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Migrant/innen im Zwiespalt der Identitäten Wer bin ich?

Die hohen Wellen, die der Neonationalismus europaweit geschlagen hat und sein hinterhältiger, menschenverachtender Populismus haben in Deutschland die in den vergangenen Jahrzehnten mühsam errichteten Brücken zwischen Einwanderern und der deutschen Mehrheitsgesellschaft sehr schwer beschädigt. Die Debatten über die Integration von Zuwanderern von der ersten bis zur vierten Generation haben durch den Wirbel um den Fußballer Mesut Özil die betroffenen Menschen noch stärker unter Druck gesetzt. Ihre Loyalität zu Deutschland wird oftmals vor allem daran gemessen, ob sie sich eindeutig von ihren türkischen Wurzeln distanzieren.

Ein deutscher Nationalspieler mit einem türkischen Namen im Trikot mit der begehrten Nummer 10 und dem Bundesadler auf der Brust hatte es gewagt, zusammen mit İlkay Gündoğan den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in London zu treffen. Für alle anderen deutschen Regierungs- oder Parteivertreter, Lobbyisten für Waffenproduzenten, Pharmaunternehmen, Chemiegiganten oder auch von Organisationen, die sich um den Fortbestand des europäisch-türkischen Flüchtlingsabkommens Sorgen machen, dürfen den Staats-, Regierungs- und Parteichef ganz normal treffen, mit ihm sprechen, verhandeln oder sich gar freundlich lächelnd fotografieren lassen. Erdoğans »Freund«, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, durfte gar stellvertretend für Deutschland bei der Vereidigung des türkischen Staatspräsidenten dabei sein.

Das Schicksal Özils, noch einer der besseren Spieler einer in der Vorrunde der Fußball-WM in Russland ausgeschiedenen »Mannschaft«, wurde von einer verlogenen öffentlichen Debatte bestimmt. Sein Verstummen beim Abspielen der Nationalhymne wird u. a. als Zeichen dafür gewertet, dass sich Özil im deutschen Nationaltrikot »nicht wohl« fühle, wie ausrangierte frühere deutsche Nationalspieler den Boulevardjournalisten in die Notizblöcke diktierten. Dass auch etwa Lukas Podolski, ein sich zu seiner polnischen Abstammung und zu Polen als »Heimat« bekennender früherer deutscher Nationalkicker, die Nationalhymne nicht mitgesungen hat, ist nie ein Thema gewesen. Vergessen worden ist auch, dass die meisten Deutschen erst mit dem »Sommermärchen«, der Fußball-WM 2006 im eigenen Land, ihren Frieden mit der eigenen Fahne geschlossen hatten. Deutsche Fußballfans hatten es, ohne sich dafür schämen zu müssen, geschafft, fahnenschwenkend durch die Straßen zu ziehen; etwas, dass ihnen die Italiener, die Spanier, die Portugiesen, die Türken oder die Griechen schon lange vorgemacht hatten.

Zwei Herzen in einer Brust

Özil wurde öffentlich aufgefordert, zu erklären, ob er sich nun als Türke oder als Deutscher fühle. Eine Frage, die Hunderttausende junger Türkinnen und Türken seit Ewigkeiten nervt: »Hast du Deutschland lieb oder die Türkei?« Viele türkischstämmige junge Menschen, darunter auch die, die es in der deutschen Gesellschaft weit gebracht hatten und inzwischen hohe politische Ämter bekleiden, überschlugen sich mit dem Bekenntnis zu den zwei Herzen in ihrer Brust: ein deutsches und ein türkisches. Integration schließt das auch keineswegs aus. Dabei wäre es wichtig, zu erklären, ob diese beiden Herzen sich tatsächlich »auf Augenhöhe« begegnen und sich gegenseitig anerkennen.

Steckt womöglich hinter der Frage, welches der beiden Herzen in der Brust der jungen Türkinnen und Türken stärker schlage, die bislang politisch korrekt kaschierte Erwartung einer Assimilation? Bis auf die Neonationalisten in der AfD und in Teilen der C-Parteien gibt es bislang keine Anzeichen für eine nicht akzeptable Erwartungshaltung in dieser Richtung.

Die assimilierten Deutschen mit türkischen Namen und Wurzeln wird es vielleicht in zwei bis drei Generationen geben. Erst müssen die gegenwärtigen neuen Deutschen mit einer oder zwei Staatsbürgerschaften aussterben, die noch als Kinder und Enkelkinder der ersten und zweiten Zuwanderergeneration von deren Erfahrungen in der Fremde belastet sind. Die Arbeitskräfte (damals als »Gastarbeiter« bezeichnet) im Dienste des deutschen »Wirtschaftswunders« waren als Menschen uninteressant. Ihr Bildungsniveau, zumeist sehr gering, war ebenso wenig entscheidend für ihre Anwerbung wie ihre Religion oder ihre kulturellen Bräuche. Die Nachkriegsgesellschaft hat sie tunlichst gemieden, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und in ihren Ghettos religiös und politisch extremistischen Strömungen ausgesetzt.

Welche Probleme die Türkinnen und Türken der dritten und vierten Generation mit ihren Eltern und Großeltern heute noch haben, weiß die einheimische Gesellschaft kaum. Die Betroffenen sind nicht nur damit beschäftigt, sich als in Deutschland integrierte Mitglieder der Gesellschaft durchzusetzen. Sie sind auch zerrissen zwischen den Wertvorstellungen ihrer Eltern und ihrer eigenen. Für die Eltern und Großeltern ist es eine Selbstverständlichkeit, dass ältere Kinder von ihren jüngeren Geschwistern ebenso respektiert werden wie der Vater oder Großvater von der ganzen Familie. Doch diese konservativen anatolischen Wertewelten bröckeln inzwischen auseinander.

Dialoge wie in dem zum Zeitpunkt der Entstehung dieses Artikels noch unfertigen Film mit dem Arbeitstitel Miß-Wahl sind richtungweisend. So etwa der Vorwurf des jüngeren von zwei Söhnen an seinen Vater, sich nicht dem 21. Jahrhundert angepasst zu haben, weil er seine mögliche künftige Schwiegertochter wegen ihrer Teilnahme an einem Schönheitswettbewerb ablehnt. Der ältere Sohn leidet, weil er die Frau, die er liebt, wohl wegen des Drucks der Eltern und auch einiger Freunde nicht wird heiraten können.

Was in dem Stoff ebenso gut hervorgehoben wird, sind die Klüfte zwischen den Männern der ersten Generation je nach ihrer Herangehensweise als inzwischen aufgeklärte oder an Traditionen und Bräuchen festhaltende Familienväter. Diese Zerreißproben erschweren die Festlegung auf eine Identität als »Deutscher« oder als »Türke«. Spätestens an diesem Punkt aber beginnt die Suche nach einer gemeinsamen Identität. Wie könnte diese aber gestaltet werden?

Die noch unreifen Überlegungen nach der Entwicklung einer neuen Identität als »Deutsche« werden von Aussagen erschwert wie die von Alt-Bundespräsident Joachim Gauck. Seine Kritik an den dürftigen Deutschkenntnissen der älteren Türken in diesem Lande ist schlicht ungerechtfertigt und auch ungerecht. Von Menschen, die oft sogar nicht einmal lesen und schreiben konnten, als sie zum Arbeiten und nicht zum Integrieren angeworben worden waren, gute Deutschkenntnisse zu erwarten, ist unrealistisch. Zusammengepfercht in engen Heimen mit Schlafsälen voller Doppelbetten haben diese »Arbeitskräfte« gottergeben ihre Pflicht erfüllt: arbeiten, nicht aufmucken und dem Herrn dankbar sein.

Die Integration setzt nichts anderes voraus als die Akzeptanz des Grundgesetzes, der Regeln der öffentlichen Ordnung und der inzwischen in der Türkei nicht mehr den europäischen Maßstäben entsprechenden Gewaltenteilung. Es wird noch lange vor allem ältere Türkinnen und Türken geben, die in der Türkei ihre Heimat sehen, in Deutschland aber ihr Zuhause. Aber es können durchaus auch zwei Herzen in ihrer Brust schlagen. Keines dieser zwei Herzen kann das andere zum Stillstand bringen, ohne sich selbst einem Infarktrisiko auszusetzen.

Einen Weg zu einer gemeinsamen Identität bieten die Bemühungen von »neuen Deutschen«. Sie engagieren sich in Organisationen wie »Neue deutsche Medienmacher«, »Neue deutsche Organisationen« oder »Deutscher Soldat« für ein »inklusives Deutschland«, in dem Vielfalt als eine Selbstverständlichkeit akzeptiert wird. Nichtdeutsche Namen, die Hautfarbe oder die von Vorgängergenerationen vererbten kulturellen Wurzeln sollen nicht mehr darüber entscheiden, wer in die Führungspositionen bei gleicher Eignung mit deutschen Mitbewerbern aufsteigt und wer in den unteren Schubladen der Unternehmenshierarchien zurückbleibt.

»Postmigrantische Bewegung«

Diese neue »postmigrantische Bewegung« strebt aber nicht nur gleichberechtigte Chancen z. B. beim Berufseinstieg an. Vielmehr setzt sie sich gegen den neuen, vor allem von der AfD zu verantwortenden Anstieg rassistischer Gefahren für das gemeinsame Deutschland zur Wehr. Damit haben die »neuen Deutschen« den Schulterschluss mit deutschen Demokraten und zeitgenössischen Gesellschaftsschichten bereits geschafft. Zudem haben sie aufgezeigt, wie die neue gemeinsame Identität gestaltet werden kann. Deutsche, die ihre Herkunft nicht leugnen, diese jedoch gewinnbringend in die Waagschale einer neuen, vielfältigen deutschen Mehrheitsgesellschaft legen.

Sollten diese Ziele erreicht werden, wird auch Erdoğan es nicht mehr so leicht haben, neue Anhänger/innen für seine Alleinherrschaft zu rekrutieren. Menschen mit türkischen Namen und Wurzeln werden dann keinen Präsidenten aus der Türkei mehr brauchen, der ihnen eine neue Identifikation über die Religion und türkischen Nationalismus gibt. Nur dann wird es immer weniger Türkinnen und Türken am Rand der Gesellschaft geben, die sich von undemokratischen Phrasen und nationalistischem Getöse aus der Türkei einfangen lassen.

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