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Die Herausforderungen beim Erzählen jüdischer Leben Was wollen wir hören?

Unternehmer, Verleger und Büchersammler, Netzwerker, Mäzen, deutscher Jude und Zionist: Salman Schockens (1877 – 1959) vielschichtiges Leben und Wirken steht mit all seinen Brüchen exemplarisch für viele jüdische Biografien im 20. Jahrhundert. Wie lässt sich solch ein nichtlineares Leben in eine Erzählung fassen – und wie nähert man sich einer facettenreichen Persönlichkeit wie Schocken angemessen an?

Die Schweizer Historikerin Stefanie Mahrer hat Salman Schocken eine 2021 erschienene Biografie mit dem Untertitel Topographien eines Lebens gewidmet. Sie porträtiert Schocken entlang seiner wechselnden Lebensmittelpunkte. Über die wissenschaftlichen Voraussetzungen ihres Buches denkt Mahrer in dem unlängst publizierten Sammelband Jüdische Leben erzählen nach. Dessen Herausgeberinnen, die Historikerinnen Grażyna Jurewicz und Marie Schröder, versammeln darin Werkstattberichte von Biografinnen und Biografen jüdischer Persönlichkeiten, die Einblicke in ihr Forschen und Schreiben eröffnen.

Autoren historischer Biografien stehen laut Jurewicz zunächst vor grundsätzlichen Herausforderungen: »Was dürfen wir erzählen? Und was sollten wir vielleicht verschweigen?« Das sei die eigentliche ethische Frage der Biografie. Bisweilen habe man es mit Quellen zu tun, die nicht zur Veröffentlichung vorgesehen waren – privaten Tagebüchern etwa. »Es ist eine generelle Frage jeder historischen Forschung, wie sehr wir die persönlichen Rechte einer Person schützen sollen«, sagt Jurewicz. Auch gelte es, die Eingebundenheit des Individuums in Strukturen nicht aus den Augen zu verlieren.

»Was dürfen wir erzählen und was sollten wir besser verschweigen?«

Hinzu kommen Besonderheiten der Biografieforschung mit jüdischem Schwerpunkt. Multikulturalität, Mehrsprachigkeit, Fragmentierung und Brüche seien Phänomene, die im Leben von Menschen jüdischer Herkunft häufig vorkommen, so Jurewicz. Für Historiker ergeben sich daraus zusätzliche Herausforderungen: »Jüdische Leben zu beschreiben heißt, dass man mit diesen Brüchen konfrontiert ist – etwa weil viele Dokumente fehlen, weil sie durch Umzüge verloren gegangen sind, oder weil man es mit Dokumenten in vielen Sprachen zu tun hat.« Es gelte, die unterschiedlichen Quellen »in ein Narrativ zu überführen, das dieser Komplexität des Lebens auch gerecht wird«.

Die Erwartungen der Öffentlichkeit mitdenken

Salman Schocken hat sich für die Renaissance der hebräischen Kultur und den Zionismus eingesetzt – einen der damals diskutierten Auswege aus der Krise des Diasporajudentums also. Doch wie geht man mit Biografien von Menschen jüdischer Herkunft um, die sich zeitlebens nicht als jüdisch identifiziert haben? Für Grażyna Jurewicz bedeutet die Biografieforschung mit jüdischem Schwerpunkt auch, darüber nachzudenken, welche Lebensgeschichten von der Öffentlichkeit als jüdisch anerkannt werden: »Welches Bild von einem Juden hat diese Gesellschaft?« Es gehe um mitunter divergierende Fremd- und Selbstbilder und die Frage: »Was will die Gesellschaft hören?«

»Jüdisches Leben kann in Deutschland nach 1945 gar nicht unbelastet sein.«

Auch Laura Cazés mahnt, die Prägungen und Erwartungen der Öffentlichkeit stets mitzudenken: »Für wen erzählt man jüdische Leben?« In dem von ihr 2022 herausgegebenen Band »Sicher sind wir nicht geblieben« lässt Cazés zwölf jüdische Autorinnen und Autoren über ihre Sicht auf das Leben in Deutschland nachdenken. Der Ausgangspunkt für die Essays ist zunächst die Jetztzeit. »Ich beobachte jüdische Gegenwart und bin selbst auch ein Teil von ihr geworden«, schreibt Cazés in ihrem Beitrag. Im Gespräch zeigt sie sich der besonderen historischen Voraussetzungen des Schreibens über jüdisches Leben in Deutschland bewusst: »Es gibt kaum ein freies Erzählen – wie könnte das auch anders sein?« Denn: »Jüdisches Leben in Deutschland nach 1945 kann natürlich nicht unbelastet sein.«

»Wenn man sich den Erzählungen jüdischen Lebens in Deutschland widmet, dann dominieren bestimmte Narrative«, beobachtet Cazés. Oft spiegelten sie nicht die tatsächlichen Lebensrealitäten wider, »die geprägt sind von Migrationsbrüchen, sehr vulnerablen Perspektiven, in vielen Fällen auch von sozialer Marginalisierung«. Vielmehr zeichneten sich diese Narrative vom jüdischen Leben durch einige in Deutschland seit 1945 prägende Faktoren aus: »Nämlich durch eine Form der Exotisierung, eine ständige Auseinandersetzung mit Antisemitismus, das Erbe der Schoa.«

Es gibt gesellschaftliche Zuschreibungen, was es heißt, jüdisch zu sein.

»Warum lässt uns die Schoa nicht los? Was bedeutet Deutschland für Dich? Was bedeutet Dir Israel?« – Das Nachdenken über solche Fragen sei allen Autorinnen und Autoren des Bandes gemein, so Cazés. Sie setzen sich aber auch mit der Frage, welche Geschichten noch nicht erzählt worden seien, und mit der Bedeutung von Chuzpe und Widerständigkeit auseinander »Jüdisch in Deutschland zu sein – das allein bedeutet für mich, Widerstände auszuhalten und sie anzufechten«, schreibt etwa der Publizist Ruben Gerczikow.

Schließlich gebe die Gesellschaft einem schon in jungen Jahren vor, »was es bedeutet, jüdisch zu sein«. Die Vielfalt individueller Zugänge zum Judentum komme hingegen kaum vor: »In der deutschen Öffentlichkeit werden Jüdinnen:Juden meistens nur als monolithischer Block dargestellt.« Gerczikow kritisiert in seinem Essay insbesondere die mediale Darstellung jüdischen Lebens: »Die journalistische Betrachtungsweise des Judentums verdeckt eine jüdische Diversität, die sich nicht nur an religiösen Ritualen, Praktiken oder Symbolen aufzeigen lässt.«

Die strukturelle Ebene des Judenhasses wird ausgeblendet

Auch Laura Cazés beobachtet eine verengte mediale Wahrnehmung, »wo Jüdinnen und Juden Platz haben, die glamouröse Geschichten erzählen oder Geschichten, die geprägt sind von Angst«. Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden in Deutschland sei ein extrem aufgeladenes Thema. Das mediale Interesse an diesem Gegenstand sei, so Cazés, zunächst einmal gerechtfertigt und wichtig. Jüdinnen und Juden müssten sich jedoch immer wieder die gleichen Fragen anhören, so etwa: »Haben Sie Angst? Fühlen Sie sich noch sicher?« Cazés plädiert für die Umkehrung dieser Fragen: »Was führt eigentlich dazu, dass Jüdinnen und Juden sich nicht sicher fühlen?« Die strukturelle Ebene werde kaum betrachtet, beklagt sie.

»Die ständige Gratwanderung zwischen Fremdwahrnehmung und Selbstbestimmung macht es immer zu einem ambivalenten Geschäft, über jüdisches Leben zu sprechen«, weiß Cazés. Wie sehr Fremd- und Selbstwahrnehmung bisweilen auseinanderklaffen, demonstriert sie anhand der Titelgeschichte des Magazins »Der Spiegel« vom 27. Oktober 2023 (»Wir haben Angst. Judenhass in Deutschland«) und der Seite 1-Überschrift der Wochenzeitung »Jüdische Allgemeine« in der Woche darauf: »Wir lassen uns nicht unterkriegen«. Letzteres entspreche eher der Art und Weise, wie sich die jüdische Gemeinschaft darstellen will, betont Cazés.

Während Zeitgenossen in der Lage sind, sich gegen eine verzerrte Wahrnehmung von außen zu wehren, müssen Historiker aufgrund des zeitlichen Abstandes stets mit einem Fremdbild arbeiten. »Das Fremdbild versuchen wir wissenschaftlich zu operationalisieren – das heißt, nach Methoden historischer Forschung noch einmal zu erschließen«, erläutert Grażyna Jurewicz ihre Vorgehensweise. »Wir nehmen die uns zugänglichen Dokumente und versuchen nach bestem Wissen und Gewissen, die Wahrheit über das jeweilige Leben zu erforschen.« Jurewicz präzisiert: »Die Wahrheit ist für mich als Biografin immer das Selbstverständnis dieser Menschen.«

»Israel, der Ort, der uns schützen sollte, ist der meistgehasste Ort der Erde.«

»Die Texte dieses Bandes wären nicht möglich ohne die Orte, an denen jüdische Selbstbestimmung kultiviert wird«, schreibt Laura Cazés in Sicher sind wir nicht geblieben. Gemeint sind institutionelle, soziale und mediale ›Safe Spaces‹. »Dieser Text entsteht in einer Zeit universeller Unsicherheit«, betont Cazés zugleich. Dabei bezieht sie sich vor allem auf Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, aber auch auf den rechtsextremen Terroranschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019. »Israel bleibt der Wunsch nach Sicherheit«, schreibt Cazés. »Der Ort, der uns in unserer Selbstbestimmung schützen sollte, ist der meistgehasste Ort der Erde.«

Jüdische Biografien sind prototypisch für die Moderne

Umso dringlicher klingen diese Worte nach dem 7. Oktober 2023. Wenn Laura Cazés heute auf ihr Buch blickt, dann kommen ihr insbesondere die Beiträge von Richard C. Schneider, Marina Chernivsky, Shahrzad Eden Osterer und Rabbinerin Rebecca Blady beklemmend aktuell vor: »Sie unterstreichen für mich sehr stark, dass alles, was in Folge des 7. Oktober in unserer Erfahrung als Jüdinnen und Juden in Deutschland kulminiert ist, eigentlich schon davor bestanden hat.« Das bestätige, »dass die Selbstverpflichtung der Zivilgesellschaft in Deutschland, jüdisches Leben sicher und möglich zu machen, bisher noch nicht eingelöst würde – nicht vor dem 7. Oktober und danach auch nicht.«

Die jüdische Erfahrung von Ausgrenzung, Minderheiten­dasein und Fremdheit ist eine historische Kontinuität.

Die historische Kontinuität von Ausgrenzung sowie eine lange Tradition von Minderheitendasein und Fremdheit: Das sind für Grażyna Jurewicz die Besonderheiten jüdischer Erfahrung. Die erhöhte Mobilität und Multikulturalität mache sie zu einem Prototyp der modernen Erfahrung. Posen, Zwickau, Berlin, Jerusalem und New York: Auch Salman Schockens Leben war von häufigen Grenzüberschreitungen geprägt. Und auch wenn Schocken vielerorts in Vergessenheit geraten ist: Biografien jüdischer Persönlichkeiten – ebenso wie zeitgenössische jüdische Stimmen – haben der heutigen postmigrantischen Gesellschaft viel zu sagen. Sie sollten gehört werden.

Laura Cazés (Hrgs.): Sicher sind wir nicht geblieben. S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, 224 S., 24 €.

Grażyna Jurewicz / Marie Schröder (Hrsg.): Jüdische Leben erzählen. Neofelis, Berlin 2023, 298 S., 24 €.

Stefanie Mahrer: Salman Schocken. Topographien eines Lebens. Neofelis, Berlin 2021, 496 S., 24 €.

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