Wenn wir Glück haben, liegt im Herbst das Schlimmste in Sachen Corona hinter uns. Die Pandemie ist unter Kontrolle, es geht wieder aufwärts, die Wirtschaft wächst, vielleicht sogar schneller als je zuvor, die Deutschen lassen ihrer Konsumlaune die Zügel schießen, reisen, feiern, genießen die neue alte Freiheit. Alle Deutschen? Was ist mit denen, die auch schon vor Corona nicht anständig von ihrer Hände und Köpfe Arbeit leben konnten, die nie die Chance hatten, ein paar Rücklagen zu bilden, um für Notfälle gewappnet zu sein, deren Einkommen beim besten Willen nicht ausreichten, um für die Zukunft ihrer Kinder und für ihr eigenes Alter vorzusorgen?
Es sind dies die Menschen, die Julia Friedrichs die neue Arbeiterklasse nennt. In ihrem Buch Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können schildert sie anschaulich, wie sich diese Menschen durchs Leben schlagen, welche Träume und Hoffnungen sie antreiben, wie sie immer wieder Niederlagen und Kränkungen hinnehmen müssen und sich dann oft enttäuscht von der Politik, von den Parteien, von der Demokratie abwenden. Wer gehört zu dieser neuen Arbeiterklasse? »Heute schaffen Arbeiter«, schreibt die Autorin, »eben nicht mehr unter Tage, nur selten in der Fabrik. Sie schleppen Pakete die Treppe hinauf oder Schmutzwäsche wieder hinunter, sie sitzen an der Supermarktkasse oder füllen auf der Fläche die Regale, sie verlegen schnelles Internet oder füllen Excel-Listen. Sie backen, mauern, kochen, putzen. Sie antworten am anderen Ende der Hotlines, bei Servicestellen, Verkaufsagenturen. Sie steuern Lkw oder Busse oder Müllwagen. Sie betreuen und bilden Kinder, pflegen Opa oder uns, wenn wir krank sind.« Es sind Menschen, bei denen das Monatsbudget aus dem kargen Nettoeinkommen besteht, die über keinerlei Rücklagen und keinerlei Familienvermögen verfügen, kurz: die von der Hand in den Mund leben.
In den USA machen diese Menschen bereits die Hälfte der Gesellschaft aus, in Deutschland haben sie seit den späten 80er Jahren an Zahl ständig zugenommen und machen derzeit annähernd 40 % der Bevölkerung aus. Es sind die, die es als erste merken, wenn die Mieten und die Tarife für die öffentlichen Verkehrsmittel steigen, die am Essen sparen müssen, damit die Kinder an der Klassenfahrt teilnehmen können. Die Bezeichnungen für diese Menschen variieren: Ungelernte, Niedriglöhner, Vertragsarbeiter, Scheinselbstständige, freie Mitarbeiter; was sie alle eint, ist, dass sie ausschließlich von ihrer Arbeit leben und sofort auf Hartz-IV-Niveau abzusinken drohen, wenn sie krank werden und nicht mehr arbeiten können. Die Wenigsten von ihnen sind gewerkschaftlich organisiert. Das ist nicht allein den Gewerkschaften als Versäumnis anzulasten, aber Tatsache ist, dass die Gewerkschaften bei uns ähnlich wie in den USA vor allem eine Interessenvertretung der Festangestellten und der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sind.
Bis in die 80er Jahre hinein konnten die meisten arbeitenden Menschen in der Bundesrepublik noch hoffen, sich in ein, zwei Generationen in den sogenannten Mittelstand hochzuarbeiten, was den Soziologen Helmut Schelsky dazu verführte, dem Land das irreführende Etikett einer »nivellierten Mittelstandsgesellschaft« aufzukleben. Natürlich waren auch damals die sozialen Unterschiede keineswegs nivelliert. Richtig aber ist, dass damals der Satz »Unsere Kinder werden es einmal besser haben« für die Mehrheit der arbeitenden Menschen durchaus zutraf. Es ging tatsächlich für die Mehrheit der Deutschen von Generation zu Generation aufwärts, und weil es aufwärts ging, hatten sie den Eindruck, dass es sich lohnte sich anzustrengen. Sie waren stolz auf ihre Leistung und fühlten sich respektiert.
Das alles änderte sich freilich, als sich seit den 90er Jahren die neoliberale Wirtschaftsdoktrin auch in Europa durchsetzte und im Namen von Globalisierung und Finanzialisierung der sozialstaatliche Nachkriegskompromiss aufgekündigt wurde. Die großen Konzerne lagerten immer mehr Leistungen an Zulieferer aus, aus Festangestellten wurden immer häufiger Vertragsarbeiter und Scheinselbstständige. Gleichzeitig wurden viele öffentliche Leistungen und Einrichtungen privatisiert. Heute, das zeigen die Texte in dem von Maria Barankow und Christian Baron herausgegebenen Sammelband Klasse und Kampf, bleibt selbst bei denen, die sich trotz allem ein Stück weit nach oben arbeiten konnten, oft ein untilgbarer Makel und Gefühl der Minderwertigkeit zurück. Was bis heute wie eine bleierne Last auf der Sozialdemokratie liegt, ist die unleugbare Tatsache, dass auch sozialdemokratische Politiker wie Tony Blair und Gerhard Schröder den fatalen Kurswechsel zum Neoliberalismus mitmachten. Ach ja, und auch das sollten wir nicht vergessen: dass auch die seinerzeit mitregierenden Grünen an dem sozialen Zerstörungswerk beteiligt waren, was sie bis heute gern verschweigen.
Inzwischen ist Deutschland, was die Vermögensverteilung angeht, eines der ungerechtesten Länder der Welt. »Die reichere Hälfte des Landes«, so Friedrichs, »hält 99 Prozent des Vermögens, die wohlhabendsten 10 Prozent 60 Prozent. Innerhalb der Eurozone ist die Verteilung nur in Litauen und Irland noch ungleicher als in Deutschland (…) Jeder zehnte Deutsche ist überschuldet, kann seine Rechnungen nicht bezahlen. Ein Drittel der Menschen dümpelt bei null.« Wundern muss man sich über das groteske Missverhältnis bei der Vermögensverteilung nicht, wenn der deutsche Staat sich vor allem durch Steuern auf Konsum und Arbeit (Einkommensteuer, Mehrwertsteuer) und dazu Sozialabgaben finanziert, der Durchschnittssatz der Körperschaftsteuer zuzüglich der Gewerbesteuer in Deutschland bei gerade mal 15 % liegt und die Vermögensteuer seit 1997 faktisch abgeschafft ist.
Wie die an der Law School der Columbia Universität in New York lehrende Katharina Pistor in einer gründlichen Studie unter dem Titel Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft überzeugend dargelegt hat, ist es die rechtliche Bevorzugung des Eigentums, die inzwischen dazu geführt hat, dass von der in Artikel 14, Absatz 2 des deutschen Grundgesetzes formulierten Sozialbindung des Eigentums heute so gut wie nichts mehr übrig geblieben ist. Der Satz »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« ist durch die rechtliche Einhegung immer neuer Eigentumstatbestände heute weitgehend außer Kraft gesetzt worden. Wer daran etwas ändern will, so Pistor, findet sich »eingeklemmt zwischen Kapitalinhabern auf der einen Seite, die das Recht für sich selbst beanspruchen, und einer demokratischen Öffentlichkeit auf der anderen, die verzweifelt versucht, die Kontrolle über ihr eigenes Schicksal wiederzuerlangen«.
In dieser Klemme befindet sich auch die SPD, die seit vielen Jahren in schwarz-roten Koalitionen zusammen mit der Union im Bund regiert. Es ist ja richtig, dass in den letzten Jahren Sozialdemokraten hier und da Versuche unternommen haben, zu korrigieren, was in den Schröder-Fischer-Jahren in die falsche Richtung ging. Es wurden wichtige soziale Verbesserungen durchgesetzt: Ein Mindestlohn wurde eingeführt und inzwischen erhöht, die Kitagebühren weitgehend abgeschafft, kleinere Korrekturen bei den Renten vorgenommen, der Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung wurde sanft angehoben, der Hartz-IV-Satz moderat erhöht… Sozialdemokratische Ministerinnen und Minister, allen voran Arbeitsminister Hubertus Heil, aber auch Franziska Giffey und Christine Lambrecht, zuletzt auch Olaf Scholz und Heiko Maas, haben sich bemüht, das Profil der SPD zu schärfen. Aber an der grundsätzlichen sozialen Schieflage hat sich dadurch bisher wenig verändert.
Die soziale Spaltung ist das eine politische Großproblem, das die nächste Bundesregierung anpacken muss, und vielleicht kann der steuerpolitische Kurswechsel der USA unter Joe Biden hier hilfreich sein. Das andere Großproblem ist der sich dramatisch zuspitzende Klimawandel. Was ist in diesem Punkt zu erwarten, wenn die Corona-Krise zu Ende geht? Setzen wir, wenn die Pandemie gezähmt ist, erst recht wieder auf Wachstum, auf Wachstum um jeden Preis, und hoffen, dass das Problem des Klimawandels sich irgendwie von selbst löst? Werden wir dem großen Kapital noch gefügiger sein als bisher, weil vom Wohlwollen der großen Investoren ja ganz wesentlich abhängt, wie schnell unsere Wirtschaft wieder wächst? Und wer wird die Zeche bezahlen, wenn die Schadensbilanz Jahre später eröffnet wird? »Der Coronakrise«, schreibt Davide Brocchi in dem von Franziska Richter herausgegebenen Sammelband Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert, »werden wahrscheinlich eine Wirtschaftskrise und eine Staatsschuldenkrise folgen. Werden die Profite wieder privatisiert und die Kosten sozialisiert? Wer gilt dieses Mal als ›systemrelevant‹: die Fluggesellschaften, während sich die Erderwärmung weiter verschärft?«
»Opposition ist Mist«, mit dieser Formel hat Franz Müntefering einmal verzagten Sozialdemokraten Mut machen wollen, auch in schwierigen Zeiten politische Verantwortung zu übernehmen. So weit, so gut. Aber ist auch allen, die ihm in diesem Punkt zustimmen, klar, wie viel Mut und Kraft dazu gehören werden zu regieren, wenn es im Herbst doch noch zu Rot-Grün-Gelb reichen sollte? (Von Rot-Grün-Rot als Option wagt man ja gar nicht mehr zu reden.) Würde sich in einer Koalition mit der FDP die dringend erforderliche Korrektur der skandalösen Verteilungsungerechtigkeit durchsetzen lassen? Würden Sozialdemokraten nun entschlossen daran gehen, den vielen systemrelevanten, aber miserabel bezahlten Pflegern und Krankenschwestern, die in der Coronazeit beklatscht wurden, ein höheres Einkommen zu sichern, auch wenn die Caritas sich weiter querlegt? Hätte ein sozialdemokratischer oder ein grüner Bundeskanzler den Mut und die Kraft, die Reichen und Superreichen höher zu besteuern? Und: Würde es die SPD aushalten, wenn das für den Zusammenhalt der Gesellschaft so wichtige Versprechen sozialer Gerechtigkeit und der Erhaltung der Biosphäre auch diesmal wieder gebrochen würde?
»Eine ökologische Gesellschaft muss vor allem mit dem neoliberalen Grundkonsens brechen«, schreibt Leander Scholz in dem schon erwähnten Sammelband von Franziska Richter. »Sie muss einen starken öffentlichen Sektor haben und den Kommunen die Möglichkeit geben, gemeinwohlorientierte Unternehmen bei der Ansiedlung zu bevorzugen. Statt weiter auf Arbeitsverdichtung zu setzen, benötigen wir eine Vier-Tage-Woche und mehr Raum für andere Tätigkeiten. Die stetige Steigerung des Bruttosozialprodukts wird unsere Probleme nicht lösen. Sie kommt zunehmend nur noch einer Minderheit zugute. Und jedes weitere Wachstum verschiebt die Probleme bloß in die Zukunft.« Es hat sich viel verändert in den Köpfen der Menschen, auch im Einzugsbereich der SPD und der Gewerkschaften. Um diesen Bewusstseinswandel in politische Praxis umzusetzen, brauchen wir Politiker, die die Kunst beherrschen, das Notwendige möglich zu machen, und Wähler, die sich den Problemen stellen, statt von einer Normalisierung im Modus eines scheinbar bequemen, aber am Ende desaströsen Weiter-so zu träumen.
Maria Barankow/Christian Baron (Hg.): Klasse und Kampf. Ullstein, Berlin 2021, 224 S., 20 €. – Julia Friedrichs: Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können. Piper, München 2021, 320 S., 22 €. – Katharina Pistor: Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft. Suhrkamp, Berlin 2020, 440 S., 32 €. – Franziska Richter (Hg.): Echoräume des Schocks. Wie uns die Corona-Zeit verändert. Reflexionen Kulturschaffender und Kreativer. Eine Anthologie. J.H.W. Dietz, Bonn 2020, 192 S., 16 €.
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