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Herfried Münklers Buch über Marx, Wagner und Nietzsche Welt im Umbruch

Für den britischen Historiker Eric Hobsbawm begann das 19. Jahrhundert bereits mit der Französischen Revolution und es endete für ihn erst 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs. Ein langes Jahrhundert! Eines, in dem sich die Verhältnisse stürmischer als je zuvor veränderten. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der sich vielfach mit Kriegen beschäftigt hat, zuletzt mit einem umfassenden Werk über den Dreißigjährigen Krieg, deutet die Situation im 19. Jahrhundert vor allem als eine »Welt im Umbruch«.

Ihn interessiert weniger, wer diese Welt im Umbruch politisch gelenkt hat, und er rückt deswegen nicht Metternich, Louis Bonaparte oder Bismarck in den Fokus, sondern widmet sich stattdessen drei Zeitgenossen, die nicht nur ihr eigenes 19. Jahrhundert, sondern vielleicht noch mehr das folgende 20. Jahrhundert beeinflusst haben: Karl Marx, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Der eine ein Journalist und Ökonom, der zweite ein Komponist und Dichter, der dritte ein Philosoph und Schriftsteller. Drei Beobachter und Kritiker ihrer Zeit mit großen Gemeinsamkeiten und noch größeren Unterschieden. Ihr Werk wurde maßgeblich durch die Vermittlung von »Erben« der Nachwelt überliefert und teilweise verfälscht. Im Fall von Marx durch Friedrich Engels, bei Wagner durch dessen Witwe Cosima; bei Friedrich Nietzsche war es vor allem dessen Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die im Verein mit Heinrich Köselitz für seinen Nachruhm stritt und seine Schriften manipulierte.

Nicht zuletzt ergaben sich immer wieder kurzfristige Überschneidungen, in denen sich die Biografien von Marx, Wagner und Nietzsche miteinander verwoben. Etwa während der Revolution von 1848/49, als Wagner, der königliche Hofkapellmeister, als gewaltbereiter Revolutionär auf den Dresdner Barrikaden stand, während Marx als Chefredakteur der Neuen Rheinischen Zeitung die Ereignisse journalistisch zu begleiten und zu beeinflussen versuchte. Doch nur kurz standen Marx und Wagner sich nahe, später wurde Wagner in den Augen von Marx zum »preußischen Staatsmusikanten«. Nietzsche wiederum wirkte 1876 zum Auftakt der Bayreuther Festspiele mit seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth noch als Lobredner Wagners, bevor er sich wenig später mit ihm überwarf und zum geistigen Antipoden wurde.

Alle drei, Marx, Wagner und Nietzsche, versuchten, sich auf ihr Jahrhundert einen Reim zu machen und mögliche Perspektiven auszuloten. Münkler versteht ihr Werk als permanente Auseinandersetzung mit den Unwägbarkeiten der Epoche und erinnert daran, dass die »intellektuelle Rückgewinnung« insbesondere von Wagner und Nietzsche durch Neuinszenierungen, Neuinterpretationen und Neueditionen im Wesentlichen ein gesamteuropäisches Projekt war.

Alle drei sprachen dem Opium zu, weniger als Rauschmittel, sondern vor allem, um ihre zahlreichen Krankheiten in Schach zu halten. Münkler widmet ihren chronischen Beschwerden ein ganzes Kapitel und bringt damit in Erinnerung, dass Krankheit damals der Normalfall und Gesundheit eher die Ausnahme war. Wagner litt an einer periodisch auftretenden Gesichtsrose, Marx an faustgroßen, eitrigen Geschwüren, sogenannten Karbunkeln, Nietzsche war ein chronisch Kranker, schon früh siech und leidend, ein Invalide, als Hochschullehrer vorzeitig in den Ruhestand versetzt wegen eines Augenleidens, das ihn dreiviertelblind machte, mit Flecken, Schleiern, Tränenfluss, die sich in Anfällen verstärkten und regelmäßige Arbeit unmöglich machten. Die Krankheit ließ ihn zum ewigen Wanderer werden auf der Suche nach einem milden Klima.

Mit seiner Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, worin er Wagner zum modernen Aischylos erhob, hatte Nietzsche den wichtigsten Beitrag zur intellektuellen Vorbereitung der Festspiele in Bayreuth geleistet, sich aber zugleich als junger Altphilologe in seiner Zunft unmöglich gemacht. Wagner dankte ihm anfangs die geistige Schützenhilfe, aber während der ersten Festspiele 1876 zeigte er sich, zumindest in Nietzsches Augen, nicht mehr zugewandt genug, was Nietzsche veranlasste, Bayreuth vorzeitig zu verlassen.

Richard Wagner war ein großer Schuldenmacher, was ihm später den zweifelhaften Namen eines »Pump-Genies« (Thomas Mann) einbrachte. Das änderte sich erst durch seine Berufung nach München durch den Bayernkönig Ludwig II., der Wagner bis zu dessen Tod 1883 üppig alimentierte. Auch Marx litt permanent unter Geldnöten, vor allem in den 1850er Jahren. Seine besten und wissenschaftlich produktivsten Jahre brachte er zu einem erheblichen Teil damit zu, seine Schulden in den Griff zu bekommen. Nietzsche hingegen gelang es weitgehend, als Privatier nach nur zehn Professoren-Dienstjahren mit seiner mageren Pension auszukommen: »Der Philosoph des Dionysischen«, schreibt Münkler, »führte ein ausgesprochen undionysisches Leben«.

Ein elementarer Unterschied: Während Marx »die Entzauberung der Welt« (Max Weber) als Voraussetzung der menschlichen Selbstbefreiung begriff, setzten Wagner und zeitweilig auch Nietzsche auf die Wiederverzauberung der Welt, auf die Erlösung durch die Kunstreligion.

Ausführlich untersucht Münkler das Verhältnis seiner Protagonisten zu den politischen Großereignissen ihrer Zeit: zu der gescheiterten Revolution von 1848/49, der anschließenden Konterrevolution, zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und zu der Rolle, die Bismarck dabei spielte. Zwar hatte Preußen zunächst behauptet, nur Krieg gegen Louis Bonaparte und nicht gegen das französische Volk zu führen, doch dann machte Preußen Frieden mit Napoleon III. und seinen Truppen und half, den Aufstand der Pariser Kommune niederzuschlagen.

So wenigstens sah Marx die Dinge. Der staatenlose Nietzsche hatte sich zunächst begeistert dem deutschen Militär als Sanitäter angeschlossen, aber mit untrüglichem Gespür für das Kommende warnte er mit Blick auf Bismarcks Reichsgründung vor der »Exstirpation [d. h. Ausrottung, M.S.] des deutschen Geistes zugunsten des ›deutschen Reiches‹«. Die Deutschen, schrieb er, hätten Europa durch ihren Nationalismus um seinen Sinn und in eine Sackgasse gebracht.

Wagners Antisemitismus

Ein zentrales Kapitel in Münklers Buch handelt von Richard Wagners Antisemitismus. Zwar hat auch Marx, der einer Trierer Rabbiner-Familie entstammte, gelegentlich mit antisemitischem Vokabular gegen Ferdinand Lassalle polemisiert, doch weder er noch Engels waren Antisemiten. Wagner dagegen steigerte seine Judenfeindschaft von den ersten Angriffen in der Schrift Das Judentum in der Musik bis zu wahren Verschwörungsobsessionen, wie sie in seinen sogenannten »Regenerationsschriften« zum Ausdruck kommen. Umstritten bleibt allerdings, inwieweit sich dieser Antisemitismus in seinem musikdramatischen Werk niederschlägt.

Adorno kam in seinem Versuch über Wagner zu dem Ergebnis, dass die Figuren Mimes und Alberichs im Ring des Nibelungen, des Beckmesser in den Meistersingern von Nürnberg und der Kundry im Parsifal antisemitische Stereotype aufweisen. Münkler hält dies eher für eine Frage der Perspektive: »Man kann davon ausgehen, dass vom späten Kaiserreich bis in die Nazizeit viele das Hässliche und Lächerliche der Wagnerschen Figuren mit den Juden assoziiert haben – aber zwingend war das nicht, solange die Inszenierung nicht mit dem Finger darauf hinwies. Inzwischen ist es eine Frage der historisch-kulturellen Bildung, ob man diese Assoziation hat oder nicht. Insofern könnte die Frage nach den Judenkarikaturen im Wagnerschen Werk als eine wesentlich akademische Frage erscheinen. Wie man sie beantwortet, ändert aber nichts an dem Eingeständnis, dass Wagner zu den bösartigsten Antisemiten in Deutschland zu rechnen ist.«

Nietzsche verachtete den Antisemitismus. Aus diesem Grund überwarf er sich zeitweise mit seiner Schwester Elisabeth nach deren Heirat mit dem Antisemiten Bernhard Förster. In Menschliches, Allzumenschliches analysierte er weitsichtig, erst durch den Nationalismus sei eine »Judenfrage« entstanden, und nun sei es üblich, »sie für alle möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen«. Für ein künftiges Europa seien die Juden ebenso brauchbar und erwünscht wie irgendein anderer nationaler Bestandteil. In einer seiner letzten, bereits nach seinem geistigen Zusammenbruch geschriebenen Mitteilungen steht der Satz: »Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen.«

Herfried Münkler hat in seinem Buch eine übergroße Fülle an Quellen, Beobachtungen und Überlegungen zusammengestellt, die es uns ermöglicht, auf diese »Welt im Umbruch« zurückzublicken und sie staunend zu besichtigen. Eine abgründige Lektüre.

Herfried Münkler: Marx, Wagner, Nietzsche – Welt im Umbruch. Rowohlt Berlin 2021, 720 S., 34 €.

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