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In Deutschland fehlt immer noch die nötige Aufmerksamkeit für den Globalen Süden Wenig Interesse am Rest der Welt

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Es war in der Frühphase von Russlands Krieg gegen die Ukraine, als seriöse deutsche Nachrichtensendungen verkündeten, das russische Massaker an ukrainischen Zivilisten in Butscha habe »weltweit Entsetzen« ausgelöst. Das war eine Behauptung, die viel verrät über Deutschlands Blick auf die Welt.

Denn auch im April 2022 war schon erkennbar, dass der Westen mit seiner harten Verurteilung der völkerrechtswidrigen Invasion durch Moskaus Truppen weitgehend alleine stand. Für viele Menschen jenseits Europas, der USA, Japans oder Australiens waren die russischen Panzerkolonnen, die das Nachbarland überfielen, kein Grund zur Beunruhigung. Das »Entsetzen« war keineswegs weltweit verbreitet, es wurde nur in demokratischen, westlichen Industrienationen empfunden.

Viele Schwellenländer wie Indien, Südafrika oder Brasilien und andere Staaten des Globalen Südens dachten gar nicht daran, Russland auch nur rhetorisch zur Rechenschaft zu ziehen. Vielmehr warfen sie den Europäern und ihren US-Verbündeten vor, sich um Konflikte nur dann zu kümmern, wenn diese ausnahmsweise in ihrer eigenen Nachbarschaft aufbrechen.

Hat ›der Westen‹ doppelte Standards?

Und sie machten nicht etwa den Angreifer, sondern die Sanktionen des Westens verantwortlich für steigende Lebensmittel- und Energiepreise auf der Welt. »Nicht nur in der Ukraine gibt und gab es Gewalt, Tod und Zerstörung, aber das hat den Westen nicht gekümmert«, sagte Amrita Narlikar, die indischstämmige damalige Chefin des German Institute for Global and Area Studies (GIGA, früher Überseeinstitut) in Hamburg, und fügte im Interview mit dem Berliner Tagesspiegel hinzu: »Der Westen hat doppelte Standards.«

Zwar stimmten in der Vollversammlung der Vereinten Nationen im Februar 2022 141 Staaten für eine Resolution, die den Rückzug Russlands aus der Ukraine forderte. Doch aus diesem auf den ersten Blick eindrucksvollen diplomatischen Erfolg lässt sich nicht auf die Stimmung einer Mehrheit der Menschheit gegenüber dem imperialistischen Vorgehen Wladimir Putins schließen.

»Insgesamt leben zwei Drittel der Weltbevölkerung in Ländern, die sich entweder neutral oder Russland-freundlich zum Krieg in der Ukraine geäußert haben«, schreiben Johannes Plagemann und Henrik Maihack in ihrem bemerkenswerten und sehr anregenden Buch Wir sind nicht alle. Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens, das im vergangenen Jahr erschien und 2024 in die engere Auswahl für den Preis »Das Politische Buch« der Friedrich-Ebert-Stiftung kam.

Das neue Selbstbewusstsein des Globalen Südens

Die beiden Autoren untersuchen darin auch, welche Chancen das neue Selbstbewusstsein des Globalen Südens für die entwickelten Industriestaaten bereithält. China ging spätestens 2008, als die Weltfinanzkrise in seinen Augen die Schwäche des Westens und der USA enthüllte, auf Distanz zur liberalen Ordnung und schlug einen nationalistisch-autoritären und revisionistisch-imperialen Kurs ein. Gemeinsam mit dem nicht weniger nationalistischen und autoritären Russland fordert es seither den Westen heraus. Viele Länder des Globalen Süden und Schwellenländer wollen sich in diesem Weltkonflikt nicht eindeutig positionieren, sondern versuchen sich durch vielfältige Bindungen (»multi alignment«) eigene Freiräume zu schaffen.

Die Ignoranz, welche die beiden Autoren dem gesamten Westen zuschreiben, ist in Deutschland noch stärker ausgeprägt als bei anderen großen Verbündeten, und das hat Gründe. In den USA haben womöglich nicht die Einwohner der sogenannten »Fly-Over-States« in der Mitte des Landes die ganze Welt im Blick, wohl aber die Entscheidungsträger in Washington, und das aus strategischen Gründen: Um ihren Weltmachtstatus zu sichern, haben die USA eigenes Militär dauerhaft auf fast allen anderen Kontinenten stationiert.

In den ehemaligen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien mit ihrem teils ungebrochenen Verhältnis zur eigenen Geschichte haben zumindest Gebildete eine Art innere Weltkarte im Kopf, auf der sie Namen wie Khartum oder Phnom Penh sicher verorten können.

Vergessenes Kolonialkapitel

Auch Deutschland war bis zu seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg Kolonialmacht, wenn auch eine verspätete. Doch der Verzicht auf die besetzten Regionen im Versailler Vertrag 1919 und die Konzentration der Erinnerungskultur lange nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ließ das deutsche Kolonialkapitel weitgehend in Vergessenheit rücken.

»Die Deutschen verschrieben sich dem Glauben an das Ende der Geschichte in besonderem Maß.«

Schließlich richtete sich das Interesse der Deutschen nach dem unverhofften Glück der Wiedervereinigung vor allem auf das eigene Land und die Probleme beim Zusammenwachsen. Für die Überzeugung, wonach die liberale Ordnung sich nun weltweit durchsetzen werde und Kriege wohl für immer überwunden seien, prägte zwar mit Francis Fukuyama ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler den treffenden Begriff vom »Ende der Geschichte«. Die Deutschen aber verschrieben sich dem Glauben an das Ende der Geschichte nach dem Ende der Blockkonfrontation in besonderem Maß, wie der deutsche Diplomat Thomas Bagger, der heute Staatssekretär im Auswärtigen Amt ist, schon vor Jahren in einem Aufsatz für die Zeitschrift Washington Quarterly analysierte (»The World According to Germany: Reassessing 1989«). Für das eigene Land kam der Begriff »Zivilmacht« in Mode. Deshalb taten die Deutschen sich dann auch schwerer als andere Nationen, sich nach dem Beginn des russischen Landkriegs gegen die Ukraine von dieser Illusion zu verabschieden.

Dazu kommt die Eigenart vieler Bundesbürger, die eigenen moralischen Maßstäbe und Überzeugungen für absolut zu setzen. Viele Indizien deuten eher darauf hin, dass große Teile der deutschen Öffentlichkeit auch den fundamentalen Veränderungen der Weltordnung, vor allem dem neuen Selbstbewusstsein des Globalen Südens, weiter mit einer Mischung aus Selbstgewissheit und Realitätsverweigerung begegnen.

Jenseits der Zirkel von Außenpolitikexperten jedenfalls scheint das Interesse sehr gering an den Motiven von demokratischen Ländern wie Brasilien, Indien und Südafrika zu sein, die sich mit China (und Russland) zur Gruppe der BRICS zusammengeschlossen und seit Anfang des Jahres auch Ägypten, Äthiopien, Iran und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) aufgenommen haben. Argentinien und Saudi-Arabien erhielten ebenfalls eine Einladung. Argentiniens neuer Präsident Javier Milei lehnte eine Mitgliedschaft rundweg ab, Saudi-Arabien prüft noch, auch die Türkei erwägt einen Beitritt.

Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, ein weiteres Gremium, das westliche Macht begrenzen will, nimmt für sich in Anspruch, 40 Prozent der Weltbevölkerung zu vertreten. Der weltweit größten Regionalorganisation gehören die zumeist asiatischen Staaten China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan und Belarus an.

Sicher hat es vor allem mit wirtschaftlichen Motiven, womöglich aber auch mit mangelndem Interesse des Publikums zu tun, wenn wichtige deutsche Zeitungen die Zahl ihrer Auslandskorrespondenten kontinuierlich reduzieren. So ist auch bei national bedeutenden deutschen Medien meist ein einziger Berichterstatter für Afrika zuständig, einen Kontinent mit immerhin 54 Ländern und 1,5 Milliarden Einwohnern.

Historische Entwicklungen mögen dazu beigetragen haben, dass viele Deutsche Machtverschiebungen in der Welt kaum zur Kenntnis nehmen wollten – ein Grund, den Blick weiter abzuwenden vom neuen Selbstbewusstsein des Globalen Südens, welches die Dominanz der USA und Europas herausfordert, sind sie nicht. Vor allem nicht für ein Land, das sich wegen seiner starken Exporte in viele andere Staaten für besonders weltzugewandt hält.

An Mahnungen aus dem Globalen Süden fehlt es dabei nicht. So forderte Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar mit Blick auf den Ukraine-Krieg, die Europäer müssten endlich ihren Irrglauben ablegen, »Europas Probleme seien die Probleme der ganzen Welt«, denn es gelte: »Die Probleme der Welt sind nicht Europas Probleme.«

»Europäische Politiker gefielen sich lange darin, die EU zum Modell für die Welt zu erklären.«

Europäische Politiker gefielen sich lange darin, die Europäische Union (EU) zum Modell für die ganze Welt zu erklären. Inzwischen erkennen sie allmählich, dass immer weniger Länder sich an ihrem Beispiel orientieren wollen. »Ich bin erschüttert, wie sehr wir das Vertrauen des Globalen Südens verloren haben«, klagte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Anfang 2023 auf der Münchner Sicherheitskonferenz.

Ohne große öffentliche Resonanz haben der deutsche Kanzler Olaf Scholz und sein außenpolitischer Berater Jens Plötner aus dieser Erkenntnis heraus eine neue Strategie im Umgang mit dem Globalen Süden entwickelt: Scholz versucht, Schwellenländer und große Demokratien als Partner zu gewinnen, verzichtet gezielt auf Ermahnungen oder Belehrungen und nimmt auf deren eigene Sichtweise Rücksicht.

Auch deshalb hatte er zum G7-Gipfel in Elmau im Juni 2022 Indien, Indonesien, Südafrika, Senegal und Argentinien als Partner geladen. Das anspruchsvolle Ziel besteht auch darin, eine dauerhafte Bindung dieser Länder an China und Russland zu verhindern. Gemäß des Jaishankar-Satzes von den europäischen Problemen und denen der anderen versuchte er die Botschaft zu übermitteln, wonach sich die wirtschaftsstärksten Demokratien durchaus auch um die Nöte des Südens kümmern.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, dessen Amtszeit gerade zu Ende ging, berichtete im Mai bei einer Rede an der Universität Oxford: »Egal, wohin ich gehe, überall sehe ich mich mit dem Vorwurf der Doppelmoral konfrontiert.« Aktuell scheint in dieser Hinsicht der Umgang der westlichen Verbündeten mit Israels Kriegsführung vor allem im Gaza-Streifen und im Libanon die größte Belastung. »Die Glaubwürdigkeit des Westens hat Schaden genommen«, konstatierte in diesem Zusammenhang im September Wolfgang Ischinger, langjähriger Chef der Münchner Sicherheitskonferenz.

Doch die Einsicht, dass die Welt nicht auf deutsche oder westliche Ratschläge wartet, ist hierzulande noch wenig verbreitet. Dabei empfehlen so unterschiedliche Autoren wie der konservative Historiker Andreas Rödder und das Duo Johannes Plagemann/Henrik Maihack, das eher der Linken zuzuordnen scheint, ähnliche Rezepte.

Verzicht auf moralische Belehrung

Zu »Glaubwürdigkeit statt Überheblichkeit« rät Rödder in seinem gerade erschienenen Buch Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt. Eine kluge Außenpolitik wisse »um die Schädlichkeit ideologischer Selbstgewissheit, gleich ob ein amerikanischer Exzeptionalismus in Unilateralismus führt oder das deutsche Dogma der ›Zivilmacht‹ in Illusionen endet«.

Die Autoren von Wir sind nicht alle legen ebenso einen Verzicht auf moralische Belehrung der Partner im Globalen Süden durch die deutsche Politik nahe und plädieren für einen verständnisvollen, kompromissbereiten, wenn auch nicht wertelosen Umgang mit den neuen Ansprüchen.

Darin nämlich sehen sie auch Chancen. »Die Verteidigung der multilateralen Ordnung wird also auch vom Willen im Westen abhängen, schmerzhafte Forderungen nach Reformen aus dem Globalen Süden ernster zu nehmen und gemeinsam umzusetzen«, schreiben sie. Die Tugenden des Hinschauens, Wahrnehmens und Verstehens im Umgang mit der sich neu organisierenden Welt zu praktizieren liegt demnach vor allem in unserem eigenen Interesse.

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