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Lutz Raphaels europäische Gesellschaftsgeschichte der Deindustrialisierung Was von der Industrie übrig blieb

Am 24. Oktober 2018 hatte sich eine große Zahl an Demonstranten in Bergheim, einem Ort in der Nähe des Hambacher Forstes, versammelt. Die Schätzungen der Teilnehmerzahl reichten von 10.000 bis 30.000. Die Demonstrierenden trugen Transparente bei sich: »Hambi muss weg« stand darauf oder »Baggi bleibt« – Gegenslogans also zu denen der Umweltaktivist/innen, die zu dieser Zeit unter dem Motto »Hambi bleibt« den Hambacher Forst besetzten, um ihn vor der Rodung zugunsten des Braunkohleabbaus zu schützen. Schon seit Wochen war die Besetzung des Waldstücks Gegenstand der allgemeinen Berichterstattung gewesen, auch in den sozialen Medien herrschte reges Interesse an den Umweltschützenden, die den Einsatz von Leib und Leben nicht scheuten, um den Hambacher Forst zu bewahren. Nun demonstrierte in Bergheim eine andere unmittelbar betroffene Personengruppe: Arbeiter/innen aus der Kohleindustrie, zahlreiche von ihnen beschäftigt bei RWE. Zur Demonstration aufgerufen hatten die Gewerkschaften ver.di und IG BCE, ihr Motto lautete »Ohne gute Arbeit kein gutes Klima. Wir sind laut für unsere Jobs.« Tausende fürchteten hier um ihre Arbeitsplätze. In der Berichterstattung über die Geschehnisse rund um RWE und den Hambacher Forst waren solche Demonstrationen allerdings nur eine Randerscheinung, ungleich mehr Platz wurde den Umweltaktivist/innen eingeräumt, ihnen galt auch das primäre Interesse in den sozialen Medien. Im Großen und Ganzen konnte man den Eindruck gewinnen, im Streit um die Rodung von »Hambi« habe es nur die Umweltschützenden und den Konzern RWE gegeben.

Eine solche Verteilung der öffentlichen Aufmerksamkeit ist kein Zufall. Vielmehr ist sie eine Folge des Umbruchs durch die Deindustrialisierung, die in allen Ländern Westeuropas mit dem Ölpreisschock 1973/74 einsetzte und bis heute nicht an ihr Ende gekommen ist. Mit dieser Phase, vor allem mit dem Zeitraum zwischen 1970 und 2000, beschäftigte sich der Historiker und Leibniz-Preisträger Lutz Raphael 2018 in seinen Frankfurter Adorno-Vorlesungen, die 2019 unter dem Titel Jenseits von Kohle und Stahl bei Suhrkamp erschienen sind. Sie enthalten zahlreiche Ergebnisse einer nun über ein Jahrzehnt andauernden Beschäftigung Raphaels mit dieser jüngsten Phase der Zeitgeschichte, die auf das sogenannte »Wirtschaftswunder« der Nachkriegszeit folgte: 2008 veröffentlichte Raphael zusammen mit Anselm Doering-Manteuffel den programmatischen Essay Nach dem Boom, der einen neuen Blick auf die Zeitgeschichte und ihre Erforschung warf, ab 2009 setzte er sich mit dieser Periode als Projektleiter des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsverbundes »Nach dem Boom. Forschungen zur Entwicklung westeuropäischer Industriegesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts« auseinander.

Explizit auf Ergebnisse dieses Forschungsverbundes greift Raphael nun in Jenseits von Kohle und Stahl unter anderem zurück, wenn er in einem exemplarischen Vergleich der Prozesse und Folgen der Deindustrialisierung in England, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland eine – so der Untertitel – »Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom« verfasst. Mit Blick auf die Geschichte ab etwa 1970 »von unten« und »von gestern aus« richtet er dabei sein Interesse weniger auf eine Fortschrittsgeschichte, die aus der Perspektive der Gewinner einer Wandlungsphase im Gestern das Heute zu entdecken sucht. Um die Schrumpfungsprozesse und die »Kosten des Fortschritts« deutlich machen zu können, stehen vor allem die Verlierer der Deindustrialisierung, die Arbeiter/innen, im Fokus. Der Autor zeichnet ökonomische wie soziale und kulturelle Veränderungen in Westeuropa nach und schreibt eine umfassende »Gesellschaftsgeschichte«, wenn sich diese auch auf einen ganz bestimmten, häufig aus dem Blick geratenen Ausschnitt der Gesellschaft konzentriert: auf die Arbeiterschaft, die Entwicklung ihrer Arbeitsplätze, ihrer Arbeitskämpfe, ihrer Löhne und Sozialleistungen, ihrer Ausbildungen, Lebensläufe, betrieblichen Sozialordnungen und Wohnverhältnisse.

Dabei lassen sich im Vergleich der westeuropäischen Länder spannende strukturelle Übereinstimmungen in ihrem Zusammenwirken mit historisch gewachsenen nationalen Unterschieden beobachten: So nahmen in allen europäischen Ländern ab Mitte der 80er Jahre die Zahl und die Größenordnungen konfrontativ geführter Arbeitsstreiks ab, während kooperative Beziehungen zwischen Arbeiterschaft und Unternehmensführung innerhalb der Betriebe oder zwischen Gewerkschaften und Unternehmensverbänden an Bedeutung gewannen. Im Hintergrund dieser scheinbaren Befriedung des Arbeitsmarktes stand die zunehmende Massenarbeitslosigkeit, welche insbesondere ältere Arbeiter, Berufseinsteiger, Arbeiterinnen und Ungelernte mit Migrationshintergrund traf. Besonders leicht und institutionell gerahmt konnte sich diese Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland vollziehen, da hier traditionell Gewerkschaften und Betriebe eher kooperativ interagierten. In Großbritannien dagegen kam es in den 70er und 80er Jahren zu einem vollständigen Zusammenbruch übergreifender gewerkschaftlicher Interessenvertretung – Mitspracherechte für die Belegschaft räumte hier in der Regel eher das Management einzelner Unternehmen im Rahmen neuer Führungsstile ein. Und in Frankreich mit seiner traditionell eher konfrontativen Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Betrieb stellte die innerbetriebliche Interessenvertretung einen letzten »Rettungsanker« für die Gewerkschaften dar, denen angesichts der von der Deindustrialisierung hervorgerufenen Krise eine militante Mobilisierung kaum mehr gelang.

Eine der großen Stärken des Buches stellt neben dem bei aller Komplexität stets gut zugänglichen Schreibstil vor allem die Differenziertheit dar: So zeigt Raphael, dass für die in den Betrieben verbliebenen Arbeiter/innen die neue kooperative Unternehmenskultur tatsächlich eine positive Entwicklung hin zu mehr Mitgestaltungsmöglichkeit und Anerkennung bedeuten konnte, ohne zu verschweigen, dass dies vor dem Szenario wachsender Unsicherheit entstand und in zahlreichen Betrieben gar nicht erst erreicht werden konnte. Raphael zeigt immer beides: die Industrie als schrumpfenden Sektor, aber auch als dauerhaft stabilen Arbeitgeber. Man hätte sich ein wenig mehr deutende Systematisierung des umfangreich dargestellten Materials zu klareren Entwicklungslinien und etwas mehr Raum für den Sonderfall DDR gewünscht, der immer wieder so interessant wie aufschlussreich gestreift wird.

Häufig kompensierten die größeren Räume zur innerbetrieblichen Mitbestimmung einen Verlust an anderer Stelle: Raphael zeigt, dass der Begriff der »Sozialbürgerschaft«, der 1999 als Leitbegriff für die künftige Entwicklung eines europäischen Arbeits- und Sozialrechts geprägt wurde und für Sozialrechte, gesellschaftliche Integration und Mitbestimmung stehen sollte, als hohles Leitbild viel von dem zu bezeichnen suchte, was in der Phase »nach dem Boom« verloren gegangen war: Mit dem Abbau zahlreicher industrieller Arbeitsplätze ging der Abbau eben erst gewerkschaftlich erstrittener Sozialleistungen und politischer wie kultureller Repräsentation einher. Die Sozialdemokratie hatte sich längst der Mitte zugewandt, das politische Geschehen beobachteten Arbeiter/innen meist nur noch passiv. Und je weniger Raum zur politischen Mitwirkung ihnen zukam, desto wichtiger wurde ihnen die betriebliche Mitwirkung.

Die europäischen Gesellschaften dagegen hatten sich am Ende des von Raphael untersuchten Zeitraums längst umorientiert: Den »Malocher« hatten sie aus dem öffentlichen Bewusstsein verabschiedet, die ehemaligen »Industriegesellschaften« hatten sich als »Dienstleistungsgesellschaften« neu erfunden. Ehemalige Industriestandorte wurden zu Museen, die man in Erinnerung an »früher« besuchen konnte. Währenddessen existierte Industriearbeit jedoch weiter, rückte aber immer mehr in die räumliche wie aufmerksamkeitsökonomische Peripherie. Mit ihr wurden die Arbeiter/innen mit ihren Erfahrungen und Problemen zunehmend unsichtbar.

Als im Juni 2019 Aktivist/innen von »Ende Gelände« den Tagebau Garzweiler besetzten, stand der Braunkohleabbau zwar still, aber nicht aus Gründen des Arbeitskampfes. Auf Bildern von der Aktion sieht man Umweltschützende, Einsatzkräfte der Polizei und die Arbeitsmaschinen des Tagebaus. Man sieht keine Mitarbeitenden aus dem Tagebau, man liest auch keine Interviews mit ihnen und hört keine politische Stimme, die ihre Interessen verträte. Es wirkt wie die Besetzung eines Freilichtmuseums. Eine der Folgen dieser fehlenden kulturellen wie politischen Repräsentation ist bekannt: Viele der Arbeiter/innen fühlen sich medial übergangen und in ihren Sorgen von den etablierten (Links-)Parteien vernachlässigt. Sie geben ihre Stimmen bei Wahlen nun eher rechtspopulistischen Parteien, welche ihre Sorgen vermeintlich ernster nehmen.

Lutz Raphael: Jenseits von Kohle und Stahl. Eine Gesellschaftsgeschichte Westeuropas nach dem Boom. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2018. Suhrkamp, Berlin 2019, 525 S., 32 €.

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