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Acht Jahre nach seinem Tod : drei neue Biografien über Günter Grass Wegweisung in unsicheren Zeiten

Es mag ein Zufall sein, dass gerade jetzt, acht Jahre nach dem Tod des Autors drei umfangreiche Studien zu Günter Grass erschienen sind: Friederike Stausberg, Günter Grass und die Berliner Republik, Dieter Stolz, Günter Grass, Der Schriftsteller und Harro Zimmermanns Biographie, Günter Grass. Auch wenn es vielleicht nicht das treibende Motiv der drei Autoren war, gerade jetzt an diesen Schriftsteller und Intellektuellen zu erinnern, den manche in Zeiten einer kurzatmigen Debattenliteratur schon als nicht mehr zeitgemäß abgeschrieben haben, so glaube ich doch, dass die Beschäftigung mit Günter Grass, seinem Werk und seiner Rolle als politischer Intellektueller heute angesichts der vielfältigen Umbrüche, die wir verunsicherten Mitteleuropäer unter dem Rubrum Zeitenwende irgendwie zu fassen versuchen, Orientierung zu bieten vermag.

Erfolgreicher Autor und engagierter Staatsbürger

Friederike Stausbergs Buch, Günter Grass und die Berliner Republik ist, wie es im Untertitel heißt, eine biographische Fallstudie über die kommunikative Macht von Intellektuellen. Wer genau wissen will, mit welchen Mitteln und über welche Kanäle Grass die politische Agenda in der Berliner Republik beeinflusste, wo er mit seinen Einreden erfolgreich war und wo nicht, findet hier eine große Fülle von gut belegten Informationen. Freilich handelt es sich bei diesem Buch um eine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit, die sich natürlich in erster Linie an die eigene akademische Zunft richtet, weshalb das Lesevergnügen – u.a. auch wegen der vielen unten auf jeder Seite abgedruckten Fußnoten - leider hinter dem Informations- und Erkenntnisgewinn spürbar zurückbleibt.

Während Stausberg sich ganz auf die Periode nach der deutschen Vereinigung, genau von November 1989 bis April 2015, und zudem ausschließlich auf die Rolle des Autors Grass als allgemeinen Intellektuellen und seinen Einfluss auf die Politik in der Bunderepublik konzentriert, geht es in dem Buch von Dieter Stolz, angefangen bei der frühen Lyrik und den zahlreichen frühen Stücken in der Manier des absurden Theaters, vor allem um den Schriftsteller und Künstler Grass und sein Werk. Als Intellektueller und Politikberater wird Grass hier nur andeutungsweise, meist im Zusammenhang mit den zahlreichen in den Feuilletons ausgetragenen Kontroversen über sein literarisches Werk, erwähnt. Dafür erhält der Leser einen detaillierten Überblick über die ganze Breite des literarischen und künstlerischen Schaffens von Günter Grass und zugleich einen Einblick in die Arbeitsweise des Autors, dessen Lektor und Zuarbeiter Stolz eine Zeitlang war.

Zeugnis einer imponierenden Lebensleistung

Harro Zimmermanns fast tausendseitiges Werk ist dagegen eine klassische Biographie, die in gewisser Weise die beiden anderen Ansätze zusammenfügt und vertieft: Sein Buch bietet einen Überblick über das literarische Gesamtwerk von Günter Grass und zeigt zugleich, wie dieses Werk eng mit dem sich allmählich in den 50er Jahren entwickelnden politischen Engagement des Autors zusammenhängt. Von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel verdichtet sich beim Lesen dieses Buches der Eindruck einer imponierenden Lebensleistung des Autors, bildenden Künstlers und Intellektuellen Günter Grass.

Seine Lyrik und bildkünstlerische Arbeit verschwindet oft hinter den großen Romanen.

Der weltweite Erfolg der Blechtrommel begründet, wie auch Dieter Stolz gleich zu Anfang seines Buches schreibt, die steile Karriere des Günter Grass in seiner »Doppelrolle als erfolgreicher Autor und engagierter Staatsbürger«. Aber Stolz weist zurecht auch darauf hin, dass die oft einseitige Konzentration auf die großen Romane des Autors Grass den Blick dafür trübt, welche große Bedeutung von Anfang an und durch alle Etappen seines Lebens hindurch für Grass die Lyrik und die bildkünstlerische Arbeit hat: »Die Lyrik stellt neben den bildkünstlerischen Arbeiten des Multitalents eine durchgehende Konstante im Opus von Günter Grass dar.« Mehr noch, in den Gedichten, in den Zeichnungen, Radierungen und Skulpturen begegnet man von Anfang an dem ganzen Figurenkosmos, der die späteren großen Romane belebt: den blechtrommelnden Jungen, die schwarze Köchin, den sprechenden Plattfisch und all die anderen spätromantischen Fabelwesen, die seine Prosa beleben.

Ich selbst habe Günter Grass erst mit provinzieller Verspätung Ende 1961 literarisch kennengelernt. Ich hatte damals gerade mein Studium an einem Dolmetscherinstitut in einer pfälzischen Kleinstadt abgeschlossen, als eines Tages in der lokalen Monopolzeitung, der Rheinpfalz, über besorgte Eltern und Kirchenmänner zu lesen war, die vor dem Jugendverderber Günter Grass warnten: ›Pornographie‹, ›Blasphemie‹, ›Nihilismus‹ lauteten die empörten Verdikte. Für mich, der ich schon damals nicht sehr gefestigt war im Glauben an die uns angedienten verstaubten abendländischen Autoritäten, waren das lauter Empfehlungen. Ich kaufte mir die soeben erschienene Novelle Katz und Maus, lieh mir von einem literarisch gebildeteren Studienkollegen Die Blechtrommel und wurde Grass-Leser.

»Gefährliche« Grass-Lektüre

Ich blieb es auch, als in späteren aufregenderen Zeiten um mich herum der Tod der Literatur proklamiert wurde, als Hans Magnus Enzensberger sich für »Agitationsmodelle« und »Faktographien« anstelle von »Schelmenromanen« aussprach, als auch ich mich zusammen mit vielen Gleichaltrigen ins politische Engagement stürzte und die meisten meiner Mitstreiter es für Zeitverschwendung oder Schlimmeres hielten, Gedichte, Erzählungen und Romane zu lesen oder gar selbst zu verfassen.

Katz und Maus und Die Blechtrommel – wenig später auch die vom Feuilleton lange unterschätzten Hundejahre – Bücher, die mir, der ich an einem drittklassigen Gymnasium über Ernst Wiechert und Werner Bergengruen nicht hinausgelangt war, in einem sehr konkreten Sinn die Augen öffneten. Ich sah die Welt fortan anders. Der Autor Grass bot eine die gängige subversiv aushöhlende Lesart der Gegenwart und der in ihr verborgenen und verleugneten Vergangenheit. Grass lesen bedeutete, sich von interpretatorischen Fesseln zu befreien, bedeutete in einer Gesellschaft, die ihren Bürgern ständig Bekenntnisse und wohlfeile Empörung abnötigte, eine neue Unmittelbarkeit, eine a-moralische oder vor-moralische Genauigkeit des Blicks zu gewinnen.

»Ich sah die Welt fortan mit anderen Augen.«

Dies gilt für alle drei Bücher der später vom Autor so genannten Danziger Trilogie, also für die Blechtrommel, für Katz und Maus und in besonderer Weise für die Hundejahre. »Der Roman«, so Zimmermann über die Hundejahre, »versucht mit seinem pulsierenden Erzähltemperament das politische Grundbeben einer Republik aufzunehmen, deren kritische Jugend sich zunehmend gegen die ›restaurative‹ Adenauer-Ära wendet und weder mit der Verklärung der Nazi-Zeit noch mit dem Reüssieren ihrer alten Eliten, noch mit der neuerlichen Wieder- und Atombewaffnung des Landes einverstanden ist.« Ob diese kritische Jugend damals die komplizierte Erzählstruktur des Romans wirklich begriff und den Text als kritische Destruktion der großen Rechtfertigungs- und Verschleierungsideologien der Adenauerzeit verstand, mag man bezweifeln. Dieter Stolz geht sogar so weit, den Hundejahren eine solche aufklärerische Tendenz von vornherein abzuerkennen. Für ihn ist die ganze »dreistimmige Textinszenierung« des Romans ein durch und durch »absurder Prozess«.

Protestlyrik ist seine Sache nicht

Es muss 1971 oder 1972 gewesen sein, als ich Günter Grass zum ersten Mal persönlich kennenlernte. Literatur zumal, war damals auf der Linken nicht sehr gefragt; es war die hohe Zeit der – meist marxistisch geprägten – Theorie, die, in politische Praxis umschlagend, die Gesellschaft an ihrer Basis umwälzen sollte; und Kultur gehörte zum Überbau, war das, was sich, wenn erst die Basis in Ordnung gebracht wäre, von allein ergeben würde. Gegen diese Sicht der Dinge half auch die Lektüre von Georg Lukács und Theodor W. Adorno wenig, und Antonio Gramsci, der vielleicht hätte helfen können, war damals noch nicht in aller Linken Munde.

Dazu kam, dass es politische Differenzen zwischen dem Autor und Citoyen Grass auf der einen und der Protestgeneration von damals auf der anderen Seite gab, obwohl Günter Grass zu den wenigen Schriftstellern gehörte, die uns 68er literarisch nicht links liegen ließen. Aber wer hatte damals – 1969 – schon Zeit, einen Roman wie örtlich betäubt zu lesen, der sich über die linke Theoriehuberei lustig machte? Des »an sich liberalen und nur uneigentlich radikalen« Studienrats Starusch' Utopie einer »weltweiten pädagogischen Provinz, in der es nur Lernende und keine Lehrenden gibt«, oder die andere einer weltumspannenden Krankenfürsorge, »die alle anderen Systeme ersetzen soll«, die sein Zahnarzt dagegensetzt, sie wären es wohl wert gewesen, in Teach-ins, in Kneipengesprächen und in Universitätsseminaren der gefräßigen Theoriediskussion als subversive Gegenreden einverleibt zu werden. Oder die Polemik gegen die damals den Schriftstellern abgeforderte und von vielen allzu eilfertig abgelieferte Protestlyrik, die den Spott des Schriftstellers Grass herausforderte: »Ich rede vom hölzernen Schwert und vom fehlenden Zahn, vom Protestgedicht…«

Reden halten, Pilze sammeln

Erst später, als Günter Grass und ich zusammen mit Heinrich Böll, Carola Stern und anderen eine politisch-literarische Zeitschrift herausgaben und meine Frau Franziska und ich zehn Jahre lang mit Grass zusammen in seinem Haus in der Berliner Niedstraße wohnten, als Günter Grass und ich in so manchem Wahlkampf Reden haltend und Pilze sammelnd von Ort zu Ort zogen, begriff ich, dass da noch etwas anderes war, das links wie rechts Beunruhigung und Argwohn auslöste: Wie konnte dieser Günter Grass, dem jede Form des anthropologischen und universalgeschichtlichen Optimismus, selbst noch das Blochsche ›Prinzip Hoffnung‹, zutiefst suspekt war, ein Skeptiker, der sich die Schnecke zum Wappentier, und den Camusschen Sisyphos zum Hausheiligen erkor, wie konnte so einer sich so hartnäckig für Reformen einsetzen?

Friederike Stausbergs Studie über den politischen Grass dokumentiert akribisch das politische Engagement des Autors in den Jahren nach der deutschen Vereinigung, als der Elan vieler 68er schon erschöpft war, aber immerhin eine rot-grüne Koalition neue Möglichkeiten eröffnete. Sie beschreibt einführend, wie der zunächst unpolitische Grass in den Fünfzigerjahren allmählich zum politisch engagierten Intellektuellen wird, der sich vor allem der SPD und hier vor allem Willy Brandt zuwendet. Grass selbst hat später immer mal wieder betont, er sei kein geborener, sondern ein gelernter Sozialdemokrat. In der Tat war das Grass’sche Engagement für die SPD am Anfang vorwiegend eine Zuarbeit für den zwar durchaus visionären, aber letztlich stets zugleich pragmatischen Reformer Willy Brandt.

Viele glaubten immer wieder einen Widerspruch zwischen Glauben und Leben, zwischen dem literarischen Werk und dem pragmatisch-politischen Handeln des politischen Zeitgenossen Grass auszumachen. Aber die Auflösung des Rätsels wäre im Werk selbst zu entdecken gewesen: »Nur wer schon einmal, wer mehrmals aufgegeben hat, wer auf dem leeren Schneckenhaus gesessen und die Schattenseite der Utopie bewohnt hat, kann Fortschritt ermessen«, heißt es im Tagebuch einerSchnecke.

Die hier angestimmte Grundmelodie einer Mischung aus Melancholie und Trotz durchzieht auch die neun Monate des Butt und kulminiert in dem großen Abschiedsgedicht im vierten Kapitel der Rättin: »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen / von allen Dingen, die mich umstellt haben und ihren Schatten werfen: / die vielen besitzanzeigenden Fürwörter...«.

Grundmelodie aus Melancholie und Trotz: »Mir träumte, ich müsste Abschied nehmen ...«

Was hier in der Rättin zum Ausdruck kommt und sich über viele Jahre und Bücher hinweg angereichert hat, ist alles andere als zeitgeistige Apokalyptik. Die meisten Kritiker bemerkten allerdings die Kontinuität so wenig wie das Neue: dass nämlich in diesem großen Abschiedsbuch auch von einer Erzählform Abschied genommen wird. Sie nannten die Rättin beharrlich einen Roman, obwohl das Buch selbst wohlweislich diese Gattungsbezeichnung nicht trägt, klagten ein, was das Buch gerade nicht sein wollte. Das klägliche Versagen der Kritik wiederholte sich, als im Herbst 1988 Zunge zeigen erschien, ein sperriges Buch, das sich einem nur erschließt, wenn man sich von stereotypisierten Erwartungen löst, wenn man sich einlässt auf die dreifache Annäherung an das Thema: den aus Tagebuchnotizen hervorgegangenen Essay, die Pinselzeichnungen, das abschließende lange Gedicht.

Als dann 1996 der Roman Ein weites Feld erschien, gerieten einige Großkritiker vollends aus der Fassung, weil sie nicht erkannten oder nicht erkennen wollten, was Harro Zimmermann so beschreibt: »Ein weites Feld wurde von Günter Grass ersonnen als ein Diskurs- und Bedeutungsspiel, als eine Phantasmagorie, die von keiner Lehre, von keinem zeitverhafteten Realismus getragen sein, sondern Fragen stellen und Zweifel säen soll.« Aber genau das können und wollen viele damals nicht gelten lassen. Die ironische Grundkonzeption des Buches wurde übersehen, Aussagen, die der Autor seinen Figuren in den Mund legt, wurden ohne Umschweife diesem selbst zugerechnet. War Grass etwa ein Gegner der deutschen Einheit, gar ein heimlicher Sympathisant der untergegangenen DDR?

Invektiven des Feuilletons

Nun, es war bekannt, dass Günter Grass es lieber gesehen hätte, wenn der Vereinigungsprozess nicht nach dem damaligen Artikel 23 des Grundgesetzes, sondern nach Artikel 146 GG vollzogen worden wäre, weil er – nicht ohne Grund, wie sich bald zeigte – befürchtete, dass die Interessen der Ostdeutschen nicht ausreichend berücksichtigt würden, dass die Sieger im Wettkampf der Systeme vergessen könnten, dass auch sie selbst nicht bleiben durften, wie sie waren. Aus der Sicht von Grass ist der Vereinigungsprozess missraten, ist die brachiale Kahlschlagpolitik der Treuhand eine Demütigung vieler Menschen in den neuen Bundesländern.

»Günter Grass hatte sich nie mit der deutschen Teilung abgefunden.«

Über diese Fragen hätte man rational diskutieren können. Aber nun wucherten in den Feuilletons auf einmal die abenteuerlichsten Unterstellungen. Man vergaß oder machte absichtlich vergessen, dass Grass im Gegensatz zu manchem Autor, der sich neuerdings zeitgeistig gewendet nationalkonservativ gab, sich nie mit der deutschen Teilung abgefunden hatte, dass er mehr für die verfolgten Schriftsteller in der DDR und im gesamten Ostblock getan hat, als die meisten, die nach der Wende von 1989 urplötzlich ihr Herz für die Dissidenten entdeckten. Für Harro Zimmermann ist Günter Grass darum sogar so etwas wie der Dichter der deutschen Einheit.

Gewiss, auch ich war damals in der Sache in einem Punkte anderer Meinung als Grass. Ich hielt eine schnelle Vereinigung beider deutscher Staaten für notwendig, weil nicht ausgeschlossen werden konnte, dass das berühmte window of opportunity sich bei einem langsameren Einigungsprozess wieder schließen würde. Aber die berserkerhafte Wut, mit der viele Kritiker über den Autor Grass herfielen, hatte offenbar nur wenig mit Differenzen in der Beurteilung der politischen Lage zu tun.

Das nachfolgende Buch Fundsachen für Nichtleser hat seine wütendsten Kritiker mit dem unbequemen Schriftsteller wieder ein wenig versöhnt. Sensible Aquarelle und lakonische Gedichte, die Wehmut und Altersweisheit ausstrahlen – mit diesem Günter Grass konnte auch ein Marcel Reich-Ranicki in Frieden leben. Aber dann hielt Grass am 19. Oktober 1997 die Laudatio auf seinen türkischen Schriftstellerkollegen Yasar Kemal, dem der Friedenspreis des deutschen Buchhandels verliehen wurde. Auf einmal zeigte sich, dass der alte Kampfesmut keineswegs versiegt war. Grass prangerte an, was er für unerträglich hielt: die unmenschliche Abschiebepraxis gegenüber Asylsuchenden, den klammheimlichen und sich in offener Gewalt entladenden Hass gegen Ausländer. Seit vielen Jahren schon wohnte er in Schleswig-Holstein in der Nähe der Stadt Mölln, die wie Hoyerswerda, Solingen, Rostock, Eberswalde, Potsdam und viele andere Orte in Deutschland dem neuerlichen Fremdenhass einen Namen gegeben hatte.

Wie Sisyphos seinen Stein

Die schrille Reaktion der Kritisierten zeigte an, dass Grass ins Schwarze getroffen hatte. Von beleidigenden und unsachlichen »Ausfällen gegen die Bundesrepublik Deutschland« war da die Rede. Ausgerechnet der CDU-Generalsekretär Peter Hintze fühlte sich zu dem Urteil ermächtigt, Grass habe sich mit seiner Frankfurter Rede »endgültig aus dem Kreise ernstzunehmender Literaten verabschiedet«. Da war er wieder: Grass, der Nestbeschmutzer, der Vaterlandsverräter. Nur wenige bemerkten, dass Grass sich als Patriot zu Wort gemeldet hatte. In bester republikanisch-patriotischer Tradition sah er es als seine Verantwortung an, die Stimme zu erheben, wenn er die Grundlagen der Demokratie und der Zivilität im eigenen Land gefährdet glaubte. Dass er damit manchem wieder einmal auf die Nerven ging, nicht wenige in solcher Kritik nur eitle Selbstbespiegelung und Anmaßung erblicken wollten, hat ihn verletzt.

Als Grass im Jahr 1986 zum zweiten Mal nach Kalkutta aufbrach, hieß es: »Grass zieht sich resigniert nach Indien zurück«. In Wahrheit fuhr er, um sich auszusetzen, um wie Sisyphos seinen Stein aufzunehmen und ihn wieder und wieder bergauf zu wälzen. Im Reisegepäck schon damals Theodor Fontane, aber auch Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbücher und Arthur Schopenhauers Pererga und Paralipomena. So oft im stillen Dreiergespräch zwischen Schopenhauer, Lichtenberg und Fontane Schopenhauer angesichts der deprimierenden Tatsachen Recht behält, die Sympathie des Autors, das ist nicht zu übersehen, gilt dennoch dem skeptischen Aufklärer Lichtenberg: weil er »offen« bleibt, »neugierig, leidensfähig«.

Als Günter Grass soeben in einem neuen Buch, in immer neue Rollen schlüpfend, »sein Jahrhundert« porträtiert hatte, kam die Nachricht vom Literaturnobelpreis aus Stockholm. Die Ehrung galt dem großen Erzähler und Lyriker und dem geistvollen Essayisten, aber auch dem unbequemen, streitbaren Demokraten Grass. Sie war ein Glücksfall für die deutsche Literatur und eine Ermutigung für alle, die in schwierigen Zeiten an den Idealen der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität festhielten.

Literaturnobelpreis für den »lästigen Nörgler«

Aber im deutschen Feuilleton herrschte keineswegs allgemeine Freude darüber. Manche Kritiker reagierten geradezu beleidigt, weil hier ein Autor ausgezeichnet wurde, den sie schon meinten erfolgreich niedergeschrieben zu haben, dessen ständiges Dreinreden in öffentliche Angelegenheiten sie für lästige Nörgelei oder Schlimmeres hielten. Im Ausland war das anders. Hier nahm man mit Erstaunen und Unverständnis wahr, dass es in Deutschland Kritiker und Schriftstellerkollegen gab, die sich nicht darüber zu freuen vermochten, dass einem der Ihren eine solche Auszeichnung verliehen wurde.

Auch nach dem Literaturnobelpreis blieb er ein streitbarer Citoyen.

Günter Grass ist auch nach dem Literaturnobelpreis ein streitbarer Citoyen geblieben. Auch in die Wahlkämpfe hat er sich weiter auf Seiten der SPD eingemischt, zuletzt noch in die von Schröder vorzeitig herbeigeführte Bundestagswahl, die so knapp ausging, dass nur eine Große Koalition als Möglichkeit blieb. Und Bücher hat er auch weiter geschrieben, rastlos wie immer. Eines davon erregt die Gemüter bis heute, obwohl es die meisten, die sich darüber erhitzen wohl kaum aufmerksam gelesen haben dürften: das Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel. Ende Juli 2006 bekam ich ein Leseexemplar mit Widmung: »Für Johano und Franziska meine jungen Jahre, Günter«. Das Buch ist keine klassische Autobiographie, eher ein autobiographischer Roman, in dem das Erzähler-Ich und die konkrete Person Günter Grass sich nur zum Teil decken, nicht selten ein Versteckspiel miteinander treiben. Hier und da entdeckte ich beim Lesen ein Detail, das mir noch nicht aus Günters Erzählungen oder aus seinem Werk bekannt war. Auch die Passage auf der Seite 126 las ich: »Erschreckte mich, was damals im Rekrutierungsbüro unübersehbar war, wie mir noch jetzt, nach über sechzig Jahren, das doppelte S im Augenblick der Niederschrift schrecklich ist?« Und dass die Panzereinheit der Waffen-SS, zu der der gerade mal 17-Jährige eingezogen wurde, nach Jörg von Frundsberg benannt war.

Grass, die Deutschen und die Vergangenheit

Hatte er mir das nicht vor Jahren schon erzählt? Ich war mir nicht sicher. Aber es war mir auch nicht wichtig. Immer wieder hatte er, privat und öffentlich, davon gesprochen, dass er einst ein überzeugter Nazi gewesen, bis zuletzt an den Endsieg geglaubt, noch in der Gefangenschaft die Nachrichten von den Nazi-Gräueln als Feindpropaganda abgetan habe. Nichts von dem, was ich nun las, war dazu angetan, das Bild, das ich mir von dem Autor und Menschen Günter Grass gemacht hatte, grundsätzlich zu verändern. Skandalöses konnte ich an dem Buch nicht entdecken.

Offenbar war es 600 anderen Lesern der Vorabexemplare, darunter nicht wenigen Feuilletonjournalisten, ähnlich gegangen. Aber dann gab Günter Grass der FAZ ein Interview, und Frank Schirrmacher bauschte zwei eher beiläufige Sätze aus einem langen Gespräch zu einer sensationellen Enthüllung auf: »Grass war Mitglied der Waffen-SS«.

»Dabei hatte er immer wieder davon gesprochen, dass er einst ein überzeugter Nazi gewesen sei.«

Was folgte, war ein Lehrstück über den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Jeder, der, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Autor noch eine Rechnung offen hatte oder glaubte sich auf seine Kosten in Szene setzen zu können, empörte sich öffentlich über den Sündenfall des 17-Jährigen oder ersatzweise darüber, dass Grass ihn nicht schon früher gebeichtet habe. Nun habe der »Moralapostel« endgültig jede Glaubwürdigkeit verloren, verlautete es aus der CDU-Zentrale, Henryk M. Broder dekretierte im Spiegel: »Grass ist erledigt« und der Kritiker Helmut Karasek verstieg sich sogar zu der Forderung, Grass müsse nach dieser Enthüllung den Nobelpreis zurückgeben.

»Die vorherrschende Form des Skandals«, schrieb Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung, als die Erregung nach zwei, drei bewegten Wochen abebbte, »ist … wenig erkenntnisfreundlich. Sie dient der Logik des Verdachts, dass hinter dem Sichtbaren Ungeheures sich verberge oder vorbereite.« Und in der Tat blieb von der ganzen Affäre nicht viel mehr als die Einsicht, die allerdings nicht neu ist, dass solche und ähnliche Erregungen vor allem der Selbsterhöhung der Empörten auf Kosten anderer dienen, dass es bei den meisten Wortmeldungen vor allem darum geht, sich im Konkurrenzkampf um Medienpräsenz und Publikumsgunst einen Vorteil zu verschaffen. Nur eine Handvoll Historiker versuchte die erregte Öffentlichkeit dazu zu bewegen, die historischen Fakten zur Kenntnis zu nehmen. Allerdings mit mäßigem Erfolg. Denn nicht wie es war, interessierte die meisten Akteure dieses Mediendramas, sondern wie man aus der Sache auf die eine oder andere Weise Profit schlagen könne.

Altersmilder Sturkopf

Eine Zäsur? Günter Grass schrieb weiter, Buch um Buch, er mischte sich in die politischen Kontroversen ein, nicht immer so treffend, wie ich es mir gewünscht hätte. Das Gedicht Was gesagt werden muss wäre nach meiner Meinung besser so nicht geschrieben worden. Aber dass manche seiner altgedienten Feinde ihn deshalb zum Antisemiten, oder ersatzweise zum »strukturellen« oder »sekundären« Antisemiten abstempelten, empörte auch mich. Moshe Zuckermann und Uri Avneri meldeten sich aus Israel, um ein wenig Vernunft in die aufgeregte deutsche Diskussion zu bringen. Alles, was Grass in dem Gedicht an der israelischen Politik kritisiere, sei, so oder noch schärfer formuliert, schon hundertmal in Israel selbst geäußert worden, schrieb Moshe Zuckermann.

Das Feuilleton schrieb ihn ab, er schrieb weiter, Buch um Buch.

Als die schrillsten Töne verklungen waren, verlegte sich ein Teil des deutschen Feuilletons wieder einmal darauf, den Autor Günter Grass abzuschreiben: verkalkt sei er, habe nichts mehr zu sagen. Aber dann erschien der Roman Grimms Wörter, der das Gerede von der literarischen Erschöpfung des Autors der Blechtrommel widerlegte.

Er zeigt sich bis zur Selbstentblößung als zahnloser Narr.

Und 2015 posthum noch das schöne, traurige Abschiedsbuch Vonne Endlichkait. »Es ist eines von Grass’ persönlichsten Büchern«, schreibt Harro Zimmermann am Schluss seiner bewegenden Biographie des Autors, »die Abschiedsgabe des letzten Literaturnobelpreisträgers im 20. Jahrhundert. Der Künstler zeigt sich bis zur Selbstentblößung als zahnloser Narr in allen Nöten des inkonsequenten Rechthabers und erfreulich altersmilden Sturkopfs, des »körperlichen Verfalls, in wehmütigen Erinnerungen an ein langes Leben und Arbeiten, in seiner Lust an den Geschenken der Natur, im schwächelnden und doch heiteren Vergnügen an Erotik, Essen und Trinken, ja, an den Sinn- und Formspielereien auf jungfräulichem Papier.« Und Dieter Stolz fügt hinzu: »Ja, er fehlt: der früh geprägte, sich lebenslang an seinen Traumata abarbeitende, bisweilen inkonsequente Rechthaber und erfreulich altersmilde Sturkopf.«

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