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Was auf X geschieht, ist dabei kein Einzelfall. Auch bei TikTok und Instagram verschwimmen die Linien zwischen demokratischer Öffentlichkeit, wirtschaftlicher Verwertungslogik und politischer Instrumentalisierung. Die Versprechen der sozialen Medien klingen nach wie vor verheißungsvoll: Jede*r kann sich äußern, jede Stimme zählt, Teilhabe für alle. Demokratische Debattenkultur sollte gleichberechtigte und unverzerrte Teilhabe derjenigen an einem Diskurs bedeuten, die an ihm teilnehmen wollen – und zwar solange, wie sie dieses Recht auch für andere erhalten wollen.
Die sozialen Netzwerke haben die Torwächterfunktionen der klassischen Medien ins Wanken gebracht. Was einst Chefredaktionen auswählten, entscheidet heute ein Algorithmus. Ohne Medien als Gatekeeper haben sich die Möglichkeiten der Partizipation theoretisch erweitert. Menschen, die in klassischen Diskursräumen kaum Gehör fanden, erhalten eine Stimme: migrantische Communities, queere Aktivist*innen, Menschen mit Behinderung oder ohne akademische Ausbildung. In dieser Hinsicht sind soziale Medien ein demokratisches Versprechen. Aber: Demokratie ist mehr als das Nebeneinander von Stimmen. Sie lebt vom Austausch, von Differenz, von Deliberation. Hier offenbart sich eine fundamentale Schwäche der sozialen Medien. Die Algorithmen dieser Plattformen belohnen Aufmerksamkeit, nicht das Argument; Emotion, nicht Einsicht; Engagement, nicht Erkenntnis. So entstehen Diskursräume, die wenig mit demokratischer Debattenkultur zu tun haben.
Nutzer*innen versammeln sich nicht mehr auf einem gemeinsamen Marktplatz der Meinungen, sondern in fragmentierten, oft ideologisch homogenen »Bubbles«. Der Austausch über diese Grenzen hinweg wird selten. Das Missverständnis beginnt bei der Struktur: Soziale Medien suggerieren Pluralität, während sie allzu oft vor allem die eigene Meinung spiegeln. Algorithmen sind darauf ausgelegt, Nutzer*innen möglichst lange auf der Plattform zu halten. Dies geschieht oft durch die Priorisierung von Inhalten, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Denn: Der Zweck privater Plattformen ist für ihre Inhaber vor allem eines – Geld verdienen.
»Durch die Bildung von Echokammern wird der Austausch mit andersdenkenden Personen erschwert.«
Diese Dynamik fördert die Bildung von Echokammern, in denen Nutzer*innen hauptsächlich mit gleichgesinnten Meinungen konfrontiert werden. Der Austausch mit andersdenkenden Personen wird dadurch erschwert. Dies führt nicht nur zu sozialer Abschottung, sondern auch zu wachsender Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Besonders problematisch wird dies, wenn sich innerhalb dieser Bubbles radikale Narrative verfestigen. Inhalte, die Empörung oder Angst erzeugen, verbreiten sich rasanter als solche, die zur Auseinandersetzung mit anderen Ideen einladen. Das hat Konsequenzen für den politischen Diskurs. Wenn etwa Desinformation über Wahlen, Migration oder Klimapolitik gezielt gestreut und algorithmisch verstärkt wird, entsteht ein öffentlicher Raum, der von Fakten weitgehend entkoppelt ist.
Besonders bedenklich ist, dass Plattformen wie X, Instagram oder TikTok zunehmend Regeln aufweichen, die früher zumindest rudimentär die Integrität des Diskurses schützten. Bei Twitter wurden große Teile des Teams für Moderation und Faktenchecks entlassen. TikTok steht im Verdacht, kritische politische Inhalte zu unterdrücken. Meta hat angekündigt, künftig weniger Wert auf Faktenprüfung zu legen. Der digitale Raum entfernt sich immer weiter von demokratischen Standards. Doch ohne diese droht die gemeinsame Basis für ebenjenen gleichberechtigten Diskurs auf Augenhöhe zu schwinden.
Die Folgen dieser Meinungsökonomie sind deutlich sichtbar. In Deutschland verzeichnen rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien enorme Zuwächse in den sozialen Netzwerken. Die AfD nutzt TikTok gezielt für ihre Kampagnen, profitiert von der algorithmischen Sichtbarkeit und mobilisiert dort vor allem junge Nutzer*innen. Studien zeigen, dass soziale Medien für viele Menschen zur primären Informationsquelle geworden sind – oft ohne journalistische Einordnung. Das hat Auswirkungen auf das politische Klima: Polarisierung, Radikalisierung, Vertrauensverlust gegenüber Institutionen. Wenn der Diskurs sich weiter fragmentiert, droht die demokratische Kultur zu erodieren.
Besonders gefährlich ist, dass die Inhaber großer Plattformen beginnen, soziale Netzwerke verstärkt für ihre eigene politische Agenda zu missbrauchen. Deutlich zeigte sich das im vergangenen US-Wahlkampf, bei dem Elon Musk gezielt seine Plattform X nutzte, um Wahlkampf für Donald Trump zu machen. Eine Datenanalyse der Washington Post zeigte darüber hinaus, dass Republikaner vermehrt auf X viral gingen – während Demokraten kaum noch Reichweite erlangten. Und auch auf europäische Wahlen versuchte der reichste Mensch der Welt zuletzt Einfluss zu nehmen: Kanzler Olaf Scholz forderte er öffentlich zum Rücktritt auf, den reaktionären Nigel Farage lobte er hingegen auf seiner Plattform.
Die Idee eines freien, dezentralen, selbstorganisierten Internets hat der Realität der Plattformökonomie nicht standgehalten. Heute kontrollieren wenige Konzerne, was gesehen, geteilt und geglaubt wird. Die Betreiber sozialer Netzwerke sind zu den neuen Gatekeepern geworden – ohne redaktionelle Verantwortung, dafür mit wirtschaftlichem Eigeninteresse. Ihre Macht ist weder demokratisch legitimiert noch transparent. Und ihre Entscheidungen haben globale politische Auswirkungen. Die EU hat mit dem Digital Services Act (DSA) einen wichtigen Schritt gemacht. Er verpflichtet große Plattformen zu mehr Transparenz, zur Bekämpfung illegaler Inhalte und gibt mehr Möglichkeiten, Verstöße gegen die Richtlinien zu melden. Verstöße können mit empfindlichen Geldstrafen geahndet werden. Das Angebot der sozialen Netzwerke braucht wie jeder Markt Regeln und Regulierungen, um demokratischen Standards gerecht zu werden und langfristig nicht zu erodieren.
»Eine streitbare Öffentlichkeit braucht soziale Plattformen abseits der Reichweite von Techkonzernen.«
Deutschland und die EU sollten sich dabei nicht auf Selbstverpflichtungen verlassen. Es braucht verbindliche Regeln, durchsetzbare Sanktionen und eine digitale Öffentlichkeit, die sich nicht der Logik des Marktes, sondern einer partizipierenden Öffentlichkeit verpflichtet sieht. Doch das allein wird nicht reichen. Eine streitbare Öffentlichkeit braucht soziale Plattformen abseits der Reichweite von Techkonzernen. Gegenseitigen Austausch und einen pluralistischen Diskurs zu ermöglichen, darf nicht der Willkür von Milliardären überlassen werden. Das könnte
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