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Fanfiction als Zeichen ungebrochener Lust am Fabulieren Wenn der Leser weiterschreibt …

Als Arthur Conan Doyle 1887 den Roman A Study in Scarlet (Eine Studie in Scharlachrot) veröffentlichte, schuf er mit dem Detektiv Sherlock Holmes und seinem Freund und Assistenten Dr. John Watson ein Figurenpaar, das bis heute unvergessen ist. Die Auswirkungen auf die Kriminalliteratur, aber auch auf Kriminologie und polizeiliche Ermittlungsmethoden war enorm. Weil die stete Nachfrage nach weiteren Sherlock-Holmes-Geschichten den Autor davon abhielt, andere ihm wichtige Texte wie historische Abhandlungen oder Romane zu verfassen, beschloss er, seinen Detektiv sterben zu lassen. 1893 lässt er ihn in The Final Problem (Das letzte Problem) in die Schweizer Reichenbachfälle stürzen. In seinem Tagebuch notierte er: »Killed Holmes«.

Doch Doyle hatte nicht mit der Gemütslage seiner Leserinnen und Leser gerechnet. Was nun über den Autor hereinbrach, würde man heute als Shitstorm bezeichnen. In London zeigten sich enttäuschte Leser mit schwarzen Schleifen um den Oberarm oder schwarzen Krawatten. Doyle erhielt empörte Briefe und über 20.000 Kunden kündigten ihr Abonnement des Strand-Magazine, in dem die Geschichten bislang meist veröffentlicht worden waren. Unter dem Druck der Leserschaft und durch hohe finanzielle Anreize entschied sich Doyle dazu, den Detektiv wieder auferstehen zu lassen und die Geschichten fortzusetzen. Schlussendlich umfasst der offizielle Werkkanon zu Sherlock Holmes und Dr. Watson vier Romane und 56 Erzählungen.

Doch dabei blieb es nicht: Das Figurenpaar mit seinen speziellen Eigenschaften und Ermittlungsmethoden sowie der besonderen Beziehung zueinander war aus der Literatur nicht mehr wegzudenken. Eine nun einsetzende literarische Produktion sogenannter Sherlock-Holmes-Pastiches wucherte ins Uferlose. Nicht nur berühmte Schriftsteller wie Umberto Eco in seinem Roman Der Name der Rose verarbeiteten das Motiv – dort ermittelt der kriminalistisch veranlagte englische Mönch William von Baskerville (eine Anspielung auf Arthur Conan Doyles Holmes-Geschichte Der Hund von Baskerville) mit seinem Adlatus Adson (= Watson) –; auch in Comics, Groschenheften und in zahlreichen Geschichten, die ab den 1930er Jahren von Fans weitergeschrieben wurden, lebten Holmes und Watson weiter.

Der Kosmos der Sherlock-Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle wird vielfach als Initialzündung für die sogenannte Fanfiction gesehen, also das Weiterspinnen einer Geschichte oder Personenkonstellation in neuen, alternativen Handlungssträngen durch begeisterte Leserinnen und Leser. 1968 erhält diese Gattung mit der Entwicklung der Serie Star Trek rund um die Abenteuer des Raumschiffs Enterprise einen neuen Schub. Nun entstehen auch eigene Magazine, sogenannte Fanzines, in denen die Geschichten von der Fangemeinde, den »Trekkies«, weitererzählt werden – in der Regel mit stark schwankendem literarischen Niveau und nicht selten angereichert mit sexuellen Konnotationen. Letzteres führt sogar zu einem weiteren Sub-Genre, der Slashfiction, in der meist männlichen Figuren homosexuelle Beziehungen angedichtet werden wie etwa Captain Kirk und Mr. Spock.

Die Lust am Fabulieren, am Weitererzählen von Geschichten, das Bedürfnis nach Ausschmückung und Weiterspinnen des Erzählfadens kann als konstitutiv für unsere menschliche Kulturgeschichte gesehen werden. Mythen, Sagen, Märchen und Legenden entwickelten sich über Jahrhunderte in mündlicher Erzähltradition. Dabei entstanden mit der Zeit eine Vielzahl von Varianten und Parallelgeschichten, die nebeneinander koexistierten und ihrerseits weitergesponnen wurden. Erst durch Verschriftlichung bildete sich ein allgemein anerkannter Kanon heraus, z. B. durch die Sammlung deutscher Kinder- und Hausmärchen durch die Brüder Grimm. Im Fall der Bibel erfolgte eine bewusste Redaktion zur Herstellung eines religiösen Leitmediums: Aus der Fülle an Überlieferungen und Erzählungen wurden interessegeleitet manche aufgenommen und geordnet, andere verworfen.

So gerät das Fabulieren, das Weitererzählen zunehmend in Konflikt mit einem offiziellen Kanon. Im 20. Jahrhundert treten handfeste materielle Interessen in Form des Urheberrechts hinzu. Bis zum Ablauf des Urheberrechtsschutzes an den Figuren und Namen der Sherlock-Holmes-Geschichten im Jahr 1981 mussten andere Autorinnen und Autoren neue Namen oder Umschreibungen verwenden, wenn sie neue Geschichten über den Meisterdetektiv und seinen Assistenten veröffentlichen wollten. Und um der ausufernden Trekkie-Fanfiction Einhalt zu gebieten, hat die Produktionsfirma und Rechteinhaberin Paramount Pictures verschiedentlich von Fans kreierte Websites über Star Trek verklagt.

Aktuell existieren strikte Regeln bezüglich Fanfiction zu Star Trek. So müssen beispielsweise alle Produktionen frei angeboten werden und dürfen keinen Gewinn abwerfen. Doch in Zeiten digitaler Verbreitungsmöglichkeiten ist eine Regulierung von Fanfiction kaum noch möglich. Inzwischen haben sich zahlreiche Websites und Online-Plattformen etabliert, die sich unterschiedlichsten Genres im Bereich der Fanfiction widmen. Eine davon ist wattpad.com, die nach eigener Aussage »beliebteste soziale Plattform der Welt zum Geschichtenerzählen«.

Für eine literarische Regulierung ganz anderer Art sorgt die Fanszene selbst, indem sich unterschiedlichste Formen des Schreibens entwickelt haben. Beim sogenannten »Oneshot« handelt es sich um eine Übernahme aus dem Bereich des Films. Bezeichnet der »Oneshot« dort ein Video, das in einer einzigen Einstellung am Stück und in Echtzeit gedreht wurde, so ist er im Bereich literarischer Fanfiction eine Mini-Geschichte, die am Stück niedergeschrieben wurde.

Mit »Headcanon« wird die persönliche, eigenwillige Interpretation einer Geschichte durch einen Fan beschrieben, betreffend etwa die Gewohnheiten oder den Hintergrund eines Charakters oder die Art der Beziehungen zwischen verschiedenen Charakteren. Im »Headcanon« kommen Aspekte zum Ausdruck, die nicht offiziell Teil des Quellenmaterials sind, von denen die Fans jedoch denken, dass sie existieren oder dort vorkommen könnten. Im Sinne eines »Was wäre, wenn…« werden Subtexte aus dem Werkkanon herausgekitzelt, die der Ursprungsgeschichte auch klar widersprechen können. Sofern ein »Headcanon« eines einzelnen Fans von anderen Fans akzeptiert und geteilt wird, kann er zum »Fan-Kanon« oder »Fanon« werden.

Schließlich kann man noch auf ein »Drabble« stoßen, eine meist pointierte Geschichte, die aus exakt 100 Wörtern bestehen muss. Ursprünglich als Fanfiction betrieben, wird ein »Drabble« aufgrund der einfachen äußeren Form gerne von ungeübten Autoren als Einstieg genutzt, obwohl dies durch die Beschränkung auf das Wesentliche eine große Herausforderung darstellt. Das Konzept soll seinen Ursprung im britischen Science-Fiction-Fandom der 80er Jahre haben, der Begriff hingegen geht auf einen Sketch von Monty Python zurück.

Rechtlich heikler Bereich

Doch wie reagieren die Autorinnen und Autoren selbst auf das literarische Treiben ihrer Fans? Die Sorge, dass ihnen durch Fans oder Fanfiction die eigenen Geschichten aus der Hand genommen werden könnten, scheint nicht unbegründet. Schon unter den Sherlockianern, dem Pendant zu den Trekkies unserer Tage, etablierte sich das sogenannte »Sherlockian Reading«, eine der eigenen Unterhaltung dienende Weise, die Detektivgeschichten Arthur Conan Doyles zu lesen, die davon ausging, dass es sich um reale Figuren und Fälle sowie um Tatsachenberichte aus der Hand von Dr. Watson handele. Der eigentliche Autor wurde dabei zum literarischen Agenten oder Herausgeber degradiert.

Die US-amerikanische Autorin Anne Rice beispielsweise, berühmt geworden durch ihren zwölfbändigen Zyklus The Vampire Chronicles, wehrt sich entschieden gegen die Verwendung ihrer Charaktere durch Fans: »Ich erlaube keine Fanfiction. Die Charaktere sind urheberrechtlich geschützt. Es regt mich sehr auf, nur an Fanfiction mit meinen Charakteren zu denken. Ich rate meinen Lesern, ihre eigenen Geschichten mit ihren eigenen Charakteren zu schreiben. Es ist sehr wichtig, dass ihr meine Wünsche respektiert.«

Und auch Rick Riordan, dessen Romane über den Halbgott Percy Jackson den Stoff für eine der aktivsten Fanfiction-Szene liefern, wird in der Szene wie folgt zitiert: »Ich bin mir der Fanfic bewusst, aber ich versuche alles, um sie zu vermeiden. Zum einen ist es ein rechtlich heikler Bereich. Ich kann niemanden aktiv unterstützen, der mein urheberrechtlich geschütztes Material verwendet. Ich möchte auch nicht, dass später jemand behauptet: ›Hey, die Idee hast du von meiner Fan-Fiction!‹ Abgesehen davon muss ich zugeben, dass ich Fanfiction etwas beunruhigend finde. Es ist, als würde jemand an meinen Schrank gehen und meine Kleider anprobieren. Es ist einfach seltsam zu sehen, wie jemand anderes versucht, über meine Figuren zu schreiben.«

Joanne K. Rowling hingegen fühlt sich geschmeichelt von Fanfiction über Charaktere im Harry-Potter-Universum, ruft jedoch ihre Fans dazu auf, keine obszönen Geschichten zu schreiben, da ihre Bücher für Kinder gedacht seien. Wie wenig erfolgversprechend ein solcher Aufruf ist, zeigt ein Blick auf Wattpad: Mit wenigen Klicks ist man hier bei Gay-Oneshots, die das homosexuelle Verhältnis von Harry Potter zu Draco Malfoy beschreiben, wahlweise in der lesbischen Variante von Ginny zu Luna.

Doch steht den zahllosen Beispielen des Absinkens ins Vulgäre oder Obszöne auch der genau umgekehrte Weg gegenüber: So wurde etwa Melissa Good, Verfasserin von Fanfiction zur US-amerikanisch-neuseeländischen Fernsehserie Xena – die Kriegerprinzessin von den Produzenten eingeladen, drei Drehbücher für die sechste Staffel zu schreiben. Bis heute hat die Autorin sieben Romane veröffentlicht.

Ob legal oder illegal, geduldet oder vereinnahmt, LGBTQ+ oder hetero, trivial oder literarisch herausragend: Die Anhängerschaft von Fanfiction wächst stetig. Der Faden wird weitergesponnen.

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