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Die Kontroverse um die Reform der Wirtschafts- und Währungsunion Was von der Eurokrise übrig bleibt

Die Freude über weniger Arbeitslosigkeit in Spanien, einen unerwartet hohen Primärüberschuss in Griechenland und solide, wenn auch nicht überwältigende, Wachstumsaussichten für die Eurozone insgesamt verleiten viele Beobachter dazu, die Eurokrise als erledigt abzuhaken. Dies ist nur allzu verständlich, denn nach sieben verflixten Krisenjahren haben Wirtschaft, Politik und Medien kein Interesse mehr an den immer gleichen Konfliktrunden zwischen Schuldner- und Gläubigerstaaten, zwischen solventem Kern und kriselnder Peripherie. Entsprechend laut sind hierzulande die Aufforderungen an die Europäische Zentralbank (EZB), mit Blick auf die anziehenden Preise doch endlich die Phase der Nullzinspolitik und weiterer expansiver Maßnahmen der Geldpolitik zu beenden. Angesichts der Herausforderungen durch den Brexit, den Rechtspopulismus, den islamistisch motivierten Terrorismus und des Unvermögens eines transnational tragfähigen Umgangs mit den Geflüchteten möchte die EU wenigstens in puncto Währungsunion zur Normalität zurückkehren.

Doch dies ist eine sehr deutsche Sicht. Sie wird von der breiten Öffentlichkeit geteilt, da das Krisennarrativ der Bundesregierung seit 2010 Schuld und Schulden stets bei den anderen sucht und sich Deutschlands wirtschaftliche Situation in all den Jahren absolut zwar als mau, relativ zu den Nachbarstaaten aber als äußerst stabil darstellt. In den Krisenländern ist die Situation eine andere und die dortige Politik nur sehr bedingt bereit, neue Gemeinschaftsprojekte, wie etwa eine Stärkung genuin europäischer Verteidigungskapazitäten, mitzutragen, solange die Überreste (Leftovers) der Eurokrise nicht bearbeitet sind. An deren Existenz erinnern uns regelmäßig ungelöste Bankenprobleme – sei es in Italien oder bei der Deutschen Bank –, der wiederkehrende Zwist um die Erfüllung der Auflagen des letzten Kreditprogramms durch Griechenland, die Angst vor panischen Marktreaktionen infolge von rechtspopulistischen Wahlerfolgen und nicht zuletzt die trotz anderslautender Interpretationen immer noch miserablen Wirtschafts- und Arbeitsmarktdaten vieler Euro-Staaten.

Hausaufgaben nicht gemacht

Hausaufgabenhefte, in denen ausführlich die bislang unbearbeiteten, die liegengebliebenen und fast vergessenen Anforderungen an eine nachhaltige Überwindung der Eurokrise notiert sind, gibt es zur Genüge. Die Wissenschaft war nicht untätig und hat umfassende Konvolute mit Reformvorschlägen präsentiert. Einige haben ihren Weg in die europäische Politik gefunden. In den bereits 2012 vorgelegten Reformfahrplänen der letzten Europäischen Kommission (»Blueprint«) und einem gemeinsamen Bericht der Präsidenten des Europäischen Rates, der Eurogruppe, der EZB und der Kommission wird detailliert festgehalten, mithilfe welcher Instrumente die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) fit gemacht werden könne, um der nächsten Krise erfolgreicher entgegentreten zu können. Umgesetzt wurde kaum etwas; alle mitgliedstaatlichen Gespräche über größere Reformpakete sind versandet. Seit 2015 bemüht sich Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker um eine Wiederbelebung der Reformdebatte. Der sogenannte Fünf-Präsidenten-Bericht ist die bislang letzte umfassende Beschreibung der Leftovers; das im März 2017 veröffentlichte Weißbuch zur Zukunft Europas nimmt ebenso wie das für Mai 2017 zu erwartende Reflexionspapier zur Vertiefung der Währungsunion hierauf Bezug.

Erfolg war Juncker mit seinen Initiativen bislang nicht beschieden. Dies liegt an der Blockade durch zwei sich einander kontrovers gegenüberstehenden Sichtweisen auf die Ursachen der Eurokrise und die hieraus zu ziehenden Konsequenzen für Änderungen an der WWU-Architektur. Die Krise der letzten Jahre hat eine alte Kontroverse um die ökonomisch sinnvolle Ausgestaltung der Währungsunion aus der Gründungsphase der Eurozone wiederbelebt. Damals stand, wie heute erneut, das Organisationsprinzip einer regelbasierten Selbstkontrolle der Kräfte des freien Marktes gegen eine weitreichende wirtschaftspolitische Steuerung auf Gemeinschaftsebene. Man kann von zwei unterschiedlichen ökonomischen Paradigmen sprechen, die sich hinter der Kontroverse verbergen.

Anhänger der Zielperspektive einer »Stabilitätsunion« betonen die Effizienz der Marktmechanismen und sehen im Staat als wirtschaftspolitischem Akteur ein Risiko für die Währungsunion. Aus ordoliberal-monetaristischer Sicht gilt es in erster Linie, die Inflation niedrig und die Währung stabil zu halten. Um dies nicht zu gefährden, müsse staatliche Fiskalpolitik klaren und verbindlichen Regeln unterworfen werden. Entscheidung und Haftung werden auf der gleichen Ebene verortet. Das heißt, für Abweichungen vom Regelwerk ist jeder Staat selbst verantwortlich; gemeinsame Haftung für Fehlentwicklungen müsse ausgeschlossen werden, da so falsche Anreize gesetzt und die disziplinierende Wirkung der Marktreaktion ausgehebelt würde. Demgegenüber halten Befürworter einer »Fiskalunion« ein solches Konstrukt einer Währungsunion für unzulänglich, um Marktversagen zu begegnen und Asymmetrien innerhalb des Währungsraums auszugleichen. Aus einer keynesianischen Betrachtung heraus kommen Staat und Zentralbank entscheidende Rollen bei der Behebung von Wirtschaftskrisen zu. Dem Vorteil der Kontrolle von Devisenspekulationen und Währungsschwankungen steht beim Eintritt in eine Währungsunion die Abgabe und Restriktion der nationalen wirtschaftspolitischen Instrumente als Nachteil gegenüber. Diese makroökonomischen Kosten der Währungsintegration könnten nur gebändigt werden, indem – bei gegebener einheitlicher Geldpolitik – auf Gemeinschaftsebene fiskalpolitische Instrumente zum Ausgleich von die Mitgliedstaaten unterschiedlich treffenden ökonomischen Schocks etabliert würden.

Im Vertrag von Maastricht haben sich bei der Gründung der WWU die Fürsprecher der Stabilitätsperspektive durchgesetzt. Die primär auf Preisstabilität festgelegte EZB, die budgetären Regeln des Vertragswerks und des Stabilitätspakts sowie das No-Bailout-Prinzip zeigen dies deutlich. Als vordringliche Aufgabe wurde fortan die Entwicklung der Eurozone zum optimalen Währungsraum mittels steigender Faktormobilität und Handelsverflechtung verstanden. Dieser marktlichen Wettbewerbslogik konnten die Vertreter der fiskalischen Integration lediglich eine Batterie von zahn- und weitgehend wirkungslosen sogenannten Soft-law-Instrumenten, wie die wirtschaftspolitischen Leitlinien, den makroökonomischen Dialog oder die Zehnjahresstrategien von Lissabon und »Europa 2020« entgegenstellen.

Mit der Eurokrise kam es allerdings nicht zu einer Verständigung beider Perspektiven zur Analyse der defizitären Aspekte der Währungsunion. Die Austeritätsprogramme und die Schärfung der Überwachung nationaler Haushalte sind aus Sicht der Stabilitätsunionisten mit ihrer Theorie konsistente Reaktionen, wohingegen der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) und der Plan einer vollständigen Bankenunion durch die Etablierung transnationaler Haftungsprinzipien eher den Zielen der Fiskalunionisten zuzurechnen sind. Hauptstreitpunkt bleibt die Frage, ob die Krisenphänomene in erster Linie auf falsches wirtschaftspolitisches Verhalten einzelner Staaten oder auf eine systemische Unvollständigkeit der WWU-Architektur zurückzuführen sind. Wo es aber keine Einigkeit bezüglich der Gründe für die Krise gibt, ist auch kein Konsens zu weitergehenden Reformschritten möglich.

Verteidiger des Status quo dominieren

Eine von Deutschland und Finnland angeführte Euro-Staatengruppe, zu der auch Estland, Litauen, die Niederlande und Malta zu zählen sind, fordert eine härtere Gangart bei der Anwendung von Defizit- und Schuldenregeln und eine sanktionsbewehrte stringentere Umsetzung nationaler Strukturreformen. Helfen könnten dabei direktvertragliche Vereinbarungen zwischen jedem Mitgliedstaat und der EU und ein europäischer Finanzminister, der die Regelbefolgung überwacht, allerdings nicht über ein politisches Mandat verfügen dürfte. In der Bankenunion steht das Stabilitätslager insbesondere der geplanten gemeinsamen Einlagensicherung ablehnend gegenüber und in Deutschland gibt es weit gediehene Vorstellungen, wie über ein Insolvenzrecht für Staaten dem No-Bailout-Prinzip und der Marktdisziplin wieder höhere Geltung verschafft werden könnte. Das ist kein überraschendes Programm, sondern in vielen Punkten erlebtes Krisenmanagement der letzten sieben Jahre. Letztlich verteidigen die Regierungen der hier genannten Staaten den Status quo des WWU-Designs aus den 90er Jahren. Sie haben daher nur ein geringes Interesse an einer Diskussion über die Leftovers der Eurokrise. Das, was Angela Merkel oft als »Durchwursteln« unterstellt wurde, folgte in Wahrheit der durchaus rationalen Strategie des Bewahrens ordoliberaler Grundsätze für die Konstruktion der Währungsunion.

Unzufrieden mit dieser Situation ist eine Euro-Staatengruppe, die sich um Frankreich und Italien schart, und zu der außerdem Spanien, Portugal, Belgien, Luxemburg, Slowenien und Lettland, mit Abstrichen auch Zypern, die Slowakei, Irland und Österreich zu zählen sind. Hier werden mit einer vollständigen Bankenunion, dem Aufbau eines Eurozonenbudgets, einem gemeinsamen Schuldenmanagement und einer eng koordinierten, auf Wachstum und Investitionen abzielenden Wirtschaftspolitik Vorschläge unterbreitet, die eine fiskalische Integrationsvertiefung fordern. Transnationale Haftung und eine bessere politische Governance der Eurozone stehen im Zentrum der vorgeschlagenen Instrumente, mit denen die WWU für künftige Krisen gerüstet werden soll. Im Detail herrscht allerdings Unklarheit über Ausgestaltung, Umfang und Reichweite dieser Instrumente: Während die Regierungen von Italien, Spanien und Portugal gerne alle genannten Punkte schnellstmöglich auf den Weg bringen wollen, sind andere zögerlicher und uneins, ob eine Europäische Arbeitslosenversicherung, eine Fiskalkapazität, die Konvergenz in der Wirtschafts- und Sozialpolitik oder erst einmal eine Stärkung des bereits existierenden Verfahrens zur Überwachung makroökonomischer Ungleichgewichte angestrebt werden sollte. Das Fernziel Fiskalunion, die explizit auch eine politische Union sein muss, wird in diesem Lager unisono geteilt, der Weg dorthin allerdings wird vielfältig beschrieben.

In der Diskussion um die Überreste der Eurokrise ist es kein Wunder, dass die Stabilitätsunionisten die Debatte beherrschen bzw. unterbinden. Das Ancien Régime der WWU zu verteidigen ist leichter, als revolutionär – und unter schwierigen öffentlichen Bedingungen was das Ansehen der europäischen Integration angeht – für Gemeinschaftspolitik, Souveränitätsabgabe und transnationale Risikoteilung zu werben. Die inhaltlich schwache Konturierung der Fiskalunionisten zeugt von diesen Schwierigkeiten. Mit Emmanuel Macron als Präsidenten Frankreichs wird die Kontroverse erneut an Fahrt gewinnen. Gelingt es ihm, das Lager der Fiskalunionisten zu einen und stehen nach der Bundestagswahl in Deutschland seinen Plänen aufgeschlossene politische Kräfte gegenüber, könnte ein neuer Anlauf für die fiskalische Vervollständigung der Währungsunion sogar erfolgreich sein.

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