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picture alliance/dpa | Paul Zinken

Zur Notwendigkeit einer »Neuen Ostpolitik« Wegweiser Ukraine

Und doch bleibt, wenn man langfristig denkt, unabhängig von den konkreten Ereignissen immer die andere große Frage im Zentrum: Was kann, was muss geschehen, damit wir möglichst schnell wieder auf einen Weg des Vertrauens wechseln? Die Gestaltung eines stabilen Friedens mitten in Europa ist die Aufgabe der Stunde. So gesehen wird der Konflikt um die Ukraine jetzt auch zum Wegweiser für die europäische Zukunft insgesamt.

Dieses Jahr hatte schon mit der Angst vor diesem Krieg mitten in Europa begonnen. Der Westen war besorgt über den massiven russischen Truppenaufmarsch an der ukrainischen Grenze und sah in ihm die Vorbereitung auf einen militärischen Eingriff. Moskau stellte Angriffsabsichten in Abrede, blieb aber jede plausible Erklärung für die Verlegung von mehr als 100.000 Soldaten in die Grenzregionen zur Ukraine schuldig. Es kann heute niemand sagen, dass die anschließende Eskalation überraschend kam.

Welche Stellschrauben hat es gegeben? Die russische Forderung nach einer westlichen Garantieerklärung, Kiew nicht in die NATO aufzunehmen, wurde mündlich und schriftlich zurückgewiesen. Beide Seiten bekannten sich zwar verbal zur Deeskalation, nahmen in einem fatalen Entweder-oder aber faktisch einen konfliktverschärfenden Schritt nach dem anderen vor. Wir waren konfrontiert mit der Wirkweise einer Eskalationsspirale. So waren seit dem Ukraine-Konflikt 2014 von Russland und der NATO jedes Jahr mehr und größere Militärmanöver abgehalten worden – hinsichtlich des Umfangs war das russisch-belarussische Großmanöver »Zapad 2021« vom September 2021 mit 200.000 beteiligten Kräften Rekordhalter.

Wer nach dem Grund fragte, erhielt von beiden Seiten dieselbe Antwort: »Wir reagieren nur auf die Aktivitäten der Anderen.« Dieses Prinzip des »Wie Du mir, so ich Dir« funktioniert immer wieder als Brandbeschleuniger. Trotz allem konnte man noch im Januar 2022 auch Hoffnung schöpfen – was bedeutet: Ausweglos war die Eskalationsspirale nie. In verschiedenen Formaten fand wochenlang immer wieder ein reger Meinungsaustausch statt.

In Brüssel trat nach einer Pause von zweieinhalb Jahren der NATO-Russland-Rat zusammen. Ebenfalls nach langer Unterbrechung fand am 26. Januar in Paris auf Beraterebene ein Treffen im Normandie-Format statt, also zwischen Russland, der Ukraine, Frankreich und Deutschland. Auch andere Gesprächskanäle wurden genutzt, wenngleich es keine konkreten Ergebnisse gab, außer bestenfalls der Vereinbarung, den Dialog fortzusetzen.

Russlandpolitik kontrovers

Allerdings gab es im Westen seit Langem keine einheitliche Haltung dazu, wie man sich in dieser Konfliktsituation mit Russland verhalten soll. Auch in Deutschland gibt es dazu ein breites Spektrum von Positionen. Am 14. Januar 2022 erschien (auf ZeitOnline) in Form eines offenen Briefs unter dem Titel »Experten fordern Korrektur deutscher Russlandpolitik« eine scharfe Attacke auf die deutsche Ostpolitik, der sich 73 Erstunterzeichner aus Wissenschaft und Politik anschlossen.

Die Berechtigung Russlands, »Sicherheitsgarantien« für sich einzufordern, wird mit dem Hinweis auf das militärische Potenzial Moskaus zurückgewiesen. Deutschland schaue dem aggressiven Treiben Russlands auch in seiner Nachbarschaft »kritisch aber weitgehend tatenlos zu«. Die Inbetriebnahme von Nord-Stream 1 erscheine im Nachhinein als »Wegbereiter für Russlands Invasion in der Ukraine« und Nord-Stream 2 habe die ökonomische Hebelkraft der Ukraine gegenüber Russland vollständig beseitigt.

Die Einladung von Präsident Putin in den Deutschen Bundestag im Jahr 2001 und die in der Zeit von Dimitrij Medwedjew als Präsident ab 2008 ausgehandelte »Modernisierungspartnerschaft«, das seien beides »schwerwiegende Fehleinschätzungen der deutschen Russlandpolitik« gewesen. Der Ansatz »Annäherung durch Verflechtung«, eine Anspielung auf die Ost- und Entspannungspolitik der 70er Jahre, sei gescheitert. Die Russlandpolitik der Bundesrepublik müsse grundlegend korrigiert werden.

Aber ausgerechnet an dieser Stelle bleibt der Text vage und ohne konkrete Vorschläge: »Im Interesse internationaler Sicherheit, europäischer Integration und gemeinsamer Normen muss Berlin die Kluft seiner öffentlichen Rhetorik und realen Praxis in Osteuropa endlich schließen. Dies sollte sich in einer Reihe paralleler und konkreter Maßnahmen politischer, rechtlicher, diplomatischer zivilgesellschaftlicher, technischer und ökonomischer Natur ausdrücken.«

Ebenfalls viel Beachtung fand der Aufruf »Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang im Verhältnis zu Russland«, der am 5. Dezember 2021 von 27 Diplomaten, Militärfachleuten und Wissenschaftlern veröffentlicht wurde. Die Unterzeichner erklären die Drohgebärden Moskaus gegenüber der Ukraine für inakzeptabel, stellen aber fest, dass Empörung und formelhafte Verurteilungen nicht weiterführen. »Eine einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist nicht erfolgreich«. Vielmehr sollte die NATO aktiv auf Russland zugehen, um auf eine Deeskalation der Situation hinzuwirken. Konkret werden vier Punkte genannt:

Erstens soll eine hochrangige Konferenz in der Tradition des KSZE-Prozesses für zwei Jahre einberufen werden, die auf der Basis der »Schlussakte von Helsinki«(1975), der »Charta von Paris für ein Neues Europa«(1990) und des »Budapester Memorandums«(1994) über eine »Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur« beraten soll. Den russischen Sicherheitsinteressen sollte man mit einer Vereinbarung über das Einfrieren der Situation für die Dauer der Konferenz entgegenkommen, was Erweiterungsschritte angeht bei der NATO, der EU und der CSTO, also bei dem östlichen Sicherheitsbündnis.

Zweitens soll für diese zwei Konferenzjahre ein Verzicht auf jegliche militärische Eskalation gelten und stattdessen durch einen breit angelegten Dialogprozess eine vollständige Transparenz bei Militärmanövern und eine Risikominimierung erreicht werden.

Der dritte Punkt zielt auf eine Wiederbelebung des NATO-Russland-Dialogs, begleitet von einem Neuansatz bei der europäischen Rüstungskontrolle und der Schaffung von mehr Transparenz und Vertrauen. Schließlich schlägt der Aufruf vor, über »ökonomische Kooperationsangebote« an Moskau nachzudenken, bei der die russischen Risiken bei der laufenden Neuausrichtung der europäischen Energiepolitik in den Blick genommen werden: »Wirtschaftliche Zusammenarbeit könnte einen wichtigen Beitrag zu europäischer Stabilität leisten und zudem ein Anreiz für Russland zur Rückkehr zu einer kooperativen Politik gegenüber dem Westen sein.«

Ostpolitik zwischen Geben und Nehmen

Der offene Brief der Experten fordert in der Krise vor allem von Deutschland einen härteren Auftritt gegenüber Moskau und distanziert sich explizit von einem Rückgriff auf die Prinzipien der historischen Ost- und Entspannungspolitik. Der Aufruf »Raus aus der Eskalationsspirale« stellt die Notwendigkeit der Deeskalation des Konflikts in den Vordergrund und knüpft mit dem Helsinki-2-Vorschlag direkt an den KSZE-Prozess an, den es ohne die Ostpolitik von Willy Brandt, Egon Bahr, der am 18. März 100 Jahre alt geworden wäre, und Walter Scheel nicht gegeben hätte.

In dem öffentlichen Diskurs über Wege aus der gegenwärtigen Krise zwischen Russland und dem Westen spielt die Frage nach einer »Neuen Ostpolitik« eine wichtige Rolle, was der Vergleich zwischen den beiden Aufrufen auch bestätigt. Eine zentrale Frage ist die Vergleichbarkeit der Konfliktkonstellationen Anfang der 70er Jahre und heute.

Die inhaltlichen Kapitel des »Moskauer Vertrags« zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion vom 12. August 1970 geben einen Einblick in die Logik der Ostpolitik. Den Anfang macht ein Bekenntnis zu Frieden und Entspannung sowie die Anerkennung der »bestehenden wirklichen Lage«, also des Status quo, zu verstehen als faktische Anerkennung der real existierenden DDR.

Der zweite Artikel vereinbart einen Verzicht auf die Drohung oder Anwendung von Gewalt, der dritte garantiert die Unverletzlichkeit der europäischen Grenzen, die territoriale Staatsintegrität und den Verzicht auf jeglichen Gebietsanspruch, wobei die Oder-Neiße-Grenze ausdrücklich genannt wird. Willy Brandt wird erklären, dass auf nichts verzichtet wird, was nicht faktisch schon verloren war. Aber natürlich war es zunächst ein Prozess des Verzichts auf jeden Revisionismus und des Gebens: mit der Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs und der Fiktion eines Deutschlands in den Grenzen von 1937, mit der Bestätigung der europäischen Nachkriegsordnung und ihrer neuen Grenzen.

Allerdings stand dem Geben auch ein Nehmen zur Seite. Das neue Umfeld von Entspannung und Vertrauen ermöglichte bald eine Verbesserung der Lage der Menschen im geteilten Deutschland, wie sie Egon Bahr bereits 1963 in seiner berühmten Rede zu »Wandel durch Annäherung« zum Ziel erklärt hatte. Später da stellte sich heraus, dass über das Paket der sechs Ostverträge und dem nachfolgenden KSZE-Prozess der Weg zur deutschen Vereinigung geöffnet wurde.

Eine mögliche »Neue Ostpolitik« sieht sich heute vor einer um 180 Grad gedrehten Herausforderung. Putins Russland tritt selber als revisionistische Macht auf, die Staatsgrenzen ändert und mit militärischem Druck seine Einflusszone zu erweitern versucht. Hier mit einer Haltung des »Gebens« zu reagieren wäre unverantwortlich und könnte sich in keiner Weise auf die historische Ostpolitik berufen. Schon gar nicht bestünde das Recht, in diesem Kontext die Souveränitätsrechte und Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten zu relativieren.

Anders sieht es da aus, wo sich Russland von der Verbreitung und Verteilung von Soldaten und schweren Waffen durch die NATO in seiner Umgebung bedroht fühlt. Wir erwarten von Moskau in Sachen »Europäische Friedensordnung« Vertragstreue, dann darf aber auch die »NATO-Russland-Grundakte« von 1997 mit seinen Verbreitungsbeschränkungen für NATO-Kräfte in Osteuropa nicht Makulatur werden. Kurzfristig beansprucht das Aufhalten der bedrohlichen Eskalationsspirale höchste Priorität. Mittelfristig wäre ein Helsinki-2-Prozess in der KSZE-Tradition mit dem Ziel der Wiederherstellung einer gesamteuropäischen Friedensordnung und einer Aufarbeitung der belastenden Entfremdungsprozesse zwischen Russland und dem Westen der beste Anstoß für eine »neue Ostpolitik«.

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