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© picture alliance / Bernd Jürgens/Shotshop | Bernd Jürgens

25 Gedanken über Beschaffenheit, Reflexe und Reflexionen Weiche Schale, harter Kern?

1. Warum bist du so hart zu dir?, fragt mich mein Freund, während wir den alten Weg gehen. Von der Schule über den Sportplatz in den Wald, hoch zum Grab meiner Eltern, den Rodelberg hinunter und zurück. Ich bin im Rahmen einer Lesung zu Besuch in Hamburg. Wir gehen durch den Wald, vorbei am Golfplatz, den wir als Jugendliche einmal moderat verwüstet hatten, als wir auf Randalierertour im Villenviertel unterwegs waren. Die Zerstörung, das weiß ich heute, hatte mehrere Funktionen: antikapitalistische Geste, Härte zeigen, Männlichkeitsvalidierung.

2. Er sagt, dass ich hart zu mir sei, weil er auf meiner Lesung war. In einer Buchhandlung las ich aus meinem essayistischen Roman über Prägung und Männlichkeitsbilder. Ich sprach davon, wie ich der Mann wurde, der ich bin, und inwiefern das Aufwachsen im Patriarchat Spuren in mir hinterlassen hat und meine Gedanken, Werte und Handlungen bis heute prägt. Ich versuche darin schonungslos ehrlich mit mir zu sein und die eigene Verstrickung ins Patriarchat zu benennen. Diese Benennung bezeichnet mein Freund als Härte.

»Gefühlskrüppel im Charakterpanzer« (Klaus Theweleit)

3. Harte Schale, weicher Kern ist eine bekannte Beschreibung für Männlichkeit. Schon 1977 veröffentlichte Klaus Theweleit seine Männerphantasien und beschrieb darin vor allem soldatische Männer als »Gefühlskrüppel im Charakterpanzer«. Hart wie Kruppstahl, boys don’t cry ­– eine Männlichkeit, die sich in Abgrenzung zu Weiblichkeit konstruiert, das Weibliche in sich töten muss. Doch diese Sorte Männer, schreibt Theweleit, »soll keineswegs prinzipiell von den übrigen Männern isoliert werden. Sie bildet vielmehr die Spitze eines Eisbergs von Patriarchalität; was unter der Oberfläche liegt, macht die Gewässer aber insgesamt kalt.«

4. »Alle sind weiblich. Und alle hassen es«, heißt es im Essay Females von Andrea Long Chu.

5. Als Kind konnte ich den herrschenden, auch an Jungs gestellten Männlichkeitsanforderungen nicht gerecht werden. Ich war zu klein, zu schwach und zu schüchtern, um in den Disziplinen traditioneller Männlichkeitsbilder Anerkennung zu erfahren: Dominanz in Wettkämpfen, Schulhofschlägereien, mit der Stimme den Raum beherrschen, innerhalb der Bezugsgruppe den Ton angeben. Es gelang mir nicht, diese Rolle einzunehmen.

Erinnerungen

6. Während wir den alten Weg entlanggehen, erinnere ich mich daran, wie R mir auf dem Sportplatz entgegenkommt und sagt: »Wenn wir wegen dir verlieren, reiß ich dir den Kopf ab«,

erinnere ich mich daran, wie wir auf dem Gymnasium im Ethikunterricht das Thema sexualisierte Gewalt besprechen und der Lehrer zu einem Mädchen, das gern kurze Röcke trägt, sagt, wer sich so anziehe, gehe auf die Straße, um vergewaltigt zu werden,

erinnere ich mich, wie wir auf dem Schulweg als Mutprobe Mercedessterne abbrechen, um sie an unsere Rucksäcke zu hängen,

erinnere ich mich daran, wie ich den Rodelberg runtersause, lachend, Schnee und Wind, und wie ich unbedingt schneller als mein Freund sein will.

7. Härte ist der Widerstand, den ein Stoffdem Drängen oder Eindringen eines anderen Körpers entgegensetzt. Sie wird getestet, indem die Tiefe des Eindrucks eines Körpers, der in den Stoff gedrückt wird, gemessen wird. Männlichkeit ist undurchdringbar. Andere Ideen, Positionen, Bedürfnisse hinterlassen kaum Eindruck.

8. In meiner Kindheit bildete ich andere Qualitäten aus: erahnen, was andere benötigen, zuhören, kommunizieren. Es war ein Reflex, eine unwillkürliche, rasche Reaktion auf einen bestimmten Reiz, eine Anpassung an Lebensbedingungen. Auch eine unreflektierte Notwendigkeit, um Anerkennung zu erfahren?

»Wann ist der Mann ein Mann?« (Herbert Grönemeyer)

9. Bei fast allen Lesungen, Talkrunden und Interviews zu meinem Buch erwähnte jemand Herbert Grönemeyers 40 Jahre alte Frage aus dem Song Männer: »Wann ist ein Mann ein Mann?« Darin beschreibt Grönemeyer Männern zugeschriebene Eigenschaften. Diese entsprechen zum Teil dem Machoklischee eines harten Kerls (Männer […] führen Kriege, haben Muskeln, sind furchtbar stark, kriegen ’nen Herzinfarkt) und zum anderen denen eines in den 80er Jahren im Zuge der Männerbewegung identifizierten neuen, weicheren Männertypus (Männer nehmen in den Arm, weinen heimlich, sind verletzlich): der Softie. Im Refrain verbinden sich die Geschlechterbilder im Sinne eines psychologischen Kern-Schalen-Modells: »Außen hart und innen ganz weich.«

10. Heute ist ein nur auf Dominanz ausgerichtetes Männlichkeitsbild längst aufgeweicht. Softskills gehören zum guten Ton, selbst unter den Hardlinern. Denn eine antiquierte, gewaltvolle Männlichkeit schadet letztlich der Gewinnmaximierung in neoliberalen Arbeitszusammenhängen. Doch wenn diese neuen neuen Männer ihrer patriarchalen Prägung durch toxische Männlichkeit nur ein oberflächlich arbeitendes Antivirusprogramm entgegensetzen, um die eigene Leistungsfähigkeit zu steigern, ist das noch lange keine feministische Bewegung.

Gefälligkeitstheater der Aufmerksamkeitsökonomie

11. Eines der in den vergangenen Monaten in Bezug auf Männlichkeitsperformances am stärksten kritisierten Symbole ist der Nagellack. Der lackierte Nagel soll eine weichere, selbstkritische Männlichkeit zum Ausdruck bringen, eine Offenheit für queere Themen, eine Solidaritätsbekundung für feministische Kämpfe. Doch vielen erscheint er wie eine opportune Abkürzung, denn die dargestellte Weichheit verdeckt männliche Prägungen, wenn sie nur reflexartig motiviert ist, um im Gefälligkeitstheater der Aufmerksamkeitsökonomie sozialer Netzwerke zu bestehen.

12. Kim Posster schreibt in seinem Essay Männlichkeit verraten!: »Die kritische Auseinandersetzung mit Männlichkeit durch (cis) Männer neigt dazu, den Stachel feministischer Kritik in einen neuen Panzer der (eigenen) Männlichkeit zu verwandeln.«

13. Während ich an diesem Text schreibe, wird auf dem Instagram-Kanal Femizide stoppen der 112. Femizid binnen eines Jahres in Deutschland dokumentiert. Im Post heißt es: »31.12.2023 in Berlin-Hellersdorf: Eine 59-jährige Frau wurde von ihrem Ehemann (71) getötet. Femizide sind die höchste Form patriarchaler Gewalt. Jeden Tag erleben unzählige Frauen in Deutschland Gewalt aufgrund ihres Geschlechts. Diese beginnt bei sexistischen Witzen, geht über Belästigung bis hin zu häuslicher Gewalt und sogar Mord.«

Strukturelle Abhängigkeitsverhältnisse begünstigen Gewalt gegen Frauen.

14. In den letzten Monaten war ich auf Lesungen der Autor*innen und Jurist*innen Asha Hedayati und Christina Clemm. Beide haben vor kurzem Bücher zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen veröffentlicht. In ihrer aktivistischen Arbeit, als Anwältinnen, in den Büchern sowie auf Instagram beziehen sie sich vor allem auf genderbasierte Gewalt in Beziehungen. Es wird klar: Gewaltvolle Männlichkeitsbilder, die auf Überlegenheit basieren, sind ein Teil des Problems. Ein anderer Teil: die institutionalisierte Gutheißung der Gewalt. Gender pay gap, Ehegattensplitting und viele weitere Gesetze begünstigen die Gewalt gegen Frauen, da diese häufig in strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen leben.

15. Die Autorin Susanne Kaiser schreibt in ihrem aktuellen Buch von einem gewaltigen antifeministischen Backlash der Gegenwart. Gewalt und Macht hängen zusammen, sie sind nie ohne einander zu finden. Gewalt stellt Machtverhältnisse her, unterscheidet, hierarchisiert. Die Abwehr des Weiblichen, des Queeren und Nonbinären ist mehr als eine symbolische Handlung, sie schlägt sich in der Realität nieder, in der allein in Deutschland jedes Jahr über 100 Frauen durch geschlechtsspezifische Gewalt getötet werden. Ungeachtet dessen, ob sich Lars Eidinger die Fingernägel lackiert oder nicht.

»Die Engführung von Debatten auf die Symbole ist selten langfristig produktiv.«

16. Doch ist es richtig, lackierte Nägel bei Männern nun als ein Symbol für die gescheiterte Reflexion kritischer Männlichkeiten zu deuten? Es ist nur Nagellack. Die Engführung von Debatten auf die Symbole ist selten langfristig produktiv. Ich möchte nicht die eine Haltung gegenüber der anderen Haltung abwerten und mich auch nicht über andere Meinungen innerhalb des feministischen Spektrums erheben. Meist kenne ich weder die innere Motivation, noch das private Begehren von Personen, die sich online äußern. Ich kenne auch nicht unbedingt ihren anvisierten Wirkungsbereich. Doch ich bin davon überzeugt, dass sich jede*r ernsthaft selbst befragen sollte: Warum möchte ich mich einer feministischen Bewegung anschließen, aus welchen Gründen möchte ich das Patriarchat abschaffen, und was habe ich selbst damit zu tun? Möchte ich aus echter Überzeugung an einer für alle Menschen gerechteren Gesellschaft mitarbeiten?

17. In ihrer Untersuchung über Boys & Sex hält Peggy Orenstein fest: »Im Alter von fünf oder sechs Jahren haben Jungs von ihren Altersgenossen gelernt: sich von Gefühlen zu distanzieren, Intimität zu meiden und hierarchisch in ihrem Verhalten zu werden.«

»Der innerste Kern jedes Menschseins ist Verletzbarkeit.«

18. Viele sich als profeministisch verstehende Männer werden solch einen Prozess durchlaufen haben: Der innerste Kern jedes Menschseins ist Verletzbarkeit, wir alle sind ultimativ abhängig von anderen Menschen, am Lebensanfang und an dessen Ende, alles dazwischen ist reine Glückssache.In sehr jungen Jahren entwickeln sich viele Kinder entlang der von der Mehrheitsgesellschaft geforderten Geschlechterbilder. Ein Junge verhüllt seine Verletzbarkeit mit Ges­ten, Gewohnheiten und Wesensarten, die ihn als unverletzbar zeigen. Da heute eine neue Weichheit von Männern gefordert wird, lässt man sich eine neue, weiche Hülle um die harte Männlichkeitshülle wachsen, ohne die patriarchale Prägung grundlegend reflektiert zu haben.

Eine weiche Hülle um eine harte Hülle um einen weichen Kern.

19. Nur ehrliche Reflexion kann den Willen zur Veränderung erzeugen. In The Will to Change – Über Männer, Männlichkeit und Liebe schreibt bell hooks davon, dass Männer ihre Reflexion in der Regel damit beginnen, »dass sie sich in ihre Kindheit zurückversetzen und auswerten, was sie über Männlichkeit gelernt haben (…) die Wurzeln des männlichen Unbehagens zu verstehen, hilft vielen Männern, den Schaden zu beheben.«

Die Kraft fluider Weichheit

20. Während ich mich mit meinem Freund über Weichheit und Härte unterhalte, erzählt er mir von einem Gedicht von Bertolt Brecht, das den Weg des Laotse beschreibt (Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration). Darin gibt es ein Sprachbild, das ihn fasziniert: »Dass das weiche Wasser in Bewegung / Mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt. / Du verstehst, das Harte unterliegt.« Ich stelle es mir vor, die harte Schicht um den weichen Kern, umhüllt von fluider Weichheit. Und ich wünsche mir, dass wir in Bewegung bleiben.

21. Im Wort Emotion steckt das Wort motion, Bewegung. Emotion benennt ein Gefühl, eine Gemütsbewegung und seelische Erregung. Je weicher ein Stoff ist, desto beweglicher ist er, flexibel, fluide.

22. Klaus Theweleit beschreibt das Weiche, die Wellen, die Flut, das Wasser als feindlichen Aggregatzustand der Männerphantasien.

23. Die Lyrikerin Anja Bachl postet ein Gedicht auf Instagram, darin heißt es:

»Ich habe mich nie / als Gegebenheit verstanden / sondern / als dehnbares Material«. Ihr Gedichtband heißt: weich werden

24. In einem Essay über die alltägliche Gewalt, die Kim de L’Horizon als nicht binäre, schreibende Person erfährt, heißt es: »Ich lebe irrlichternd, gerne, blumenwiesig, und ich lebe in Gefahr. Ich lebe, und leben heißt für mich, zu lernen.« Und einem der Aggressoren mit seiner harten Sprache begegnet de L’Horizon mit einem offenen: »Und was heißt [leben] für Sie?« (Lieber John Unbekannt, lieber Ueli Maurer, ihr habt mich geschlagen. Aber ich vergebe euch,Neue Zürcher Zeitung vom 19.10.2022)

25. Mein Freund und ich gehen noch lange, passieren den alten Weg unserer Jugend. Vorbei an der Schule, am Sportplatz, am Wald, am Grab meiner Eltern. Als ich seufze, bleibt er stehen. Legt seine Hand auf meine. Sie ist ganz warm, weich. Und dann bewegen wir uns wieder.

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