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Über die Suche nach Perfektion und ihre alltäglichen Perversionen Wer immer strebend sich bemüht

Das Buch im weißen Umschlag mit den goldenen Lettern ist ein Bestseller. Und das seit zwei Jahren. Homo Deus heißt das Werk des israelischen Historikers Yuval Noah Harari. Die Menschheit – das ist, kurz gesagt, die These des Buches – habe es weit gebracht, mit Werkzeugen, Wissenschaft und Religion die Bedrohungen durch Hunger, Not, Naturzwänge, Kriege und Gewalt in den Griff zu bekommen. Die materielle Produktion, sogar die der Lebensmittel, sei so gut wie automatisiert. Jedenfalls im Prinzip. Es bleibt im Grunde nicht mehr viel zu tun. Also werde sich die Menschheit nun daran machen, den Homo sapiens zu perfektionieren. Zunächst mit elektronischen Seh-, Hör- und Gehhilfen, Informationsbrillen, sodann mit Chemie und Stimulation von Gehirnzellen werden wir unsere Fähigkeiten und unsere Gesundheit steigern und schließlich den Tod besiegen – auf jeden Fall die Sterbegrenze immer weiter hinausschieben. Und da Automaten immer mehr Menschen überflüssig machen, werden wir uns die Welt nicht mehr mit mühevoller Arbeit aneignen müssen, sondern viele Welten erleben, ja sogar fühlen können – allerdings zunehmend virtuell.

Eine solche perfekte, reibungslos funktionierende große kapitalistische Weltmaschine, so Hararis These, sei die Konsequenz dessen, was er Humanismus nennt. Die Wissenschaft habe Gott ins Märchenbuch verbannt und im Gegenzug die Werkzeuge entwickelt, um die Welt zu einem Paradies zu machen.

Hararis Homo Deus ist die bisher letzte in einer langen Reihe von Perfektionsfantasien. Sie begann mit den frühchristlichen Ideen vom »Neuen Menschen« und dem Ende der Geschichte und fand ihre säkulare Gestalt im Fortschrittsglauben der bürgerlichen Aufklärung. Die kommunistischen Revolutionäre wollten einen Menschentypus hervorbringen, der, wie Leo Trotzki glaubte, »unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner sein werde«, ja, der »durchschnittliche Menschentyp werde sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe und Marx erheben (…)«.

Dieser Übermensch, den Harari kommen sieht, dürfte allerdings bis auf Weiteres nur in dem Teil der Welt entstehen, der in der angelsächsischen Diktion WEIRD heißt, ein Akronym für western, educated, industrialized, rich, democratic, zu Deutsch: westlich, geschult, industrialisiert, reich und demokratisch. Sonderbare oder gar übernatürliche Menschen. Angesichts von Klimawandel, Migration und Globalisierungsfolgen ist es allerdings mehr als zweifelhaft, ob das jemals zum Standardprogramm der Menschheit werden wird oder ob wir nicht eher auf eine neue Phase blutiger Kriege um Waren, Wasser und Lebenschancen zugehen. Vor allem: Selbst in Hararis Welt der gottgleichen Menschen wären die Einzelnen nur mehr Mollusken im Innern des globalen Gehäuses aus Plastik, Stahl, Bits, Fleischersatz und Algorithmen. Es wäre keine Steigerung, sondern ein Rückfall hinter den Homo sapiens.

»Menschliche Vollkommenheit und technische Perfektion sind nicht zu vereinbaren. Wir müssen, wenn wir das eine wollen, das andere zum Opfer bringen«, schrieb der konservative Ernst Jünger in dem Roman Gläserne Bienen aus dem Jahr 1957, in dem Mikroroboter durch die Luft fliegen und in großen Petrischalen künstliche Ohren gezüchtet werden. Und der Säulenheilige des freien Marktes, Adam Smith, schrieb schon 200 Jahre zuvor: »Mit fortschreitender Arbeitsteilung verlernt der Mensch, seinen Verstand zu gebrauchen und wird so stumpfsinnig und einfältig, wie ein menschliches Wesen nur werden kann. (…) Solch geistige Trägheit (…) stumpft ihn auch gegenüber differenzierten Empfindungen wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte ab. (…) Dies ist die Lage, in welche die Schicht der Arbeiter, also die Masse des Volkes, in jeder entwickelten und zivilisierten Gesellschaft unweigerlich gerät.« Smith fügte hinzu: »Wenn der Staat nichts unternimmt, sie zu verhindern.«

»Menschliche Vollkommenheit« denken wir nach wir vor auf der Ebene handwerklicher Werte. Der Soziologe Richard Sennett erhebt die handwerkliche Orientierung gar zur anthropologischen Konstante. Menschen streben in dem, was sie tun, nach Vollkommenheit. Es sei ein »dauerhaftes menschliches Grundbestreben: der Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen«. Das ist nicht nur das Privileg der Künstler. Danach strebt auch der Tischler, der einen fertigen Schrank noch einmal auseinandernimmt, weil eine Fuge nicht passgenau geraten ist; die Töpferin, die eine hauchdünne Schale noch einmal zum Tonklumpen zusammendrückt, weil sie die Symmetrie um einen Millimeter verfehlt hat; der Koch, der wochenlang an der Verfeinerung eines Kartoffelpürees arbeitet.

In einem Gedicht von W. H. Auden heißt es: »Man muss nicht sehen / was jemand gerade tut, / um zu erkennen, ob es seine Berufung ist / Man muss nur seine Augen beobachten: / Ein Koch, der eine Soße komponiert, ein Chirurg, / der den ersten Schnitt ansetzt, / ein Angestellter, der den Frachtbrief ausfüllt. / Sie alle haben denselben Gesichtsausdruck, / selbstvergessen in ihrer Aufgabe. / Wie wunderschön er ist, / ihr Augenblick auf ihren Gegenstand.«

Selbstverwirklichung in diesem Sinne ist der Augenblick der Selbstvergessenheit im Vollzug der eigenen Tätigkeit. Psychologen haben ihn als »Flow«bezeichnet. Eine Art ekstatischer Zustand, in dem man vollständig konzentriert ist: auf den Gegenstand, den Klang, die Handbewegung, den Gedanken. Ein Zustand, in dem keine störenden Gedanken oder Gefühle zwischen dem Ich und seiner Tätigkeit stehen, sich ein Gefühl von Zeitlosigkeit und Ernst einstellt und die Realität ringsum verschwindet, wie es bei spielenden Kindern zu beobachten ist.

Gute Arbeit für alle

10.000 Stunden, sagt eine alte Faustregel, braucht ein Handwerker, um zu seinem Grad an Perfektion zu gelangen. Nun können wir nicht alle Handwerker werden, schon gar nicht Künstler. Vor allem aber: Der romantische Einspruch gegen die Maschinenwelt ist in Gefahr, elitär und unsozial zu werden. Maschinen, Wissenschaft und Technik haben – getrieben vom Kapital – die Arbeit der überwiegenden Masse der Menschen erleichtert. Ein Schnitter auf dem Gut, ein Steinschneider, der Marmorblöcke zersägt, ein Töpfer, der eine Tasse gleich der anderen dreht – sie alle haben die Maschine als Erlösung von einem harten Los begrüßt. Und Maschinen haben, indem sie Mühsal und Not milderten, überhaupt erst die Möglichkeit geschaffen, dass tendenziell alle Bewohner dieser Maschinenwelt in einen anspruchsvollen, erfüllenden, ihre Fähigkeiten fordernden und steigernden Dialog mit der Wirklichkeit treten könnten.

Wohlstand als Reichtum an Zeit

Arbeit für alle – aber nicht im Sinne irgendeiner Beschäftigung: bei Amazon Pakete auszutragen, um ein Smartphone, das nächste Legopaket oder Verschleißtextilien zu kaufen, sondern gute Arbeit für alle, weil die Zeit, die wir für das Notwendige aufwenden, dank der Automation schrumpfen kann. Das war das Ziel eines Sozialismus, der sich nicht nur als Genossenschaft von Konsumenten, sondern als Bildungsbewegung verstand. Angesichts der kommenden Automatisierungswelle und des Überangebots an Arbeitskräften auf dem globalisierten Markt ist der Gedanke einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung mehr als aktuell. Die ökologischen Zwänge legen eine Gesellschaft nah, in der der Reichtum der Nationen nicht darin besteht, noch mehr billige Dinge für immer weniger Lohn herzustellen, sondern den Wohlstand als Reichtum an Zeit zu verstehen – Zeit, um die Geschicklichkeit unserer Hände, die Sensibilität unserer Ohren, die Feinheit unseres Geschmacks, die Geselligkeit mit anderen zu steigern, mit unseren Kinder die Geheimnisse der Welt noch einmal zu entdecken. Oder einfach: uns schön zu machen. Eine perfekte Gesellschaft – das wäre eine, die jedem Einzelnen ermöglicht, seinen Grad an Perfektion zu erreichen.

Die Zeit guter Handwerker kostet Geld – so viel Geld, dass sich heute nur wenige maßgeschneiderte Kleidung, individuellen Schmuck oder sechs Jahre Klavierunterricht leisten können. »Gutes Handwerk verlangt nach Sozialismus«, schreibt Richard Sennett. Das heißt: radikale Arbeitszeitverkürzung und eine Bildungsrevolution, die keine Begabung unentwickelt lässt, sodass allmählich im Reich der freien Zeit die Perfektionierung der individuellen Begabungen, Vorlieben, Obsessionen wachsen kann.

Wie sagte Adam Smith: Der Weg der überwiegenden Menge in eine Existenz von Stumpfsinn und Einfalt werde das Resultat des Homo sapiens sein, »wenn der Staat nichts unternimmt, es zu verhindern«.

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