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Über eine vertane Chance Welten der Sozialdemokratie

Ein Buch mit einem solchen Titel (The Three Worlds of Social Democracy) weckt sehr spezifische Erwartungen bei allen, die sich für die Themen, um die es dabei geht, interessieren. Große Erwartungen, denn jedes Mal, wenn in den letzten Jahren sozialwissenschaftliche Autoren auf dem Weg breit angelegter internationaler Vergleichsstudien zu dem Ergebnis unterschiedlicher »Welten« sozialdemokratischer Programmatik und Regierungspraxis gelangten, präsentierten sie Darstellungen und sorgfältige Begründungen verschiedener Modelle für die Lösung der klassischen Zentralfragen der politischen Ökonomie, welche die Diskussion bis heute prägen. Das hat bislang die Erkenntnis über Typen, Bandbreiten und damit auch Handlungsalternativen sozialdemokratischer Politik erheblich gefördert und im Hinblick auf die politische Praxis auch zahlreiche gut fundierte Hinweise darauf geliefert, worin die Defizite bestehen, aber auch worauf die Erfolge der verschiedenen Modelle gründen. Gerade die Vergleiche, die auch Beispiele des Gelingens vorführten, ermöglichten fundierte Kritik an den Defiziten sozialdemokratischer Politik

All diese Forschungen bewegten sich in einem Themenspektrum, das für das vorliegende Buch gleichfalls von ausschlaggebender Bedeutung sein sollte und ihm einige Maßstäbe hätte liefern können, an dem es sich in Form von Kritik, Weiterführung oder Variation hätte abarbeiten können. Die »Welten«, um die es dabei ging, bezogen sich auf die »Spielarten des Kapitalismus« (Varieties of Capitalism bei Peter A. Hall und David Soskice, 2000), auf »Varianten des Wohlfahrtskapitalismus« (bei Gøsta Esping-Andersen, 1990) und – unmittelbar in demselben Themenfokus wie das vorliegende Buch – auf die empirisch umfassend grundierte Konstruktion von drei Typen der Sozialdemokratie in der globalen Peripherie, mit Geltungsanspruch durchaus auch für die globalen Zentren (Richard Sandbrook et al., 2007)

Das alles hat die Forschung über das, was Sozialdemokratie heute ist und sein kann, wesentlich vorangebracht. Es hätte ein beträchtlicher Erkenntnisgewinn sowohl für die wissenschaftliche Forschung und die politische Debatte über die Lage der sozialen Demokratie in der heutigen Welt wie auch für die Bedingungen ihrer Erfolgschancen in der Zukunft werden können, wenn der Herausgeber beim Sortieren und Strukturieren der 13 disparaten Länderbeiträge, die er unter den Kapitelüberschriften »Heartlands«, »Peripheries« und »Regional Powers« aneinanderreiht, an den gehaltvollen sozialwissenschaftlich Modelbegriff »Welten« angeknüpft hätte, statt seine Länderbeispiele lediglich geografisch zu sortieren. Darauf verzichtet er aber so vollständig, dass keiner der oben genannten Texte, also der Stand der Forschung, in den Literaturverzeichnissen des Buches auch nur erwähnt wird. Es ist auch nicht zu erkennen, dass den Autoren der in Methode und Ausrichtung höchst disparaten Beiträge verbindende Fragen oder Bezüge vorgegeben waren, die wenigstens die Leser in die Lage versetzt hätten, selbst die Ähnlichkeiten und Unterschiede der Sozialdemokratie in den jeweiligen Ländern herauszufinden sowie über deren Gründe nachzusinnen. Auch die genannten Kapitelüberschriften hätten, da sie keine rein geografische Bedeutung haben, wenigstens im Nachhinein zu einer informativen Auswertung einladen können, doch auch da leider: Fehlanzeige

Richard Sandbrook aus Toronto und seine Forscherkollegen hatten in ihrem Werk über die Typen sozialer Demokratie in der globalen Peripherie Pionierarbeit geleistet, indem sie aus dem empirischen Material über die Politik der sozialen Demokratie aus fünf – wegen ihrer deutlichen Unterschiede sorgfältig ausgewählten – Länderbeispielen drei Typen sozialer Demokratie herausdestillierten, die weltweit anwendbare, detailliert beschriebene analytische Modelle repräsentieren: das »radikale«, das »klassische« und das des »Dritten Wegs«. Diese ähneln der von Wolfgang Merkel in der gegenwärtigen europäischen Sozialdemokratie identifizierten Triade des »modernisierten«, des »klassischen« und des »liberalisierten« Wegs. All diese Untersuchungen mit ihren empirisch fundierten Unterscheidungskriterien und deren Begründungen spielen im vorliegenden Buch indessen keinerlei Rolle. An die Stelle informativer Unterscheidungen und Erklärungen, sowohl der Einheit wie der Vielfalt der in den Kapiteln zumeist als kurzer historischer Abriss skizzierten Politiken der jeweiligen sozialdemokratischen Parteien, verfolgt der Herausgeber in den beiden von ihm selbst verfassten, die übrigen Kapitel einrahmenden Texten, eine äußerst schlichte dichotome Strategie. Sie packt letztlich alles, was im Namen der Sozialdemokratie in den letzten beiden Jahrzehnten wo auch immer auf der Welt betrieben worden ist – trotz einiger Unterscheidungen – in eine große Schublade und verwirft es ebenso entschlossen wie abschätzig. In einem rein voluntaristischen Verfahren, das suggeriert, überall habe schlicht der gute Wille gefehlt, werden alle Varianten sozialdemokratischer Politik als eine Art Abtrünnigkeit von ihren historischen Aufgaben, als »Versagen« vorgeführt. Das Bezugsmodell, das dieser Einschätzung zugrunde liegt, wird weder vorgestellt noch gerechtfertigt. Der genauere Blick auf die theoretisch-politischen Voraussetzungen des Herausgebers lässt aber an dieser Schlüsselfrage für das Verständnis des Buches nichts offen. Es lautet altmarxistisch simpel: Sozialdemokratisch im Sinne des Verfassers wären all die Welten der Sozialdemokratie einzig dann, wenn sie nicht mehr sozialdemokratisch wären: »Wie in allen anderen Teilen der Welt werden die Sozialdemokraten im Süden einsehen müssen, dass sie ihren Prinzipien nicht treu bleiben können. Sie werden ihre tatsächlichen und möglichen Wähler sowie ihre Mitglieder gerade in einer Zeit enttäuschen, da der Wunsch nach sozialem Schutz weiter zunimmt. Dennoch können die Grenzen der sozialen Demokratie Wege über die Sozialdemokratie hinaus eröffnen«. Nur eine Sozialdemokratie, welche die Sozialdemokratie überwindet, wäre folglich die »wahre«

Da in dieser Sicht nun aber auch die sich zaghaft abzeichnenden neuen sozialen Protestbewegungen in aller Welt als Alternativen für die eigentliche Mission der Überwindung des Kapitalismus nicht in Betracht kommen, bleibt nur die Orthodoxie der reinen marxistischen Lehre alter Schule. Was allein Abhilfe gegen die ganze sozialdemokratische Misere schaffen könnte, wären eine neue Organisation und ein neues Bewusstsein der Arbeiterklasse, damit sie ihrer Bestimmung gemäß endlich zum wirklichen »Totengräber des Kapitalismus« werden kann. Welches soziale Modell dann auf der Tagesordnung stünde, wird nicht verraten. Schade nur, dass dabei die lesenswerten Kapitel dieses Buches, wie etwa die über Rumänien und Großbritannien, fast untergehen, während andere, wie insbesondere das über Griechenland, im Wesentlichen nur Geist und Methode des Herausgebers widerspiegeln. Was die Leser aus einem solchen Buch dennoch mitnehmen können, ist die verblüffend massive Bestätigung der alten Erkenntnis, das nicht viel zu lernen ist, wo an die Stelle von Analyse, Verstehen und aus der verstandenen Situation entwickelter konkreter Kritik unausgewiesene Besserwisserei und empörtes Moralisieren tritt. Und es bleibt die Erkenntnis, dass die Einlösung des Programms, das dieses Buch verspricht, nämlich eine aktuelle Erklärung der Bedingungen, Erfolge und Misserfolge sozialdemokratischer Politik, ein Verständnis ihrer Möglichkeiten und Grenzen in verschiedenen Ländern, wo sie versucht wurde, und unter sehr verschiedenen Bedingungen, ein Desiderat der Forschung bleibt

Ingo Schmidt (Hg.): The Three Worlds of Social Democracy: A Global View (Tb). Pluto Press, London 2016, 288 S., 28 €.

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