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100 Jahre Volkshochschulen und die Perspektiven der freien Erwachsenenbildung Weiterbildung – eine sozialdemokratische Mission

Als die Volkshochschulen in Deutschland im Februar 2019 ihr 100-jähriges Bestehen in der Frankfurter Paulskirche mit einer denkwürdigen Rede des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes feierten, war allen Kundigen klar, dass die Geschichte der Volkshochschulen nicht erst 1919 begonnen hatte. »Bildung macht frei« war beispielsweise das Motto von Joseph Meyer, einem der Revolutionäre von 1848, der dann später mit seinem Konversationslexikon in Erinnerung geblieben ist. Und das Leitmotiv des legendären Drechslermeisters, Arbeiterführers und sozialdemokratischen Parteivorsitzenden August Bebel lautete »Wissen ist Macht«, auch wenn er nicht Urheber dieser Formulierung war. Bereits 1866 hatte die von ihm und von Wilhelm Liebknecht angeführte Sächsische Volkspartei die »Herbeischaffung von Mitteln und Gründung von Anstalten zur Weiterbildung der der Volksschule Entwachsenen« in ihr Gründungsprogramm aufgenommen und auch in anderen frühen Dokumenten der sich entfaltenden Arbeiterbewegung finden sich weitreichende Forderungen zur »Volkserziehung« durch Bildung.

Damit wurde der Boden bereitet für die erfolgreiche Revolution von 1918 mit der 1919 folgenden Verabschiedung der Weimarer Verfassung. Demokratie, Frauenwahlrecht, Recht auf Grundschulbesuch und die Volkshochschulen sind markante Säulen dieser Verfassung, die bis in die Gegenwart hineinreichen. Im Artikel 148 Absatz 4 der Weimarer Verfassung findet sich der bemerkenswerte Satz: »Das Volksbildungswesen, einschließlich der Volkshochschulen, soll von Reich, Ländern und Gemeinden gefördert werden.« Es war ein besonderes politisches Terzett, dem es gelungen war, die Volkshochschulen so prominent abzusichern. Ländergesetze zogen nach. Die SPD-geführte Freie und Hansestadt Hamburg ging sogar so weit, das Hochschulwesen und das Volkshochschulwesen 1919 gemeinsam in einem Gesetz zu verankern. Diese Gesetze standen am Anfang einer großen Bewegung, die dann bald zu über 800 Neugründungen im damaligen Deutschen Reich führten. Die erwachende Demokratie erfüllte damit nicht nur auf allen Ebenen etwas, was die Menschen von sich aus wollten, sondern setzte etwas um, was ihr selbst zugutekam, nämlich Demokratie mit Bildung zusammenzubringen und damit zum Leben zu erwecken.

Bedeutende Sozialdemokraten standen hierfür bereit: Gustav Radbruch etwa, der große Rechtsgelehrte, SPD-Reichstagsabgeordnete und Reichsminister der Justiz, gründete 1991 in Kiel zusammen mit seinem Professorenkollegen Hermann Heller die Volkshochschule. Adolf Reichwein, der von den Widerständlern des 20. Juli 1944 für den Aufbau eines neuen demokratischen Volksbildungswesens nach Ende des Nationalsozialismus vorgesehen war und dafür zum Tode verurteilt wurde, hatte sein Pädagogenleben aus Leidenschaft in der Thüringer Volkshochschularbeit und als Leiter der VHS Jena begonnen. Oder Dieter Sauberzweig, Kommunalvertreter, Professor und Kultursenator im geteilten Berlin, war gleichzeitig 14 Jahre lang Präsident des Deutschen Volkshochschulverbandes. Diese Persönlichkeiten stehen beispielhaft für viele sozialdemokratisch geprägte und die Sozialdemokratie prägende Erwachsenenbildner in der ersten und zweiten deutschen Demokratie.

Nach der Befreiung durch die Alliierten am 8. Mai 1945 waren die Volkshochschulen sofort wieder beim Aufbau von Demokratie und Bildungssystem dabei. Die Menschen waren nach dem Grauen von Krieg und Faschismus in aller schnöden Alltäglichkeit und existenziellen Zerbrechlichkeit zugleich ebenso freiheits- wie bildungshungrig. Die Volkshochschulen nahmen unter widrigen Umständen wieder ihren bedeutenden Platz in den Kommunen ein, stärker denn je zuvor, und dokumentierten einmal mehr: Wo Demokratie ist, gedeiht Volkshochschule. Und wo Volkshochschule wirken kann, wächst auch die Demokratie. Es geht um den freien, den gleichen, den aufgeklärten, den verantwortlichen Menschen. Die Volkshochschulen verstehen sich deshalb als selbstbewusste und kämpferische Verteidigerinnen von Demokratie. Sie müssen Lernorte der Demokratie sein und heute mehr denn je Orte von Vielfalt und Zusammenhalt, von Lokalität und Weltoffenheit.

Bildung in öffentlicher Verantwortung

»Die Volkshochschulen haben in ihrer wechselvollen Geschichte gelernt, dass sich mit veränderten Lebensbedingungen, mit neuen Anforderungen und Möglichkeiten auch die Bildungsbedürfnisse der Menschen ändern. Dem werden sie gerecht, indem sie diese aufnehmen und sich nicht verweigern, auch sich selbst zu verändern.« So heißt es in der gemeinsamen Standortbestimmung, die von den Volkshochschulen (VHS) auf ihrem XIII. Deutschen Volkshochschultag in Berlin im Mai 2011 vorgestellt worden ist. Diese Wandlung spiegelt sich in einigen markanten Kennzahlen wider, die die Kraft der Volkshochschulidee und -praxis 100 Jahre nach ihrem politischen Durchbruch veranschaulichen. 895 VHS mit 2.883 Außenstellen sind deutschlandweit ortsnah vertreten. Dieses Netz bietet laut aktuellen Statistiken jährlich rund 8,8 Millionen Teilnehmenden über 680.000 Veranstaltungen mit 18 Millionen Unterrichtsstunden an. Umgesetzt wird das Programm durch rund 200.000 neben- und freiberufliche Dozenten und rund 10.000 hauptberufliche Kräfte, als Leitungen, pädagogisches und Verwaltungspersonal. Die Finanzierung wird zu 35 % durch Teilnahmegebühren, zu 35 % durch öffentliche Zuschüsse und zu 30 % durch andere Einnahmen gedeckt. Das gesamte Finanzvolumen der Volkshochschulen liegt bei immerhin rund 1,2 Milliarden Euro im Jahr.

Wo die Erwachsenenbildung laut Nationalem Bildungsbericht hinsichtlich Teilnehmenden, Einrichtungen und Beschäftigten mittlerweile zum größten Bildungsbereich geworden ist, sind die Volkshochschulen wiederum im Bereich der Weiterbildung ganz vorne zu finden. Das sollte die Sozialdemokratie 100 Jahre danach durchaus mit Stolz und Freude erfüllen, ohne die bildungsbürgerlichen Wurzeln und Anteile an dieser großen Bildungsbewegung ignorieren zu wollen.

Die Volkshochschulen sind verlässliche Partner für ein umfassendes Angebot in allen Teilen des Landes. Sie sind lebendige Begegnungsorte, die so dem Auseinanderdriften der Gesellschaft entgegenwirken. Hierfür steht beispielhaft die großartige und einmalige Leistung der Volkshochschulen bei der Sprachförderung und der Integration der vielen Flüchtlinge und Migranten. Volkshochschulen schaffen Räume für Teilhabe und Demokratie und moderieren und gestalten gesellschaftliche Veränderungen. Sie sprechen breite Bevölkerungsschichten für Weiterbildung an und gewinnen gleichzeitig Bildungsbenachteiligte für nachholende Grundbildung. Das alles geschieht in kommunaler Verantwortung und ist dazu erschwinglich für die Teilnehmenden.

Was sich hier als Erfolgsgeschichte darstellt, muss gleichwohl immer wieder mit der Zeit gehen und – besser noch – zukünftige Bildungsbedürfnisse und -erfordernisse so antizipieren, dass das Netz dieser kommunalen gemeinwohlorientierten Einrichtungen nicht zerrissen wird. Neue Herausforderungen ergeben sich durch die flexiblen weniger traditionsgebundenen Lebens- und Bildungswege der jungen Generationen, den Wunsch vieler nach zeitlicher Ungebundenheit, die neuen Medien und die damit verbundenen Veränderungen durch die Digitalisierung in der Arbeits- und Freizeitwelt. Strukturveränderungen beim Personal und die wachsende Konkurrenz mit anderen nicht-gemeinnützigen Bildungsträgern kommen hinzu.

Weiterbildung als gesellschaftliche Chance

Trotz der Risiken lassen sich große Chancen erkennen, wenn beispielsweise die wachsenden berufsfreien Zeiten für Bildungsteilhabe gewonnen werden können und die neuen erweiterten Lernwelten alle Generationen noch besser zeitlich wie räumlich erreichen und sich selbstbestimmt in deren Bildungsleben integrieren lassen. Aus der Wissenschaft wissen wir um die Zusammenhänge von Einsamkeit, Gesundheit und Alter. Wo die Menschen früher nach dem Berufsleben nur wenige Jahre Lebenserwartung hatten, dürfen sie heute noch mehrere hoffentlich gesunde Lebensjahrzehnte erwarten. Die allgemeine Weiterbildung im Sozialraum Volkshochschule kann hier zur wichtigen Brücke für den Anschluss an neue Technologien, moderne Lebenswelten und den politisch-gesellschaftlichen Wandel werden. Teilhabe über Bildung ist hier das Leitmotiv, nicht nur mit Blick auf den demografischen Wandel. Auch die Mobilität im grenzenlosen Europa und die Migrationsbewegungen verlangen nach mehr integrativer Bildung. Die Volkshochschulen als Orte der Bildung und Begegnung bieten hier gute Anknüpfungspunkte für nachhaltige Teilhabe über die ersten Einstiegsschritte in die Landessprache hinaus.

Deshalb darf das positive Mantra von der Bildungsgesellschaft der Zukunft auch nicht auf den Erwerb und Erhalt von beruflichen Kompetenzen und Qualifikationen über eine berufliche orientierte Qualifizierungsstrategie verengt oder gar unter dem Druck des Fachkräftediskurses darauf reduziert werden. Die allgemeine Erwachsenenbildung muss hier ihre eigene Qualität und ihr eigenes Recht als freie Erwachsenenbildung behalten. Während sich die berufliche Fort- und Weiterbildung wesentlich vom Beruf her ableitet, stellt die freie Erwachsenenbildung die Entwicklung der Persönlichkeit des einzelnen Menschen und die Förderung von dessen Weiterbildungslust und Lebensqualität in den Mittelpunkt. Dieser Faktor der freien, nicht formalen Bildungsauswahl kann als Kontrasterlebnis zu den formalisierten Bildungserfahrungen in Schule, Berufsausbildung und Studium gar nicht hoch genug bewertet werden. Dass hier dann auch ein Transfer der persönlich erfahrenen Weiterbildungsfähigkeit in den beruflichen Bereich hinein stattfinden kann, soll als bedeutsamer Nebeneffekt nicht verschwiegen werden.

Vor allem steckt hier viel Potenzial für eine moderne, auf Aktualität und Kontext bezogene politische Bildung. Volkshochschulen können und müssen sich von Lernorten der Demokratie zu Laboratorien der Demokratie entwickeln. Sie können Treffpunkte des fairen und zivilisierten Streits werden, der »Aufklärung ohne Phrasen«, wie Theodor W. Adorno den Volkshochschulen schon 1956 voller Sympathie ins Pflichtenheft geschrieben hat. Der Beutelsbacher Konsens von 1976, politische Bildung mit Teilnehmerorientierung, mit Gegensätzlichkeit und dem Verzicht auf jede Indoktrination, aber gleichzeitig mit Werten und Haltungen zu organisieren, gewinnt angesichts von politischen Echokammern, neuem Dogmatismus bis hin zur Wissenschaftsfeindlichkeit und Demokratieverachtung eine ganz neue Bedeutung.

Wir brauchen mehr Anstand und Zivilität im politischen Diskurs, um vorurteilsfreie Neugierde, Respekt und Ambiguitätstoleranz wachsen zu lassen. Die nämlich werden in dem gesellschaftlichen Wandel der Zukunft dringend gebraucht, wenn die »Mutter der Volkshochschulen«, die Demokratie, nicht unter die Räder kommen soll. Die Sozialdemokratie ist groß geworden als Partei der Chancengleichheit und der Gerechtigkeit, als Partei der Arbeit und der Bildung. Sie orientiert sich in ihrem Menschenbild am Humanismus und der Aufklärung. Der Kampf um die freie und allgemeine Weiterbildung ein ganzes Leben lang – vor mehr als 100 Jahren erfolgreich geführt – ist ein sozialdemokratisches Vermächtnis, dessen Pflege für die Zukunft zur sozialdemokratischen Mission werden sollte.

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