Respekt erweisen, weil sie einem Eindruck macht, weil man, was dieser Mensch denkt, sagt und tut, für bedeutend oder vorbildlich oder auch nur für diskutabel hält. Man kann ihr aber auch einfach deshalb Respekt erweisen, weil sie ein Mensch ist, der wie alle anderen auch mit einer, bei uns sogar in der Verfassung verankerten, Würde ausgestattet ist, und das auch dann, wenn man die Auffassungen des anderen für falsch hält, seinen Geschmack und seine Vorlieben nicht teilt. Dann ist Respekt mehr oder weniger dasselbe wie Achtung, eine vielleicht reservierte, aber im Kern doch positiv konnotierte Einstellung zu einem Mitmenschen, die ich ihm generell schulde und von der ich auch möchte, dass sie mir gegenüber an den Tag gelegt wird.

Wer aber, sich über andere erhebend, Respekt einfordert, dem geht es oft zumeist gar nicht um eine solche innere Einstellung, sondern vor allem um ein konventionelles Verhalten, um Gesten der Höflichkeit, Beteuerungen des Gehorsams, der beflissenen Gefolgschaft oder gar der Untertänigkeit. Das, was eine solche »Respektsperson« in uns auslöst, ist nicht ein Gefühl der Achtung für diesen Menschen als Person, sondern bestenfalls so etwas wie Ehrfurcht oder Scheu, nicht selten geheuchelte Demut oder schlicht Angst. Ob wir ihn tatsächlich achten, ob er in unseren Augen wirklich Respekt verdient oder doch eher Verachtung, bleibt dabei ungeklärt. Respekt verdienen, Respekt erweisen, Respekt einflößen, Respekt erwarten, Respekt verlangen, Respekt einfordern – immer ist mit Respekt etwas anderes gemeint. Darum sprechen Psychologen und Psychiater, wenn es um die zuwendende Aufmerksamkeit zum Mitmenschen geht, auch lieber von Wertschätzung und von Achtung, und, wenn nicht nur das zwischenmenschliche Verhältnis sondern alle Lebewesen oder gar die Natur als ganze gemeint ist, von Achtsamkeit.

Nun hat die SPD Respekt zu einem zentralen Begriff ihres Zukunftsprogramms erklärt, mit dem sie unter ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz in den Bundestagswahlkampf zieht. Das wirft natürlich die Frage auf, was Respekt in der Politik bedeuten kann und bedeuten sollte. Bisher war an dieser Stelle in sozialdemokratischen Programmen zumeist von Solidarität die Rede. Solidarität gilt auch weiterhin als einer der drei Grundwerte der Sozialdemokratie, aber offenbar erschien den Programmmachern der Begriff des Respekts letztlich doch geeigneter als Klammer für die verschiedenen Aspekte sozialdemokratischer Politik als der durch die Parteitradition geadelte Begriff der Solidarität. Allerdings, auch Respekt ist als Leitbegriff im Kontext sozialdemokratischer Politik nicht ganz neu. Als Anfang des neuen Jahrtausends auch die internationale Sozialdemokratie vorübergehend von der neoliberalen Ideologie infiziert wurde, veröffentlichte einer der Vordenker des sogenannten »Dritten Weges«, der amerikanische Soziologe und Politologe Richard Sennett, ein Buch unter dem Titel Respekt im Zeitalter der Ungleichheit. Wer dieses Buch heute liest, und sich an die Politik des Dritten Weges unter Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder erinnert, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass hier Respekt weniger als Motor zur Beförderung realer Schritte in Richtung Gleichstellung denn als eine Art Ersatz für solche Maßnahmen, vielleicht gar als ein Palliativ verstanden wird, das die bestehende Ungleichheit erträglicher machen soll.

Anders im neuen Zukunftsprogramm der SPD. Hier wird deutlich, dass Respekt im Sinne einer Anerkennung der Würde eines jeden Menschen allein nicht ausreicht, dass Respekt vielmehr zwingend von konkreten Maßnahmen zur Angleichung der Lebensverhältnisse begleitet werden muss. »Zukunft. Respekt. Europa« – das sind die drei zentralen Begriffe, mit denen die SPD das einleitende Kapitel ihres Zukunftsprogramms überschrieben hat. Was hier mit Respekt gemeint ist, hat die Parteivorsitzende Saskia Esken bei der Vorstellung des Programms so erklärt: Respekt sei »eine der wichtigsten Ressourcen einer Gesellschaft im Wandel«, weshalb dieser Begriff »zum Dreh- und Angelpunkt« des Wahlprogramms für die Bundestagswahl 2021 gemacht worden sei. Liest man dann weiter im Programm, stellt man fest, dass hier mit Respekt nicht das gemeint ist, auf das die allzu oft selbstgefälligen Respektspersonen meiner Jugend glaubten Anspruch zu haben, und auch nicht das, was die Politiker des Dritten Weges damit zumeist meinten. Gemeint ist vielmehr eine echte gegenseitige Wertschätzung in Wort und Tat.

Es geht einerseits darum, das Mindestmaß an Achtung vor dem anderen im öffentlichen Diskurs gegen die Verbreiter von Hassmails, rechter Hetze und Verschwörungstheorien zu verteidigen und sicherzustellen, dass jeder und jede angstfrei und mit der Chance, Gehör zu finden, an der demokratischen Deliberation teilnehmen kann. Zum anderen geht es aber auch darum, Respekt gegenüber den vielen unterbezahlten und gesellschaftlich zu wenig be- und geachteten Menschen im Gesundheitswesen, im Pflegedienst und in vielen anderen unterbezahlten und nicht weniger gesellschaftlich wichtigen Dienstleistungen dadurch zu beweisen, dass man ihre soziale Situation verbessert. Es darf eben nicht bei der bloß formalen Anerkennung ihrer wichtigen Rolle in der Gesellschaft bleiben, es muss vielmehr dafür gesorgt werden, dass diese Menschen endlich auch angemessen bezahlt werden. Das ist auch der Gedanke, der Olaf Scholz offenbar anleitet, wenn er nun verbindlich erklärt, er werde im ersten Jahr seiner Amtszeit als Bundeskanzler einen Mindestlohn von zwölf Euro durchsetzen.

Den Mitmenschen und Mitbürgern Respekt zu erweisen, soll also nach Auffassung der SPD zweierlei heißen: Zum einen geht es darum, durch soziale Ausgleichsmaßnahmen möglichst gleiche Lebenschancen zu schaffen und so für annähernde Ebenbürtigkeit im gesellschaftlichen Leben und im Prozess der Demokratie für möglichst alle zu sorgen. »Die Gesellschaft des Respekts«, heißt es darum im Zukunftsprogramm der SPD, »sorgt für gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land«. Zum anderen komme es darauf an, sich konsequent gegen die Zerstörung der öffentlichen Diskurse durch Hate Speech und Fake News und »gegen jede Form von Diskriminierung, egal ob es um soziale Herkunft, Geschlecht, Migrationsbiografie, Religion, Behinderung oder sexuelle Orientierung geht«, zu wehren. So gesehen, kann Respekt in der Tat als eine Grundhaltung verstanden werden, die eine Politik im Sinne der Trias von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität erst ermöglicht, indem sie den freien Austausch von Argumenten in der demokratischen Deliberation ermöglicht, die sozialen Voraussetzungen für eine annähernd gleichberechtigte Teilnahme am sozialen und politischen Leben schafft und den brüderlichen und schwesterlichen Zusammenhalt der Gesellschaft über alle Unterschiede der Meinungen und Interessen hinweg stärkt.

Wenn ich mich nicht täusche, dann weht in diesem Wahlprogramm der SPD tatsächlich ein neuer und frischerer Geist, der die in einem Großteil der Medien so beliebte Rede vom unaufhaltsamen Niedergang der Sozialdemokratie schon bald als voreilig entlarven könnte. Und wenn wir im Herbst dann tatsächlich eine rot-grüne oder grün-rote Regierung bekommen, die, anders als es in meiner Jugend der Fall war, auch die Meinung der Jungen respektiert und ihre Lebensinteressen ernst nimmt, wie es das Verfassungsgericht in seinem jüngsten Urteil von der Politik verlangt, dann kann der Regierungswechsel sogar so etwas wie eine neue Ära einleiten, in der Deutschland, Europa und vielleicht sogar die ganze Welt zu einem besseren Ort wird.

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