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Zum Zustand der Berliner Republik Weder Weimar noch Bonn

Die Abgesänge auf die Demokratie schwellen an. In Wissenschaft und Publizistik mehren sich die Stimmen, die vom Niedergang, der Krise oder gar einem Kollaps der Demokratie künden. Dies nicht nur in Deutschland, sondern gerade in den USA, in Osteuropa, aber auch in Großbritannien, in Frankreich und dem europäischen Kontinent insgesamt. Nach dem Aufmarsch der Rechten in Chemnitz überschrieb der anerkannte Publizist Albrecht von Lucke im Herbst 2018 ohne große Umschweife einen Essay mit: »Nächste Ausfahrt Weimar?« Was ist von diesen anschwellenden Krisengesängen eigentlich zu halten? Befindet sich unsere Demokratie im Niedergang? Genügen Pegida, AfD und die neue Polarisierung unserer Diskurse, um von einer Krise zu sprechen? Oder schreiben die mit guten Absichten ausgestatteten Verteidiger der Demokratie nicht wollend und nichtsahnend eine krisenerzeugende Selffulfilling Prophecy herbei? Wie war das in Weimar und in Bonn? Welche Parallelen lassen sich zur Gegenwart der Berliner Republik ziehen? Welche sollten besser nicht gezogen werden?

Weimar

Über den Untergang der Weimarer Republik haben viele Gelehrte geschrieben. Ihre Schriften füllen ganze Bibliotheken. Darf man dann in wenigen dürren Zeilen die Quintessenz der Studien einfach zusammenfassen? Man darf, kann, soll und muss. Den geschichtsvergessenen Niedergangsszenarien und halbgaren Krisenanalysen von heute sollen nüchterne Diagnosen des Gestern entgegengesetzt werden. Diese basieren nicht auf einer dichten historischen Beschreibung. Verkürzungen und Auslassungen sind unvermeidbar und gewollt. So sollen drei Perspektiven auf die Weimarer, Bonner und Berliner Republik die Gedanken sortieren: Der Blick richtet sich dabei auf die Mikro-, Meso- und Makroebene von Gesellschaft und Politik.

Die Mikroanalyse gibt den Blick auf die Individuen, also die einzelnen Bürger, frei. In der Weimarer Republik fanden sich gerade unter den Eliten zu wenige Demokraten. Nicht freie und selbstbewusste Bürger stellten die Mehrheit, sondern verunsicherte Menschen, die von der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, dem deutschen Untertanengeist des Wilhelminischen Kaiserreichs und Zukunftsängsten geprägt waren. Dazu kam die subkulturelle Versäulung einer Klassengesellschaft, zwischen deren Schichten und Milieus es nur wenige Verbindungen gab. Katholiken, Liberale und Sozialdemokraten hatten sich wenig zu sagen, pflegten kaum gesellschaftlichen Umgang miteinander und verbanden sich noch seltener durch Partnerschaft und Heirat. Im Verlauf der ersten Dekade der Republik schrieb sich das Zeitalter der Ideologien immer stärker in das Denken und Handeln der Menschen ein: Nationalismus und Faschismus auf der einen und der stalinistische Kommunismus auf der anderen Seite trennten die Bürger des neu-demokratischen Staatsvolkes ideologisch auf unversöhnliche Weise.

Die ideologische Polarisierung der Bürger setzte sich auf der Mesoebene kollektiver Organisationen fort. Das Parteiensystem der Weimarer Republik war, aufgrund des (fast) reinen Verhältniswahlrechts, von Beginn an stark fragmentiert. In der Mitte dominierte zunächst die Weimarer Koalition der demokratietragenden Parteien. Die Koalition verlor zwar zwischendurch ihre Mehrheit, aber erholte sich 1928, als die SPD einen deutlichen Wahlsieg errang. Die gegenüber der Demokratie halbloyale Deutschnationale Volkspartei (DNVP) wurde in einer herben Niederlage auf knapp 15 % gestutzt, die systemfeindliche KPD stabilisierte sich auf relativ niedrigem Niveau bei 10,6 %, die NSDAP befand sich mit 2,6 % der Wählerstimmen unterhalb des politischen Relevanzniveaus. Erst mit den Wahlen von 1930 und 1932 entwickelte sich vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise die Weimarer Parteienlandschaft zu einem Prototyp des polarisierten Vielparteiensystems: viele Parteien, eine ausgedünnte Mitte, starke Antisystemparteien auf den Flügeln (NSDAP und KPD), sekundiert von der mäßig loyalen DNVP und einem ausgeprägten zentrifugalen Wettbewerb. Die gewalttätigen Parteimilizen Sturmabteilung (SA) und Roter Frontkämpferbund (RFB) dominierten zunehmend die Straße. Dagegen wirken heute Pegida und selbst die Vorkommnisse in Chemnitz – ohne etwas beschönigen zu wollen – harmlos. Das Parteiensystem, der Maschinenraum der repräsentativen Demokratie, war defekt geworden. Aber auch dies allein genügte noch nicht, um die Weimarer Republik zum Einsturz zu bringen.

Erst der ganzheitliche Blick auf die Makroebene macht den Kollaps der Weimarer Demokratie begreifbar. Dort wurden infolge der Weltwirtschaftskrise die Risiken eines national wie international unkoordinierten Kapitalismus für die Demokratie sichtbar: Massenarbeitslosigkeit, Versagen der sozialen Sicherungen, verbreitetes Elend und der starke Zulauf enttäuschter junger Männer ohne Zukunft zur SA legten die systemischen Sollbruchstellen von Kapitalismus und Demokratie frei. Gleichzeitig erwiesen sich Teile der Weimarer Verfassung als konstitutionelle Falle für die Demokratie. Insbesondere die Verbindung des Artikels 25 der Reichsverfassung (Recht des Präsidenten, das Parlament aufzulösen) und Artikel 48 (Recht des Präsidenten zu Notverordnungen) erwiesen sich bei einem Reichspräsidenten wie Paul von Hindenburg als desaströs, der, umgeben von demokratiefeindlichen Beratern, zunehmend zum entrückten Ersatzkaiser mutierte.

Die wechselseitige Verschärfung von Demokratiedefekten auf der Mikroebene der Bürger, der Mesoebene der politischen Parteien bis hin zur Makroebene der konstitutionellen und wirtschaftlichen Grundfesten des Gesamtsystems hatte die Demokratie in eine existenzbedrohende Krise geführt. Aber es bedurfte auch hier noch der Fehlkalkulation sich selbst überschätzender reaktionärer Staats- und Wirtschaftseliten, die die im Sterben liegende Republik den autokratischen Händen Adolf Hitlers übergaben. Damit war der erste Versuch gescheitert, eine Demokratie auf deutschem Boden auch längerfristig zu etablieren. Der Weg in die dunkelste Phase der deutschen Geschichte begann.

Bonn

Nach der politischen, wirtschaftlichen und moralischen Katastrophe zwischen 1933 und 1945 beriet der Parlamentarische Rat von September 1948 bis Mai 1949 in Bonn über ein Grundgesetz des neuen Staates. Dieses wurde am 23. Mai 1949 verkündet und damit die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Das Grundgesetz erwies sich bald als ein von Demokraten geformter Glücksfall. Es funktionierte als inspirierender normativer Rahmen für politische Beschlüsse, die spätestens zu Beginn der 60er Jahre zu einer stabilen Demokratie führten. Entscheidungen wie die Westbindung, die Unterzeichnung der Römischen Verträge 1957, die Aussöhnung mit Frankreich, die Akzeptanz der Pax Americana sowie der Aufbau eines besonderen Verhältnisses zu Israel führten die Bundesrepublik Deutschland zurück in den Kreis der zivilisierten Nationen. Es war möglicherweise die wichtigste Etappe auf Deutschlands langem Weg in den demokratischen Westen.

1961 hatten sich das Parteiensystem und die tragenden Institutionen der Republik konsolidiert. Das Wirtschaftswunder tat ein Übriges, um die Bürger von den Vorteilen der noch fremden Demokratie zu überzeugen. Dennoch bescheinigte ein berühmtes Buch der US-amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sidney Verba von 1963 den deutschen Bürgern noch keine belastbare »civic culture«. Karl Jaspers wurde 1966 in der Antwort auf die Kritiker seines Buches Wohin treibt die Bundesrepublik? noch deutlicher: »Wir stehen in dem Zerfall einer Demokratie, die bei uns eigentlich noch gar nicht da war«. Das war sicherlich ganz unphilosophisch überzogen. Tatsächlich gestanden Almond und Verba 1980 in einer weiteren Studie nun auch der Bundesrepublik Deutschland eine stabile demokratische Bürgerkultur zu.

Dazwischen lag der erste wirkliche Regierungswechsel der Republik, der sich in zwei Etappen vollzog: 1966 hin zur Großen Koalition und 1969 zur sozialliberalen Regierung von SPD und FDP, die bis 1982 hielt. Sie etablierten in der Bundesrepublik Deutschland erstmals das demokratienotwendige Wechselspiel von Regierung und Opposition. Parallel dazu vollzog sich die von der 68er-Bewegung angestoßene kulturelle Modernisierung der Gesellschaft. Der Mief der »formierten Gesellschaft« (Rüdiger Altmann) aus der Adenauer-Ära wurde weggeblasen. Willy Brandts Erklärung »Wir wollen mehr Demokratie wagen« brachte den neuen Zeitgeist der gesellschaftlichen Reformen auf den Punkt.

Wichtige gesellschaftliche Reformen wurden eingeleitet, der Sozialstaat ausgebaut, keynesianische Instrumente in die ordoliberale Grundstruktur der Wirtschaftspolitik integriert und die neokorporatistische Partnerschaft zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft vertieft. Das politische und wirtschaftliche »Modell Deutschland« erscheint wohl deshalb heute manchen Krisentheoretikern als der Höhepunkt demokratischer Entfaltung in Deutschland. Ein Blick in die Gesellschaft lässt daran jedoch erhebliche Zweifel aufkommen.

Bis 1977 benötigten Ehefrauen die Einwilligung ihrer Männer, um Arbeitsverträge abschließen zu können. Erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe als ein spezifischer Straftatbestand in das Strafgesetzbuch eingeführt. Erwachsene Homosexuelle wurden mit dem Strafgesetzbuch drangsaliert. Ihnen drohten bis 1973 Gefängnisstrafen. Der berüchtigte Paragraph 175 wurde erst 1994 endgültig gestrichen. Das Strafprozessrecht wurde im Zuge der Prozesse gegen die RAF zugunsten der Anklage verschärft; der sogenannte Radikalenerlass von 1972 sollte jene, die vermeintlich nicht auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung standen, vom Staatsdienst fernhalten.

Unterhalb der rechtlichen Sanktionierung galten in der Bundesrepublik Deutschland Ehen zwischen protestantischen und katholischen Männern und Frauen als dubiose Mischehen. Schwarze wurden als Neger diskriminiert, religiöse und ethnische Minderheiten fast ausschließlich durch die Brille der Mehrheitsgesellschaft gesehen. Viele Intellektuelle standen solchen illiberalen Tendenzen kritisch gegenüber. All diese Probleme sollen nicht die wichtigen Reformerfolge insbesondere der 70er Jahre kleinreden. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass in der nationalen Volkswirtschaft die Märkte demokratietauglich gestaltet werden sollten und nicht umgekehrt, wie die Bundeskanzlerin auf dem Höhepunkt der Finanzkrise von 2007/2008 in einem sprachlichen Fehltritt forderte. An die beschriebenen Probleme müssen all jene erinnert werden, die die 60er und 70er Jahre zum goldenen Zeitalter der Demokratie verklären. Willy Brandt selbst formulierte zum Missvergnügen der konservativen Opposition anlässlich seines Regierungsantritts 1972: »Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.« Erst in der nostalgischen Rückschau erscheinen jene Nachkriegsjahrzehnte einseitig als die mustergültige Verwirklichung von Brandts Diktum »Mehr Demokratie wagen«. Nur eine solch faktenarme Verklärung der Vergangenheit erlaubt es den Krisenverkündern heute, die Gegenwart der Berliner Republik als eine Geschichte des demokratischen Niedergangs zu beschreiben.

Berlin

Im Jahr 1990 wurde Deutschland wiedervereinigt. Das war kein einfaches Unterfangen. Fehler wurden gemacht. Die westdeutschen Eliten kümmerten sich wenig um die Befindlichkeiten der ostdeutschen Bevölkerung, die die Integration Ostdeutschlands häufig als arrogante Landnahme des Westens empfanden. Auch die sozialen wie ökonomischen Belastungen waren erheblich. Wirtschaftlich wurde Deutschland mehr als ein Jahrzehnt als der »kranke Mann Europas« bezeichnet. Mit dem Ende des Reformstaus und dem Beginn der wirtschaftlichen Erholung stieg das vereinte Deutschland zur führenden Macht der EU auf. Die Beschäftigung befindet sich heute auf einem Höchst-, die Arbeitslosigkeit auf einem Niedrigstand, der Sozialstaat ist trotz mancher Schwächen robuster als es die symbolisch übersteigerten Debatten um Hartz IV suggerieren. Und dennoch: Die Demokratie in Deutschland wird gerade heute in der wissenschaftlichen und öffentlichen Debatte als herausgefordert, fragil und krisenhaft beschrieben. Mehr denn je. Woher kommt das? Noch einmal die drei Perspektiven:

Mikroebene: Die Wähler sind sprunghafter geworden. Sie wechseln schneller die Parteienpräferenz als dies in der »formierten Gesellschaft« der alten Bundesrepublik der Fall gewesen ist. Dies gilt für Ostdeutschland stärker als für Westdeutschland. Das ist aber keineswegs per se negativ. Denn mittlerweile haben die Bürger auch ein größeres Angebot an Parteien. Sie können damit zielgenauer entlang ihrer spezifischen Interessen und Wertvorstellungen wählen. Gleichzeitig werden aber neue gesellschaftliche Konfliktlinien virulenter. Zum klassischen Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit, rechts und links, hat sich eine neue kulturelle Spaltung etabliert. Sie durchschneidet und überlappt den klassischen Links-rechts-Konflikt und trennt nun weltoffene Kosmopoliten und nationalstaatlich orientierte Kommunitaristen. Erstere wollen die Grenzen öffnen, letztere trachten danach, sie zu schließen. Dies gilt für Güter und Kapital, aber auch für Menschen – Arbeitskräfte, Asylsuchende und Geflüchtete. An der Frage, wie viel Nationalstaat es noch geben und wie tief die Europäisierung der nationalstaatlichen Politik gehen soll, scheiden sich kosmopolitische und nationalistisch-kommunitaristische Geister. Es ist vor allem dieser soziokulturelle Konflikt, der einen großen Teil unserer Diskurse, die Politik und den Wettbewerb der Parteien gegenwärtig bestimmt.

Mesoebene: Der neue kulturelle Konflikt hat das Parteiensystem verändert. Es gibt, wie in fast ganz Europa nun auch in Deutschland mit der AfD eine rechtspopulistische Partei, die die anderen Parteien zunehmend vor sich hertreibt. Die AfD hat sich nach den bescheidenen Anfängen einer erzkonservativen Antieuropapartei zu einer chauvinistischen Formation gewandelt, die mit fortgesetzten Tabubrüchen die Diskurse der Medien und die Entscheidungseliten der etablierten Parteien in Atem hält. Migration, Geflüchtete, Asyl, die europäische Integration und die »entrückten Eliten« der etablierten Politik – das sind die Themen, die Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten leiten und ihnen Wahlerfolge ermöglichen.

Auf der anderen Seite stehen die Grünen, die sich als moralisch überlegene Kosmopoliten präsentieren, die die Grenzen offen halten, die europäische Integration vorantreiben und den Klimawandel stoppen wollen. Blutspender für beide Parteien sind die einst großen Volksparteien CDU/CSU und SPD. Besonders stark trifft es in Deutschland wie in ganz Europa die Sozialdemokratie. Arbeiter des traditionellen Milieus sind auf die Seite des rechten Populismus gewechselt. Die modernen Mittelschichten, deren Eltern ihren sozialen Aufstieg häufig der Reformpolitik der SPD seit den späten 60er Jahren verdanken, haben dieser den Rücken gekehrt und befinden sich heute auf der Seite der grünen Kosmopoliten.

Weimarer Verhältnisse? Mitnichten. Die AfD ist nicht die NSDAP, die Grünen und auch Die Linke nicht die demokratiefeindliche KPD. Der Parteienwettbewerb strebt nach wie vor in die politische Mitte. Das Zentrum des Parteiensystems ist übervölkert. Neben der Union, der SPD und der FDP sind nun auch die in mancher Hinsicht bürgerlich gewordenen Grünen in die Mitte gerückt. Die Parteienlandschaft hat zwar nicht mehr die komfortablen Strukturen des Zweieinhalb-Parteiensystems der Bonner Republik von 1961 bis 1980, aber es ist eben auch von einem polarisierten und fragmentierten Vielparteiensystem Weimarer Prägung entfernt. Die Zivilgesellschaft ist trotz Pegida und Co weitestgehend demokratisch gesinnt und ihre politischen Akteure der NGOs haben wirksame zivile Wächterfunktionen gegenüber Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit, Korruption und Menschenrechtsverletzungen übernommen.

Sorgen bereitet allerdings eine sich zunehmend fragmentierende Öffentlichkeit, die insbesondere in der digitalen Sphäre in wechselseitig abgeschottete Echokammern zerfällt. Vor allem im rechten Spektrum gedeihen so Fremdenhass, Verschwörungstheorien und das Klima von post-truth. Fakten werden verdreht, die Wahrheit relativiert. Mit der Öffentlichkeit droht ein Teil der demokratischen Infrastruktur zu zerfallen. Die repräsentativen Institutionen und Akteure haben noch kein Rezept gefunden, um die Dunkelkammern von zwielichtigen Weltverschwörern wieder mithilfe einer selbstreflexiven kritischen Öffentlichkeit zu beleuchten.

Makroebene: Auch auf der Makroebene der verfassungstragenden Institutionen sind die Unterschiede zu Weimar deutlicher als die Gemeinsamkeiten. Der Parlamentarische Rat hat die Lehren aus den semipräsidentiellen Verfassungsfallen der Weimarer Republik gezogen und für ein parlamentarisches Regierungssystem votiert. Das Grundgesetz hat sich schon in Bonn als ein von demokratischen Politikern gestalteter Glücksfall erwiesen. Vom liberalkonservativen Dolf Sternberger bis hin zum linken Jürgen Habermas wurde dies als das Heraufziehen eines Verfassungspatriotismus gedeutet. Auch wenn wir heute erleben, dass es bei sichtbaren Teilen der Bevölkerung eine illusionäre und gefährliche Rückwendung zu einem völkisch aufgeladenen Nationenbegriff gibt, überwiegen doch die Vertreter eines modernen westlichen Verständnisses der Staatsnation, die sich erst und vor allem durch die von allen anerkannte Verfassung konstituiert. Das Staatsvolk mag und muss sich in einer offenen Gesellschaft ethnisch wie kulturell verändern; aber gerade deshalb ist es in der Lage, sein Wesen als demokratische Nation beständig neu zu erschaffen.

Die Justiz der Berliner ist anders als jene der Weimarer Republik auf dem rechten Auge alles andere als blind, das Verfassungsgericht stark, unparteiisch und angesehen. Die politische Gewalt gegen das demokratische System ist trotz der mörderischen Umtriebe der NSU weit davon entfernt, die Grundlagen der Demokratie zu erschüttern. Dasselbe gilt für den islamistischen Terror, wie menschenverachtend er sich bisweilen auch manifestiert. Die linke Gewalt, wie sie sich bei Gipfeltreffen der führenden Industrienationen immer wieder äußert, ist kriminell, aber meist nicht gegen Personen gerichtet und schon gar nicht von Dauer. Also alles in Ordnung im Staate Deutschland? Ist Berlin heute wie Bonn in seinen besten Reformjahren zu Beginn der 70er Jahre?

Nein! Berlin ist weder Weimar noch Bonn. Das wiedervereinigte Deutschland ist stabiler als Weimar, und es ist demokratischer als es je ein Staat auf deutschem Boden war. Dies gilt auch im Vergleich mit der wohl geordneten alten Bundesrepublik, selbst für deren Reformphase von 1969 bis 1974. Die Demokratisierung der Demokratie hat sich in den letzten drei Jahrzenten vor allem im Bereich des liberalen Rechtsstaats vollzogen. Die Geschlechtergerechtigkeit ist weiter entwickelt als zu Beginn der 70er Jahre, Homosexualität wird nicht mehr mit dem Strafrecht verfolgt, Minderheitenrechte sind besser geschützt, Parteien intern demokratischer und die Eliten in Regierung und Parlament besser kontrolliert denn je. Aber gerade diese liberale Demokratisierung der Demokratie steht heute unter Beschuss. Die Kanonen werden von den Rechtspopulisten geladen. Gerichtet sind sie gegen das liberale kosmopolitische Establishment. Dabei geht es nicht um Demokratie oder Diktatur. Das Ziel ist die schleichende Transformation hin zu einer illiberalen Demokratie. Das Mehrheitsprinzip soll zur Demokratie schlechthin stilisiert werden. »The winner takes it all« – Donald Trump, Viktor Orbán und Jarosław Kaczyński machen es vor. Auf die Überfokussierung auch kleinster Minderheiten durch die kulturelle Linke folgt nun die Verabsolutierung der Mehrheit durch die illiberale Rechte.

Allerdings setzt die wirtschaftliche und kommunikative Globalisierung die Berliner Republik einem kälteren Wind aus, als dies im geschützten Teilstaat der Bonner Republik der Fall gewesen ist. Die größere Offenheit von wirtschaftlichen, politischen und informationellen Grenzen hat eine neue Unsicherheit gerade unter den weniger Begünstigten in unserer Gesellschaft ausgelöst. Manche Schichten, Gruppen und Individuen fühlen sich in ihren wirtschaftlichen Interessen und kulturellen Befindlichkeit bedroht und nicht ausreichend repräsentiert. Dies ist der soziale Nährboden der Rechtspopulisten. Das Problem wurde von den politischen Eliten bisher nicht hinreichend ernst genommen. Von einer Lösung sind sie noch weit entfernt.

Dennoch: Unsere Demokratie steckt nicht in einer Existenzkrise. Der Wunsch, durch eine besonders drastische Kritik der demokratischen Zustände auch besonders progressiv zu erscheinen, ist weder logisch noch empirisch überzeugend. Gelöst werden müssen aber Probleme, die die grundlegenden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auszuhöhlen drohen: die zunehmende sozioökonomische Ungleichheit, die Globalisierung deregulierter Finanzmärkte, die digitale Privatisierung des Weltwissens, Hassreden in digitalen wie analogen Debatten, der Klimawandel sowie die vorschnelle Preisgabe nationalstaatlicher Handlungskompetenzen an die EU und andere supranationale Regime. Auch und gerade in Zeiten einer drohenden Renationalisierung darf die EU kritisiert werden. Denn erst die Kritik fördert ihre Demokratisierung. Gesucht wird ein kosmopolitischer Kommunitarismus oder ein kommunitaristischer Kosmopolitismus, der weder die Interessen des Individuums verabsolutiert noch die demokratische Kraft des Gemeinwesens unterschätzt. Wir dürfen das demokratische Projekt einer weltoffenen Gesellschaft weder den neoliberalen Staatsverächtern noch den selbstgerechten Moralisten überlassen. Schon gar nicht den populistischen Nationalisten, die das Rad der Geschichte gefährlich zurückdrehen wollen.

(Eine stark gekürzte Fassung ist am 31. März 2019 im »Tagesspiegel« erschienen.)

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