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Auch der Gender Data Gap diskriminiert Frauen systematisch Wenn Daten das Patriarchat stützen

Daten sind das Herzstück nahezu jeder wichtigen Entscheidung – vom Produktdesign über die Medizin bis hin zur faktenbasierten Politikentwicklung und Künstlichen Intelligenz: Sie sind wie unser Anker im Boden der Tatsachen. Was aber, wenn unsere wirtschaftlichen, sozialen und medizinischen Datensammlungen verzerrt, unvollständig oder durch falsche Untersuchungsmethoden unterwandert sind? Und welche Auswirkungen hätte es für unseren Anker im Boden der Tatsachen, wenn neben den – etwa durch Suggestivfragen verursachten – Verzerrungen der Ergebnisse einer Befragung die Repräsentanz der gesamten Erhebung ad absurdum geführt wäre, weil bestimmte Gruppen systematisch in der Forschung ignoriert werden und damit ein Großteil der Daten tatsächlich nur die Realität einer Minderheit der Gesellschaft widerspiegelt? Klingt problematisch? Willkommen in der Realität des Gender Data Gaps.

Gender Gaps sind in ihren Ausprägungen so vielfältig wie die Menschheit. Auch in unserer Gesellschaft sind sie keineswegs unbekannt. Bereits 1975 beteiligten sich rund 90 Prozent der Isländerinnen an einem Frauenstreik, um gegen das geschlechtsspezifische Lohngefälle, den Gender Pay Gap, und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung unbezahlter Sorgearbeit, den Gender Care Gap, zu protestieren. Der Gender Data Gap hat es jedoch erst im Jahr 2019 stärker in den gesellschaftlichen Diskurs geschafft, nachdem der Bestseller Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert mit seinen zahlreichen Beispielen der Datenkluft für Empörung sorgte. Unsicherere Autos, zu große Smartphones, zu kalte Büros. Die Welt scheint einfach nicht für Frauen gemacht zu sein.

Der Gender Data Gap thematisiert die fehlende Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in wissenschaftlichen Datenerhebungen, resultierend aus der Tatsache, dass Frauen sowie nicht-binäre Geschlechtsidentitäten beim Erfassen von Daten oft vergessen oder bewusst ignoriert werden. Diese geschlechtsspezifische Datenlücke hat vielfach schlicht ärgerliche Auswirkungen auf den Alltag einer Frau, kann jedoch auch lebensgefährlich in ihrer Konsequenz werden, wenn sich beispielsweise im Falle eines Verkehrsunfalls sämtliche Sicherheitseinrichtungen des Autos ausschließlich an männlichen Körpermaßen orientieren.

Die geschlechterspezifische Datenerhebung ist also von höchster Relevanz, um die zahlreichen Formen der Diskriminierung von Frauen aufzudecken, Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen, Ressourcen effizient zuzuweisen und gerechtere und geschlechtsspezifischere Politiken und Programme umzusetzen. Bislang liegen jedoch nur sehr wenige nach Geschlecht aufgeschlüsselte Daten vor, geschweige denn geschlechtersensitive Daten, die auf Stereotype und sozial konstruierte Rollen Bezug nehmen.

Selbst die Vereinten Nationen, die sich 2015 mit dem fünften von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung die Gleichstellung der Geschlechter bis 2030 auf die Fahne geschrieben haben, gehen davon aus, dass es insgesamt bis zum Jahr 2044 dauern könnte, bis alle geschlechtsspezifischen Daten vorliegen, die zur Messung von Ergebnissen für eine nachhaltige Entwicklung erforderlich sind. Ein Entwicklungstempo, bei dem Frau die Stirn runzelt.

Derart ernüchternde Aussichten sind keine Überraschung, wenn man berücksichtigt, dass nach Angaben der Vereinten Nationen nur 15 Prozent der Länder spezielle Gesetze auf ihrer Agenda haben, die nationale statistische Erhebungen mit einer geschlechtsspezifischen Aufschlüsselung vorschreiben. Sie befinden sich da in »guter« Gesellschaft, denn auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hielt es bis 2019 nicht für nötig, nach dem Geschlecht aufgeschlüsselte Daten zu sammeln. Doch was sind die Folgen für eine Gesellschaft, in der nur der (weiße) Mann als Role Model angesehen wird, an dem sich die wissenschaftliche Datenerhebung orientiert?

Das Leben einer Frau in einer datenbasierten Männerwelt

Es ist kein Geheimnis, dass Männer in einer patriarchalischen Gesellschaft viele Vorteile gegenüber Frauen und anderen Geschlechtsidentitäten haben. Denn bis heute wird das Gros sozio-organisatorischer und -ökonomischer Entscheidungen noch immer von (weißen) Männern getroffen. Basierend auf wissenschaftlichen Daten, die nur allzu häufig auf männlichen Realitäten, Körpern und Vorlieben fußen. Ein Teufelskreis und einmal mehr ein Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Realitäten – Stereotype, Vorurteile, patriarchale und postkoloniale Strukturen all inclusive!

Der Gender Data Gap betrifft zahlreiche Lebensbereiche der Frau und ist äußerst kreativ in seinen Ausdrucksformen. Dazu gehören zum Beispiel Regalhöhen in Supermärkten, die sich an männlichen Körpermaßen orientieren, obwohl wir dank des Gender Care Gaps wissen, dass der Gang zum Supermarkt auch im 21. Jahrhundert noch viel zu häufig als »Frauensache« angesehen wird. Oder Smartphones und Klaviertasten, die für eine durchschnittliche Frauenhand zu groß sind.

Immer wieder ärgerlich sind die langen Schlangen vor öffentlichen Toiletten. Wie viel Lebenszeit würden Frauen gewinnen, wenn bei der Planung öffentlicher Bedürfnisanstalten berücksichtigt würde, dass Frauen aus rein biologischen Gründen im Durchschnitt mehr Zeit zur Verrichtung benötigen als Männer. Folglich sollten Frauen daher selbstverständlich mehr Kabinen zur Verfügung stehen als Männern.

Ebenfalls problematisch: Unternehmen, die sich bei der Personalauswahl auf Algorithmen und Systeme der Künstlichen Intelligenz stützen, welche ihrerseits auf Daten beruhen, die durchzogen sind von Verzerrungen und zugunsten (weißer) Männern evaluiert wurden. Auch in der Gestaltung des Arbeitsplatzes orientieren sich viele Firmen auch heute noch an einer Formel aus den 60er Jahren, welche aus der Stoffwechselrate eines durchschnittlichen 40-jährigen Mannes von 70 Kilogramm Gewicht berechnet wurde. Es friert sich weiblich deutlich schneller, da der weibliche Stoffwechsel um 35 Prozent niedriger arbeitet und die Wohlfühltemperatur für Frauen im Durchschnitt um 3--5 Grad unterschritten wird. Dass diese Erkenntnis wenig Relevanz für den Arbeitsalltag von Frauen hat, kann als eine der vielen subtilen Diskriminierungen aufgeführt werden, die Resultat des Gender Data Gaps sind.

Das systematische Versäumnis, geschlechtsspezifische Daten zu erheben, kann jedoch auch lebensbedrohliche Folgen für Frauen haben: vor allem in der Medizin, wo Frauen immer noch nicht ausreichend in klinische Studien einbezogen werden. Eine Ausnahme stellt ihre reproduktive Gesundheit dar, die natürlich auch in einem Patriarchat von höchstem Interesse ist.

Die Datenlücke in der Medizin hat zahlreiche Folgen. Eine davon ist, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen unnötigerweise die häufigste Todesursache bei Frauen weltweit sind. Unnötigerweise, da Frauen nach einem Herzinfarkt mit 50 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit eine Fehldiagnose erhalten. Dies könnte womöglich vermieden werden, gäbe es mehr Daten über Herzkrankheiten bei Frauen und würden Fachleute nicht überwiegend auf den »typischen« Brustschmerz geschult werden, der in der Praxis jedoch eher für Männer wirklich typisch ist. Auch in der Arzneientwicklung scheint der männliche Körper als unumstößliche Norm zu gelten, denn Medikamente werden noch immer vorrangig an Männern getestet – obgleich in Deutschland seit 2004 die gesetzliche Verpflichtung besteht, etwaige Unterschiede zwischen Frauen und Männern in klinischen Studien zu ermitteln.

Die Medizin und die Arzneientwicklung sind jedoch nicht die einzigen Bereiche, in denen Frauen allzu häufig als »kleine Männer« betrachtet oder gar vergessen werden. Ein Blick auf den Standard-Dummy für Simulationen von Autounfällen mit seinem männlichen Körperbau, 78 Kilogramm Gewicht und einer Größe von 1,76 Metern bestätigt, dass selbst die Autosicherheit ein Sexismusproblem hat. Schließlich entsprechen Frauen in der Realität eher selten den Maßen des »Standard«-Dummys, weshalb sie im Vergleich zu Männern ein überproportional hohes Risiko aufweisen, bei einem Autounfall schwere bis tödliche Verletzungen zu erleiden.

Erst 2022, rund 70 Jahre nach der Einführung des Führerscheinrechts für Frauen, wurde »Eva« entwickelt – ein Dummy mit den durchschnittlichen Abmessungen einer Frau, einschließlich entsprechender Muskelstruktur. Ob Eva tatsächlich in Crashtests zum Einsatz kommt, bleibt jedoch fraglich, da es hierfür noch keine Vorschriften gibt.

Zu guter Letzt verschärft der Gender Data Gap auch andere geschlechtsspezifische Diskrepanzen und Gewalten. Zumal Daten nicht nur dazu dienen, Fortschritte zu messen, sondern auch Anregungen für Verbesserungsmaßnahmen liefern. Doch wie sollen adäquate Strukturen, zum Beispiel für Überlebende sexualisierter Gewalt, geschaffen werden, wenn die Mehrheit der Länder nicht einmal regelmäßig Daten zur Gewalt gegen Frauen erhebt? Ohne geschlechtsspezifische Daten bleiben nun einmal die Interessen und Bedürfnisse von etwa der Hälfte der Weltbevölkerung auf der Strecke, weswegen es höchste Zeit ist, dass der Gender Data Gap endlich geschlossen wird!

Die Schattenseiten von (Gender)Daten

Es ist also richtig und wichtig, dass wir vollständigere, umfangreichere und bessere geschlechtsspezifische Daten brauchen, um die zahlreichen Facetten der Diskriminierung von Frauen aufzudecken und zu bekämpfen. Mehr geschlechtsspezifische Daten bedeuten jedoch nicht direkt den Umsturz des Patriarchats. Daten können extrem machtvoll sein – nicht ohne Grund schrieb The Economist 2017: Die wertvollste Ressource der Welt ist nicht mehr Öl, sondern Daten«. Je nachdem, von wem Daten gesammelt und ausgewertet werden, können sie sogar die bestehenden Machtstrukturen vertiefen.

Seit der Oberste Gerichtshof der USA im Juni 2022 das fast 50 Jahre alte Grundsatzurteil zum Abtreibungsrecht, auch bekannt als »Roe v. Wade«, aufgehoben hat, fürchten Datenschutzexpert/innen, dass Strafverfolgungsbehörden digitale Daten von Google, sozialen Medien und Zyklus- und Gesundheits-Apps nutzen werden, um Menschen zu verfolgen, die entgegen dem Gesetz Abtreibungen anbieten oder vornehmen lassen. Das ist gar nicht so abwegig, wenn man bedenkt, dass der Google-Suchverlauf, die Standortdaten und die persönlichen Gesundheitsdaten, die von Zyklus- und Gesundheits-Apps erfasst und gespeichert werden, zu den intimsten Informationen gehören, die über eine Person existieren können. Anhand dieser Daten lässt sich mühelos feststellen, ob online nach Abtreibungseinrichtungen gesucht wurde, wann die Menstruation einsetzt und wann sie aufhört, und sogar, ob sich jemand in einer Einrichtung aufgehalten hat, die Abtreibungsdienste anbietet.

Das auf den ersten Blick unvorstellbare Schreckensszenario ist in gewisser Weise bereits Realität geworden.​​ Im April 2022 wurde die US-Bürgerin Jessica Burgess angeklagt, ihrer zu der Zeit 17-jährigen Tochter zu einer Abtreibung verholfen zu haben. Die Polizei erhielt das für die Anklage benötigte Material – Textnachrichten zwischen Burgess und ihrer Tochter über den Facebook-Messenger – von Meta Platforms, dem Konzern, zu dem die sozialen Netzwerke Facebook und Instagram sowie der Messengerdienst WhatsApp gehören. Angesichts der angespannten Lage in Bezug auf das Abtreibungsrecht und der scheinbaren Renaissance des Konservatismus liegt es nahe, dass die staatlichen Behörden weiterhin auf private Daten zurückgreifen werden, um Frauen und Mädchen zu verfolgen, die rechtswidrig Abtreibungen vollziehen.

Letztlich gleicht das Überwinden der geschlechtsspezifischen Datenlücke in vielerlei Hinsicht einer Gratwanderung. Wer eine geschlechtergerechte Zukunft will, muss mit geschlechtsspezifischen Daten beginnen – und parallel für einen umfassenden Datenschutz sorgen. Keine einfache Aufgabe, aber eine notwendige!

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