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Skulptur auf dem Grab der Künstlerin Paula Modersohn-Becker, geschaffen vom Bildhauer Bernhard Hoetger. © Foto: picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Paula Modersohn-Becker in der Frankfurter Schirn »Wenn ich erst malen kann!«

Am 20. November 1907 starb Paula Modersohn-Becker, 18 Tage nach der Geburt ihrer Tochter Mathilde mit 31 Jahren an einer Embolie. Die ergreifenden Berichte der Anwesenden über diesen Nachmittag, an dem die junge Mutter zum ersten Mal aufstehen durfte, rosengeschmückt das von Kerzen erleuchtete Zimmer betrat und sich das Kind in den Arm legen ließ, bevor sie mit einem »Wie schade« tot zu Boden sank, sind bereits Teil jener bis heute fortgeschriebenen Legende, die in keiner der Biografien über die Künstlerin fehlt.

Nein, malen konnte Paula Modersohn-Becker nach Meinung ihrer Zeitgenossen, darunter viele Frauen, nicht. Als hässlich und brutal wurden ihre Bilder bezeichnet, gar als »ungesund«. »Hände wie Löffel, Nasen wie Kolben, Münder wie Wunden, Ausdruck wie Cretins«, steht unter dem Datum 26. September 1903 im Tagebuch ihres Mannes, des Worpsweder Landschaftsmalers Otto Modersohn. Und sahen die Bildnisse denn nicht genauso aus, wie er sie beschrieb? Die im Werk visualisierte Überzeugung der Künstlerin, dass der große Stil der Form auch einen großen Stil der Farbe verlange – ihre »Runenschrift« nannte sie das –, konnte er weder verstehen noch teilen. Zweimal hat Gustav Pauli, der fortschrittliche Direktor der Bremer Kunsthalle, einige Bilder von ihr ausgestellt, Ende 1899 und 1906, jeweils mit vernichtendem Ergebnis. Gemalt hat sie in einem knappen Jahrzehnt über 700 Bilder, verkauft fast nichts.

Kein Künstler der frühen Moderne erlangte zu Lebzeiten in Deutschland einen solchen Bekanntheitsgrad wie Paula Modersohn-Becker nach ihrem Tod. Bereits 1908 erwarb Pauli zwei Stillleben und stellte eine erste Ausstellung zusammen, die ab Mai 1909 auch in Berlin bei Paul Cassirer zu sehen war, zusammen mit Arbeiten von Manet, Renoir und van Gogh. Spätestens damit begann auch die überregionale Beachtung. Sammler erwarben Bilder, kunsthistorische Würdigungen und erste Werklisten erschienen, und nach dem Ersten Weltkrieg kauften auch zahlreiche Museen die Werke der Künstlerin an. 1927 schließlich eröffnete der Bremer Kaufmann und Mäzen Ludwig Roselius in der Böttcherstraße das »Paula Becker-Modersohn Haus«.

Von Anfang an gilt das Interesse an Paula Modersohn-Becker vorrangig ihrem Leben, das ihr Werk erklärt. Beide fallen in eins. Zwei miteinander verwobene und an den frühen Tod anknüpfende Motivstränge prägen bis heute das Bild von der Malerin. »Von einer Frühvollendeten sollen diese Blätter berichten.« Mit diesem programmatischen Satz beginnt der Kunsthistoriker Gustav Pauli seine 1919 erschienene Monografie. Schon damals wusste man sofort, wer gemeint war. Auch Vincent van Gogh, der »Vater der Moderne«, der sich 1890 mit 37 Jahren das Leben nahm, wurde bis zu seinem Tod verkannt und geschmäht. Wie er schuf Paula Modersohn-Becker nach Paulis Überzeugung in Einsamkeit ihr Werk. Ganz auf sich gestellt, kämpfte sie um ihre Kunst und ihre Freiheit, denn ihr Mann habe weder die Größe ihrer Kunst erkannt noch ihr Schaffen unterstützt. Der Mythos von der Tragik des lebenslang verkannten Genies schien dabei noch verstärkt durch die im Nachhinein so bedeutungsschweren und viel zitierten Tagebuchsätze vom 26. Juli 1900: »Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist?« Im Geiste dieses Pathos konnte auch das Werk problemlos umgedeutet werden: So avancierten etwa die einst als »hässlich« und »brutal« beschimpften Bilder zu bewegenden Zeugnissen für die »Zeitlosigkeit« ihrer Malerei.

Die Vorstellungen vom genialen Künstler basierten auf Rainer Maria Rilkes Überzeugung vom unabdingbaren Zusammenhang von Genie und Einsamkeit, die für ihn allerdings keinen bedauernswerten Zustand, sondern die Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit eines Werkes bildete und damit den existenziellen Beweggrund für Kunst überhaupt. Die Idee durchzieht auch sein der Künstlerin gewidmetes Requiem, jene ein Jahr nach ihrem Tod geschriebene Totenmesse Für eine Freundin. »Und wolltest nichts, als eine lange Arbeit.« Bereits dieser eine emphatische Satz zeigt Rilkes Intention.

Die angebliche »Lebensnähe« von van Gogh und Paula Modersohn-Becker zog die Behauptung von der künstlerischen Nähe der beiden »Frühvollendeten« nach sich, obwohl sich dafür kein Beleg findet. Doch auf der Staffelei in ihrem Atelier stand am Todestag das Stillleben mit Sonnenblume, Steckrosen und Georginen, das den Vergleich mit van Goghs berühmtesten Motiv geradezu herausforderte, eine Versuchung, der kaum ein Interpret widerstehen konnte. Aber als »Abschiedsbild« mit dem sich ein Kreis schloss, lässt sich das Gemälde nur deuten, wenn man es vom Ende her interpretiert. Paula Modersohn-Becker »starb im rechten Augenblick« behauptete Pauli 1919 kühn und noch 60 Jahre später sah der profunde Kenner ihres Werks Günther Busch ihr kurzes Leben »als Frau und Künstlerin« in »seltsamer« Zeitraffung vollendet, weil sie in freier Entscheidung die »Erfüllung ihrer menschlichen Existenz als Mutter« gewählt habe.

Diese makabre Vorstellung gehört bereits zum zweiten der Motivkreise, die das Bild von der Künstlerin bis heute prägen. Parallel zum ersten spielt sie schon kurz nach Paula Modersohn-Beckers Tod eine Rolle, und geht ebenfalls nicht von ihrem Werk, sondern ihrem Leben aus. Unter dem Blickwinkel des Todes in der Mutterschaft als tragischer Erfüllung des Frauseins, zu dem die angeblichen Ahnungen der Malerin von ihrem frühen Tod perfekt passen, erschien bereits 1913 in der Bremer Zeitschrift Die Güldenkammer eine erste Auswahl von Briefen und Tagebucheintragungen.

Es folgte 1917 der von der Kestner-Gesellschaft in Hannover herausgegebene Nachlass, der dann ab 1920 eine Auflage nach der anderen erlebte. An der Botschaft dieser Briefe und Tagebuchblätter hat die Herausgeberin Sophie Dorothea Gallwitz, die die Texte auch bearbeitete und auswählte, in ihrer Einleitung keinen Zweifel gelassen. Nur einmal, 1907, sei sie der damals hochschwangeren Paula Modersohn-Becker in Worpswede kurz begegnet: »Ihr Zustand einer nahenden Mutterschaft gab ihrer Haltung und ihren Bewegungen eine schöne Würde. Es war in dem Augenblick, als gehörte sie zu jenen Frauen, die unsere alten Meister als Gottesmutter gemalt haben.« Von dieser »Heiligsprechung« war es über ein halbes Jahrhundert hinweg in den 80er Jahren eigentlich nur ein kleiner Schritt, die Bildwelt der Künstlerin von einer feministisch-matriarchalischen Überzeugung als heidnische »Große Mutter« zu interpretieren.

Ausnahme von der patriarchalen Regel

Es gehört zu den bitteren Ironien der Kunstgeschichte, dass sich die Bekanntheit, ja der frühe Ruhm von Paula Modersohn-Becker ausschließlich ihrem plötzlichen Tod verdanken. Von Anfang an, das heißt, von der komplexen Gemengelage aus Mythen und Legenden, die sich praktisch mit ihrem letzten Atemzug bildeten, wurde das Werk der Künstlerin nur von ihrem Tod her gesehen und damit eine sachliche Betrachtung nachhaltig verstellt. Nicht zuletzt suggerierte dieser Blick eine Exklusivität und Einzigartigkeit der Künstlerin, die es faktisch gar nicht gab. Für viele Jahre wurde sie so zur Ausnahme von der patriarchalen Regel, dass eine Frau von »Natur« aus »geistig« gar nicht in der Lage sei, Kunst zu schaffen.

Kein künstlerischer Werdegang einer deutschen Künstlerin ist heute so gut erschlossen wie der von Paula Modersohn-Becker. Aber Werkverzeichnisse, Biografien und Ausstellungen machen Leben und Werk nur scheinbar leicht zugänglich. Das eindrückliche Beispiel dafür liefert immer noch ihr berühmtestes Gemälde, das Selbstbildnis als Akt, entstanden 1906 in Paris nach der Trennung von ihrem Mann. Es ist vermutlich der erste Selbstakt einer Künstlerin, versehen mit der Aufschrift: »Dies malte ich mit 30 Jahren an meinem 6. Hochzeitstage P.B.« Sie hatten am 25. Mai 1901 geheiratet, einen Monat nach ihren Freunden Clara Westhoff und Rainer Maria Rilke. Es war der Frauen- und Künstlerinnenhasser Karl Scheffler höchstpersönlich, der 1921 in der konservativen Zeitschrift Kunst und Künstler Paulis Monografie verriss und empört behauptete, die Künstlerin habe sich hier »höchst geschmacklos bis über den Nabel nackt, im fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft« dargestellt. Damit war die pikante Legende in der Welt. Erst 1961 stellte Carl Georg Heise klar, sie sei im Mai 1906 gar nicht schwanger gewesen, sondern habe sich nur als Schwangere gemalt und deutet damit seinerseits den Akt in positivem Sinn als Tabubruch. Eine Behauptung, die seitdem als anerkannte Interpretation gilt und kaum je hinterfragt worden ist. Nichts lag Paula Modersohn-Becker zu diesem Zeitpunkt ferner, als der Gedanke an eine Schwangerschaft. Sie war in einem wahren Arbeitsrausch und fühlte sich frei. »Ich kann jetzt nicht zu Dir kommen, ich kann es nicht. Ich möchte Dich auch an keinem anderen Orte treffen. Ich möchte jetzt auch gar kein Kind von Dir haben«, schreibt sie am 9. April 1906 an ihren Mann. Acht Jahre zuvor, 1898, am ersten Abend in der Künstlerkolonie Worpswede, wo sie auch Otto Modersohn kennenlernte, hatte sie notiert: »Ich genieße mein Leben mit jedem Atemzug und in der Ferne glüht, leuchtet Paris.« Im Spannungsfeld der beiden Orte entwickelt sich ihr Werk. Die drei Paris-Aufenthalte von 1900, 1903 und 1905 sowie das Jahr, von Februar 1906 bis März 1907 waren ihr zweites, anderes Leben.

Hat sich Paula Modersohn-Becker in ihrem »Hochzeitsbild« überhaupt als Schwangere gemalt? Denn der gewölbte Leib findet sich als Topos von Weiblichkeit nicht nur auf Renaissancegemälden, sondern ist auch für ihre Mädchen- und Frauenakte charakteristisch sowie für die zwei lebensgroßen Ganzkörperakte, die wenig später als intimste und zugleich radikalste Form der Selbstdarstellung entstanden, ein Bildtypus, den die Künstlerin hier 1906 in Paris kreierte. Vielleicht hatte sie am 25. Mai sogar ein direktes Vorbild vor Augen: eine Lukrezia, gemalt 1536 von Franz Timmermann. Das Gemälde aus der Hamburger Kunsthalle zeigt einen erstaunlich ähnlichen Halbakt wie ihren mit deutlich gerundetem Bauch. Gegen die Schwangerschaftsthese sprechen also durchaus gute Gründe. Wer behauptet, die Künstlerin habe sich als schwanger gemalt, benutzt das Bild als Beweis für die tragische Erfüllung des Frauseins in der Mutterschaft. Oder er ist genau entgegengesetzt der Meinung, die Künstlerin habe sich hier als doppelt »potent« dargestellt, als Frau, die Kunst und Leben gleichzeitig schafft: »selbstbewusst, kraftvoll und feminin«.

Wie die große Ausstellung in der Frankfurter Schirn ganz aktuell zeigt, dominiert die These von der Schwangerschaftsdarstellung die Interpretation des Bildes bis in die Gegenwart. Gegen den Augenschein erscheint ihr Werk weiterhin nur scheinbar als leicht zugänglich. Es bleibt vielschichtig und widersprüchlich, lässt viel Raum für Spekulationen. Die mit 116 Werken fulminant bestückte Retrospektive ist unter dem Motiv des »Überzeitlichen« als durchgängigem Narrativ konzipiert und in zehn Themenräume gegliedert von den Selbstporträts über Kinderbilder, Aktdarstellungen, Paris, Worpswede, die Landschaften bis hin zu den Bildserien und Stillleben. Um der Dominanz des Biografischen zu entgehen, erscheint das zwar konsequent, andererseits erschwert diese Hängung eine chronologische Einordnung deutlich. Die Betonung der »zeitlosen Größe« von Paula Modersohn-Becker als übergreifender Ansatz war offensichtlich gewollt. Damit bleibt die Versöhnung von Leben und Werk der Künstlerin weiterhin ein Traum.

Die Ausstellung Paula Modersohn-Becker in der Schirn Kunsthalle Frankfurt am Main läuft bis zum 6. Februar 2022; der Katalog kostet 35 €.

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