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Klärungsversuch für einen vertrackten Begriff Welcher Kapitalismus?

Gäbe es für die Mehrdeutigkeit politischer Schlüsselbegriffe ein Messverfahren, dann wäre der »Kapitalismus« ein aussichtsreicher Kandidat für einen Spitzenplatz. Schon bei Marx selbst, der den Begriff zwar nicht erfunden, aber mit einer oft fließenden Verschiebung seiner Bedeutungsakzente ausgiebig gebraucht hat, ist oft nicht ganz klar, wovon gerade genau gesprochen wird.

Zumindest drei Verwendungszusammenhänge lassen sich unterscheiden: Kapitalismus als ein sozialökonomisches Funktionsprinzip (Logik), als Typ einer Wirtschaftsordnung (beziehungsweise einer ganzen Gesellschaftsordnung) und als Epoche der Wirtschafts- oder Weltgeschichte. Natürlich haben die drei Verwendungen viel miteinander zu tun, aber es bestehen auch bedeutende Unterschiede.

Die Schwierigkeiten des Begriffs beginnen damit, dass es die zentralen Elemente des zeitgenössischen Kapitalismus, von dem Marx spricht, wie Privateigentum an großen Produktionsmitteln, Kreditwesen, Marktstrukturen und sogar die Lohnarbeit, schon lange zuvor in der europäischen Geschichte gab. Und im Verlauf des 20. Jahrhunderts haben sich eine ganze Reihe von Systemen der politischen Ökonomie in sehr unterschiedlichen Teilen der Welt herausgebildet, die mit geringerem oder größerem Recht als Bindestrich-Kapitalismus firmieren, wie etwa der Finanzmarktkapitalismus, der digitale Kapitalismus oder der soziale beziehungsweise Rheinische Kapitalismus. Schon das belegt, dass der Begriff trotz seiner Anfälligkeit für Missbrauch nicht aus dem Verkehr gezogen werden kann.

Nützlich für die Klärung ist, auf eine zentrale, unverwechselbare Bestimmung des Begriffs durch Marx selbst in einer kontroversen Situation zurückzugreifen. Dafür bietet sich die große innersozialistische Kontroverse um den Stellenwert des Achtstundentags im Kampf um die Überwindung des Kapitalismus an, weil sie einen unmittelbaren Handlungsbezug hatte.

Prinzip der sozialen Voraussicht und Rücksichtnahme

Marx war 1866 führender Funktionär der Internationalen Arbeiterassoziation und begründete seine leidenschaftliche Unterstützung für den Achtstundentag gegen dessen Gegner auf dem Genfer Kongress mit einer weitreichenden Unterscheidung. Der Behauptung, der Achtstundentag würde am Ende »den« Kapitalismus nur stärken und stabilisieren, trat er mit dem Argument entgegen, es gehe beim Achtstundentag im Kern vielmehr darum, das sozialistische »Prinzip der sozialen Voraussicht und Rücksichtnahme« für die Arbeiter gegen die »kapitalistische Logik der Ausbeutung der Arbeit« zur Geltung zu bringen.

Hier ist das »Kapitalistische« am Kapitalismus weder die Institution des Privateigentums oder des Marktes, sondern eine bestimme Logik ihrer Funktion. Diese Unterscheidung liegt ganz auf der Linie der reformerischen Ideen aus dem Kommunistischen Manifest, was die Arbeiterklasse als erstes tun muss, wenn sie die politische Macht erringt und durchzieht das ganze Werk von Marx bis hinein ins Kapital, auch wenn sie oft von der gegenteiligen Vorstellung eines »unvermeidlichen Zusammenbruchs« des Kapitalismus überdeckt wird.

»Nicht das Privateigentum an Produktionsmitteln macht das Wesen des Kapitalismus aus, sondern die Logik ihrer Verwendungsweise.«

Nicht das Privateigentum an Produktionsmitteln oder die makroökomische Marktsteuerung als solche, das hat er damit klargestellt, machen das Wesen des Kapitalismus aus, sondern eine bestimme Logik (ein Prinzip) ihrer Verwendungsweise. Das eigentlich Unterscheidende, das, was den Kapitalismus so problematisch macht, ist, wie der bedeutende Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi 1944, sozusagen als Kommentar zur finalen Krise des Kapitalismus, herausgearbeitet hat, etwas Anderes: Die verschiedenen Konstellationen von Markt und Privateigentum waren in allen früheren Gesellschaften in sanktionsbewährte sozialmoralische Normen und Institutionen »eingebettet«. Es ist erst ihre radikale Herauslösung aus dieser Einbettung im Prozess der »ursprünglichen Akkumulation« (Marx), aus der die historisch neue Formation des modernen Kapitalismus hervorgeht, deren Analyse und Kritik Marx’ Kapitalismustheorie gewidmet ist.

Erst wenn alle sozialen Markt- und Zunftordnungen sowie die Tradition der Gemeinschaftsgüter und der kommunalen Armenfürsorge ausgelöscht sind und eine große Klasse vollkommen eigentums- und rechtloser Lohnarbeiter, die keinen Schutz mehr haben und keine Bedingungen stellen können, in die Städte ziehen muss, entfalten die bereitstehenden Institutionen des großen Privateigentums, der Märkte, des formalen Rechts und was damit verbunden ist, den Kapitalismus, den Marx entlarvt. Er geißelt ihn zu Recht verbunden mit der Prognose, dass er historisch keinen Bestand haben kann. Eine solche völlige soziale »Ent-bettung« der Wirtschaft und der Arbeit, die es zuvor noch nie gegeben hatte, konnte nicht lange überdauern.

»Prinzip der sozial verantwortungslosen Ausbeutung der abhängigen Lohnarbeit.«

Sie ist es, die für Marx das Wesen des zeitgenössischen Kapitalismus ausmacht. Das Gegenteil zu ihr ist »Vergesellschaftung«. Dieser sozial »ent-bettete«, »entsozialisierte« Kapitalismus seiner Zeit war das Objekt seiner Erfahrung und Theoriebildung. Durch das in ihm vorherrschende Prinzip der sozial verantwortungslosen Ausbeutung der abhängigen Lohnarbeit und der ungeregelten Marktkräfte wirkte es in Marx’ Lebensspanne zugleich als ein »Wirtschaftssystem«, eine »Gesellschaftsordnung« und der Beginn einer »historischen Epoche«.

Das ursprüngliche marxsche Begriffsverständnis kann heute ungebrochen entscheidende Hilfe für das Verständnis des Schicksals des Kapitalismus leisten und eine Praxis anleiten, die weiß, wo angesetzt werden kann, um das Wesen des eigentlich »Kapitalistischen« am »Kapitalismus« zu überwinden, ohne pauschal dem Privateigentum und dem Markt an den Kragen zugehen.

Krisenanfälligkeit und Umbau

Die von Marx beschriebenen Ursachen der beständigen Krisenanfälligkeit des Kapitalismus, vor allem die Ausbeutung der Arbeit, die Ungleichheit und die Irrationalität der bloßem Marktsteuerung haben in großen Schüben tiefe Eingriffe des Staates in seine Verfassung und Wirkungsweise erforderlich gemacht. Der »Ur-Kapitalismus« (»Manchester-Kapitalismus«) musste immer wieder korrigiert, umgebaut und sogar transformiert werden, weil er wie Marx diagnostiziert hatte, nicht überlebensfähig war.

Diese Umbauarbeiten haben in anderthalb Jahrhunderten unter dem konstanten Druck alter und neuer Krisen zwei entgegengesetzte Ziele der Transformation des Kapitalismus verfolgt. Der »rechten« Richtung ging es darum, dem kapitalistischen Prinzip zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Das führte zum »Finanzkapitalismus«, »Finanzmarkt- oder Casinokapitalismus« und »digitalen Kapitalismus«.

Die »linke« Richtung zielte auf Wiedereinbettung des Gebrauchs der Produktionsmittel und der Märkte in wirkungsvolle soziale Verantwortung und Teilhabe. Das führte zu sehr unterschiedlichen Modellen des sozialen Kapitalismus wie das rheinische Modell, das skandinavische Modell und (ehedem) das jugoslawische Modell, alles Formen einer »funktionalen Vergesellschaftung« der Produktionsmittel.

Die Rolle von Aktiengesellschaften und Monopolen.

Die von dem »Austro-Marxisten« und Ökonomen Rudolf Hilferding verfasste Studie Das Finanzkapital erschien 1910 und wurde von ihrem Autor als Fortschreibung des marxschen Kapitals nach Maßgabe der neuesten Entwicklungen im realen zeitgenössischen Kapitalismus der Epoche zum Finanzkapitalismus verstanden und in der marxistischen Tradition auch so eingeordnet. Es galt in der sozialdemokratischen Welt als Band Vier des Kapitals, der die drei übrigen Bände organisch ergänzte und aktualisierte. Für Hilferding war die wachsende Rolle der Aktiengesellschaften und schließlich der Monopole ein wichtiger Schritt über den von Karl Marx im Kapital beschriebenen Kapitalismus der freien Konkurrenz hinaus hin zu einem monopolistischen Kapitalismus. Er sollte die Wirksamkeit durch Minimalisierung des Marktprinzips und Kooperation mit dem Staat absichern und ausweiten.

Der Kern des Neoliberalismus

Der Finanzmarkt- oder Kasino-Kapitalismus heutigen Typs, der Kern des Neoliberalismus, steht für eine Mutation des Kapitalismus, bei der die anonymen Finanzmärkte einen wachsenden Einfluss auf die Realökonomie ausüben. Er ist durch eine spezifische Neu-Konfiguration von alten und neuen ökonomischen Institutionen geprägt: die Aktienmärkte, die Investmentfonds (Eigentümer), Analysten und die von ihren jeweiligen Auftraggebern finanzierten Ratingagenturen sowie neuartige Transfermechanismen (etwa feindliche Übernahmen).

Das Zentrum der Steuerung im Finanzmarktkapitalismus bildet das Investitionsverhalten oft milliardenschwerer Investitionsfonds (Hedgefonds, Pensionsfonds) und die Aktienmärkte. Ausschließlich der Logik der Finanzmärkte unterworfen, zwingt dieser Kapitalismus die Staaten und Unternehmen zu immer kurzfristigeren Strategien der Profitmaximierung und Renditensteigerung auf Kosten von ökologischer und sozialer Umwelt, Betriebsbelegschaftsinteressen und sozialer Nachhaltigkeit der Unternehmenskultur.

Der digitale Kapitalismus ist noch im Entstehen begriffen. Was sich bereits abzeichnet ist die (rechte) Tendenz einer Verschärfung der sozialen Entbettung bei gleichzeitig scheinbarer Verbesserung der Chancen zur sozialen Nutzung und Einflussnahme. Er ist bislang vor allem durch neuartige Formen der Schaffung und Ausbeutung abhängiger Arbeit, Privatisierung von Märkten, Aneignung und kommerzielle Nutzung großflächig abgegriffener Nutzerdaten, Steuervermeidung durch manipulative Internationalisierung und Flucht der amerikanischen Großeigentümer (Silicon Valley) aus der politischen Verantwortung gekennzeichnet. Er wirkt bisher als eine Form der Verschärfung und der Tarnung der kapitalistischen Logik, der ihre soziale Kontrolle und Beschränkung durch die manipulativen Formen seiner Internationalisierung enorm erschwert.

»Die Negativfolgen veranlassten Gewerkschaften und soziale Demokraten zum Kampf für die Überwindung des kapitalistischen Systems.«

Sozialer Kapitalismus heißen im Gegensatz zu den vorausgegangenen jene Varianten, die den Gebrauch des Privateigentums (oder Staatseigentums) an Produktionsmitteln sowie die Funktionsbedingungen der Märkte durch »soziale (Wieder-)Einbettung« in den Rahmen gesellschaftlicher Verantwortung einbeziehen. Die skizzierten Negativfolgen für die Beschäftigten und die ganze Gesellschaft veranlassten Gewerkschaften und soziale Demokraten in fast allen Ländern mit kapitalistischem Wirtschaftssystem zum Kampf für die Überwindung dieses Systems, beginnend mit Reformen in den zentralen Lebensbereichen der Arbeiterklasse, voran Arbeitsrecht, Arbeitsverhältnisse und Löhne, Marktregulierung sowie soziale Sicherheit – also den Kernbereichen der sozialen Einbettung von Produktionsmitteleigentum und Marktwirtschaft.

Das Maß, in dem dies gelang ist von Gösta Esping-Andersen im internationalen Vergleich nach Graden der »Entmarktlichung« (De-Kommodifizierung) sozialer Güter bemessen worden, also danach, wie viele der lebenswichtigen Dienstleistungen und Güter zu sozialen Leistungen oder öffentlichen Gütern für alle geworden sind.

Varianten eines »eingebetteten Kapitalismus«

Das Ergebnis ist der in vielen europäischen Ländern realisierte oder angestrebte »soziale Kapitalismus«. Demzufolge unterscheidet Esping-Andersen in seinem paradigmatischen Standardwerk Three Worlds of Welfare Capitalism: das liberale (angelsächsische), das konservative (kontinentaleuropäische) und das sozialdemokratische (skandinavische) Modell, in dieser Reihenfolge unterschiedliche Varianten eines in sehr verschiedenem Maße gesellschaftlich teilweise wieder eingebetteten Kapitalismus.

Kennzeichnend für das »Rheinische Modell« etwa in der Bundesrepublik ist das weit über die rein sozialstaatliche Absicherung hinausgehende Mitbestimmungsmodell, das einen Schritt in Richtung Wirtschaftsdemokratie darstellt. Jüngst hat der britische Ökonom Paul Collier diesen Ansatz des Begriffs »sozialer Kapitalismus« systematisiert und weiter ausgebaut. Damit betreten wir freilich eine begriffliche Grauzone. Es ist zwar sinnvoll, so geprägte Gesellschaften nicht einfach »kapitalistisch« zu nennen. Eine funktional vergesellschaftete Wirtschaft verdient sicher eher »gemischt« genannt zu werden. Die Redewendung »den Kapitalismus als Ganzes« abschaffen führt in die Irre, weil die »kapitalistische« Funktionslogik der Ausbeutung der Arbeit auch ohne Privateigentum perfekt funktionieren kann, wie viele »staats-sozialistische« Beispiele gezeigt haben.

»Die Überwindung der kapitalistischen Logik bedarf eines ›funktionalen Sozialismus‹ (Gunnar Adler-Karlsson).«

Die Überwindung der kapitalistischen Logik bedarf einer Konzeption des »funktionalen Sozialismus« (Gunnar Adler-Karlsson) mit einer differenzierten Strategie der Vergesellschaftung der unterschiedlichen Verfügungsrechte über die Produktionsmittel durch diejenigen Repräsentanten gesellschaftlicher Interessen, die jeweils dafür am besten geeignet und legitimiert sind; bei der Arbeitszeit sind das Gewerkschaften und Gesetzgeber; bei der Ordnung der Arbeitsverhältnisse Betriebsräte und Gesetzgeber, bei der Festlegung der Unternehmenspolitik Betriebsräte, Gewerkschaften und der Staat, ebenso bei der Verteilung der Unternehmensgewinne auf Lohn, Nebenleistungen und Steuern

Karl Polanyi ging von einer doppelten Dynamik seines »Einbettungs-/Entbettunsgmodells« aus. Die beiden gegenläufigen Dynamiken der Selbstbehauptung und Ausweitung der kapitalistischen Marktlogik auf der einen Seite und ihrer sozialen Bändigung und Eindämmung durch Regulierung und Sozialpolitik auf der anderen Seite bleiben immer wirksam. Fortschritte bleiben irreversibel.

Die Kräfte der kapitalistischen Logik bleiben stets auf dem Sprung, um bei passender Gelegenheit oder der Erlahmung der gegnerischen sozialen Kräfte ihr verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Es gibt nie Garantien dafür, dass eine sozial schon weitgehend eingebettete Ökonomie ihre partielle Vergesellschaftung nicht wieder abwirft, wenn die Kräfteverhältnisse es zulassen, zumal in der Wettbewerbssituation einer globalisierten Ökonomie. Auch in dieser Hinsicht bleibt die Geschichte offen.

Kommentare (1)

  • Hans Luipold
    Hans Luipold
    am
    Zitat von Thomas Meyer: „Die Redewendung den Kapitalismus als Ganzes abzuschaffen, führt in die Irre, weil die Ausbeutung der Arbeit auch ohne Privateigentum perfekt funktionieren kann.“ Das sehe ich anders. Das Herzstück des Kapitalismus ist die Ausbeutung der Lohnarbeit durch die Verfügungsgewalt des Privateigentums.
    NUR weil es eine Ausbeutung ohne Verfügungsgewalt des Privateigentum im Ostblock gegeben hat, ist dieses Prinzip ja nicht aufgehoben. Herr Meyer hat weggelassen, das im Ostblock diese Verfügungsgewalt „die Partei“ übernommen hat.
    Da seiner Ansicht nach, Ausbeutung auch ohne Abschaffung des Privateigentums funktioniert, legt er uns nahe , dass die Abschaffung der Ausbeutung der Lohnarbeit, ohne die Abschaffung der privaten Verfügungsgewalt über die Lohnarbeit zu haben ist.

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