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Kulturschaffende und der russische Angriffskrieg Wenn das Imperium zurückschlägt

Wie gehen aus der Ukraine, Belarus und Russland stammende deutschsprachige Autoren und Künstlerinnen mit dem fortdauernden Krieg um?

Das entscheidende Zeichen ist leicht zu übersehen. Mit einem dezenten Sternchen markiert Yevgeniy Breyger in seinem Langgedicht Aprillen den Eintritt der Zeitenwende. »Nach dieser Zeile bricht der Krieg aus«, heißt es dort lapidar. Das im jüngst erschienenen Band Frieden ohne Krieg veröffentlichte Langgedicht habe er zwei Wochen vor dem russischen Überfall auf die Ukraine angefangen, berichtet der 1989 in Charkiw geborene, vor Kurzem von Frankfurt am Main nach Wien gezogene Dichter.

»Am 24. Februar 2022 war ich bei einem Drittel des Gedichts«, erinnert sich Breyger. Nun stand er vor der Herausforderung, einen Umgang mit der dramatisch eskalierten Situation zu finden. Anfangs konsumierte er ununterbrochen Nachrichten, bis sie ihn überwältigten: »Irgendwann habe ich gemerkt: Ich kann es nicht.« Breyger suchte nach einer adäquaten Möglichkeit, mit der Lage fertigzuwerden – und fand sie in der Lyrik: »Die Gedichte waren für mich ein Weg, von den Nachrichten über den Krieg nicht aufgesogen zu werden.«

Gleichwohl thematisiert Yevgeniy Breyger in seinen Gedichten nicht das unmittelbare Kriegsgeschehen: »Eigentlich steht es mir nicht zu, über den Krieg zu schreiben, da ich kein ukrainischer Autor bin, der vor Ort ist, sondern ein deutschsprachiger Autor.« Daher habe er entschieden, vor allem über die deutsche Wahrnehmung des Krieges und über seine aus der Ukraine nach Magdeburg geflohenen Verwandten zu schreiben. Die für Breyger zentrale Frage ist dabei: »Was macht der Krieg mit mir?«

Mit dem Fortlauf des russischen Angriffskrieges finden sich nicht nur hierzulande viele Schriftstellerinnen, Dichter und Künstlerinnen tagtäglich mit dieser Frage konfrontiert. Wie ergeht es ihnen, insbesondere wenn sie eine enge biografische Verbindung zu den einst als »Brudervölker« geltenden Staaten Ukraine, Russland und Belarus mitbringen?

»Ich habe immer noch keinen Umgang mit der Kriegssituation gefunden«, bekennt Lena Gorelik. »Ich muss wirklich aufpassen, dass mir nicht die Tränen kommen.« Die 1981 in Leningrad (heute: St. Petersburg) geborene und seit 1992 in Deutschland lebende Schriftstellerin hadert damit, »auszuhalten, dass mir andere Kriege, die es permanent gibt, weniger nahe gehen«. »Aber es ist nun mal eine Region, zu der ich mehr Verbindung habe«, sagt sie.

»Ich habe immer noch keinen Umgang mit der Kriegssituation gefunden.« (Lena Gorelik)

In den ersten Tagen nach dem 24. Februar 2022 habe sie relativ viel geschrieben: »Weil ich das Gefühl hatte: Es muss raus.« Dann aber spürte Gorelik, dass es ihr gar nicht mehr möglich war zu schreiben: »Wer braucht schon Texte?« Stattdessen half sie den in München ankommenden ukrainischen Geflüchteten: »Ich mache das immer noch und habe auch ein paar Familien, die ich betreue.« Erst allmählich fand Lena Gorelik wieder zur Literatur, doch bis heute merkt sie: »Dieser Krieg findet Einzug in alles, was ich schreibe.«

»Ich schaffe es nicht, an der Welt vorbei zu schreiben«, unterstreicht Gorelik. So habe sie seit Kriegsbeginn keine Reisereportagen mehr verfasst, was sie zuvor gern gemacht habe: »Ich kann in der jetzigen Situation nicht über eine nette italienische Stadt erzählen. Das würde sich falsch anfühlen.« Vielmehr denkt sie stetig über die Rolle und Legitimation der Literatur nach: »Was darf ich gerade schreiben? Was steht mir zu?«

Gegen ein Boykott russischer Werke

Aufrufen, Werke russischer Schriftsteller wie Fjodor Dostojewski, Alexander Puschkin oder Lew Tolstoj als geistige Wegbereiter des Krieges zu boykottieren, steht sie indes skeptisch gegenüber: »Ich kann mit Verboten nichts anfangen – zumindest nicht mit Verboten von Texten, die sehr viele Jahrzehnte vor diesem Krieg entstanden sind.« Gleichwohl sei es wichtig, auch ältere literarische Texte einer kritischen Lektüre zu unterziehen: »Ich wünsche, die Auseinandersetzung würde nicht durch einen Krieg angestoßen, aber grundsätzlich ist es eine gesunde und wichtige Entwicklung, Texte mit neuen Augen und neuen Fragen zu lesen und zu hinterfragen.«

Wie viele andere russischsprachige Menschen zwang der Krieg auch Lena Gorelik, den alltäglichen Umgang mit ihrer Muttersprache zu überdenken: »Anfangs hatte ich eine große Hemmung, in der Öffentlichkeit Russisch zu sprechen.« »Wenn ich etwa auf einer Zugfahrt mit meinen Eltern telefoniert habe, hatte ich das Gefühl, ich müsste dem gesamten Zug vorher mitteilen, dass ich gegen Putin bin«, erzählt sie. Auch in dieser Frage plädiert Gorelik für einen differenzierten Blick: »Natürlich sehe ich den Punkt, dass das die Sprache ist, die gerade einen Krieg rechtfertigt und ermöglicht. Und trotzdem finde ich es schwierig, die Sprache als Ganzes in Geiselhaft zu nehmen, nichts an ihr übrig zu lassen.«

Der Krieg zwingt, über den Umgang mit der russischen Sprache nachzudenken.

Yevgeniy Breyger spricht nur noch mit seinen Eltern Russisch, »weil es unsere gemeinsame Sprache ist«. Mit seiner litauischen Schwiegermutter und mit Menschen aus der Ukraine ist für ihn ein unbefangener Austausch in russischer Sprache nicht mehr möglich. »Ich kenne viele russischsprachige Menschen, die sich auch geschämt haben, Russisch zu sprechen«, sagt Breyger. Er glaubt, dass viel Zeit vergehen wird, bis ein unbefangenes Russischsprechen wieder möglich sein wird: »Ich kann mir vorstellen, dass es Jahrzehnte dauert, nachdem der Krieg vorbei ist.«

»Man wird von der ukrainischen Seite damit konfrontiert, die koloniale russische Sprache nicht mehr zu nutzen«, beobachtet Marina Naprushkina. Die in Berlin lebende Künstlerin und Mitbegründerin des Flüchtlingshilfsprojekts »Neue Nachbarschaft / Moabit« ist in den 90er Jahren in Belarus aufgewachsen: »Es war ein Aufbruch. Ich hatte damals Schulunterricht auf Belarussisch.« Jedoch sei das heutige Belarus immer noch ein Land, wo beide Sprachen, Russisch und Belarussisch, gesprochen werden. Es sei daher schwierig zu verlangen, die russische Sprache vollständig zu verbannen.

Die Rolle des Lukaschenko-Regimes in der derzeitigen Lage schätzt Naprushkina klar ein: »Die Regierung in Belarus ist Kriegspartei.« Das Regime agiere dabei gegen die eigene Bevölkerung, sagt die 1981 in Minsk geborene Künstlerin. Zahlreiche Sabotagen gegen militärisch genutzte Eisenbahnstrecken und weitere Aktionen zeigten, so Naprushkina, dass »die Menschen in Belarus den Krieg nicht unterstützen«. Auch in der Kulturszene gebe es eine eindeutige Solidarisierung gegen den Krieg und für die Ukraine.

Den vom Lukaschenko-Regime unterstützten Angriffskrieg gegen die Ukraine erlebt Naprushkina als eine Zuspitzung der nach den belarussischen Präsidentschaftswahlen 2020 eskalierten politischen Repressionen: »Das Imperium hat zurückgeschlagen.« Und sie erlebt eine kräftezehrende Zeit: »Der lange, zermürbende Krieg ist eine schreckliche Situation.« Einen Ausblick vermag Marina Naprushkina nicht zu formulieren. »Man muss Kraft haben, um in die Zukunft zu schauen«, betont sie. Die Frage, wie die Feindschaft zwischen den Nachbarstaaten einmal überwunden werden könnte, muss sich aus Yevgeniy Breygers Sicht vor allem die russische Seite stellen: »Sie können sich darauf einstellen, dass es lange dauert.«

Für Lena Gorelik hat der Krieg einen Abschied eingeläutet. Ursprünglich habe sie geplant, den Sommer 2022 mit ihren Kindern in Russland zu verbringen, die dort noch nie gewesen sind, »damit sie Russisch lernen und weil sie jetzt groß genug sind, dass ich ihnen Dinge zeigen kann«. »Jetzt kann ich mir nicht vorstellen, in St. Petersburg durch die Straßen zu laufen«, sagt Gorelik. Auf die Frage, ob sie, sobald der Krieg endet, lieber nach St. Petersburg oder nach Kiew reisen würde, antwortet sie: »Eindeutig nach Kiew.« Die Sehnsucht nach ihrer Geburtsstadt ist Lena Gorelik jedenfalls vergangen: »Ich habe kein Bedürfnis, nach St. Petersburg zu fahren. Ich habe diesen Wunsch gar nicht.«

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