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Christian Matés Buch über Medizin und künstliche Intelligenz Werden Ärzte überflüssig?

Bei einer traditionellen Vorsorgeuntersuchung schaut sich z. B. der Hautarzt all die Muttermale, Leberflecken, Alters- und sonstigen Pigmentflecken seines Patienten an, um eine möglicherweise bösartige Veränderung aufzuspüren. Ärzte sind darin unterschiedlich gut: Es hängt ab von ihrer Übung, von Fortbildungen, von der zur Verfügung stehenden Zeit, und sicher ist dabei auch Glück im Spiel – oder Pech. Die gute, vielleicht aber auch beunruhigende Nachricht lautet: Schon heute sind Computerprogramme bei dieser Arbeit den Ärzten deutlich überlegen. Mit größerer Treffsicherheit sind sie in der Lage, ein malignes Melanom zu identifizieren.

Was den Programmen derzeit noch Schwierigkeiten bereitet, ist die Fähigkeit, das Spektrum dermatologischer Erkrankungen in der gesamten differenzialdiagnostischen Breite korrekt zu erfassen. Aber in wenigen Jahren wird auch das kein Problem mehr sein. Auch Röntgen-, Computertomografie- und Magnetresonanztomografiebilder können Computerprogramme heutzutage schon so gut wie Fachärzte bewerten, manchmal sogar besser.

Diese und andere Entwicklungen bringen den Mediziner und Wissenschaftsjournalisten Christian Maté zu der Frage, ob künstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst über kurz oder lang überflüssig machen wird. In seinem Buch Medizin ohne Ärzte geht es im ersten Teil zunächst um eine Bestandsaufnahme, wie weit dieser Prozess derzeit bereits fortgeschritten ist. Medizinische Programme haben jederzeit Zugriff auf alle 55.000 in der »Internationalen Klassifikation der Krankheiten und verwandten Gesundheitsprobleme« (ICD-10 Code) erfassten Diagnosen, was vor allem beim Erkennen von rund 5.000 besonders seltenen Krankheiten Lebenszeit retten kann.

Für viele Behandlungen ist es schon heute nicht mehr nötig, den Arzt in seiner Praxis aufzusuchen. Blutzuckerpatienten verabreichen sich eigenständig die notwendige Insulingabe. In vielen Haushalten finden sich Blutdruckmessgeräte. Und mit der Apple Watch kann man ein Einkanal-EKG aufzeichnen, das in der Lage ist, ein Vorhofflimmern des Herzens zu diagnostizieren. Forscher der University of California haben gar schon Nanoroboter entwickelt, die als ferngesteuerte Miniputztruppe das Blut von Toxinen und Bakterien reinigen können. Bereits nach fünf Behandlungsminuten beseitigten sie in verunreinigten Blutproben ein Drittel der giftigen Bakterien.

Wohin also könnte die Reise gehen? Das diskutiert Autor Christian Maté im zweiten Teil seines Buches. Er entwirft folgendes Szenario: Als erste Facharztgruppe könnten die Radiologen überflüssig werden, da die Maschinen die Bilder von Computertomografie und MRT viel schneller und exakter analysieren und bewerten als menschliche Ärzte. Mittels intelligenter Sprachprogramme wäre es dann möglich, die Befunde direkt an das nächste medizinische Behandlungszentrum zu schicken.

Auch Gewebeschnitte könnten selbstlernende Maschinen deutlich besser beurteilen als ihre menschlichen Pendants. Labore würden dann nahezu vollautomatisch arbeiten. Die AGI, die »Artificial General Intelligence«, wird ihre Datensätze und damit ihre Beurteilungsgrundlagen nicht mehr anhand menschlicher Feedbacks schulen, sondern durch die Speicherung von zahllosen neuen Datensätzen, die sie miteinander vergleichen kann, um darin Muster aufzuspüren. Damit wird sie zur selbstlernenden Maschine. Hier sei ein ausführliches Zitat erlaubt: »Dr. AGI aus dem Jahr 2030 hat gegenüber seinen menschlichen Kollegen eine Reihe von Vorteilen: Da wäre einmal seine unbegrenzte Speicherkapazität und seine direkte Vernetzung mit wissenschaftlichen Datenbanken, Journalen und klinischen Leitlinien. Dieser Doktor ist immer up to date und optimal informiert. Die bisherige zeitliche Verzögerung zwischen der Publikation von neuen Informationen und Daten und deren Berücksichtigung in der klinischen Praxis wird es nicht mehr geben. Indem der digitale Doktor im Zuge der Behandlung seiner Patienten selbst laufend Daten über therapeutische Ergebnisse produziert, kann er nicht nur stets individuell nachjustieren, er trägt auch direkt zur Produktion von neuem medizinischen Wissen bei, das er dann in Echtzeit gleich wieder anwenden kann.«

Werden Ärzte also über kurz oder lang tatsächlich überflüssig? Maté hat unterschiedliche Antworten parat. Wenn es gut läuft, meint er, könnte jeder Patient in Zukunft von einem virtuell vernetzten Team von Ärzten versorgt werden. Dr. AGI könnte nun seine Fähigkeiten als Manager von Prozessen einsetzen und aus dem virtuellen Ärzteteam jene Mitglieder verständigen, die aufgrund der fachlichen Zuordnung geeignet sind, die diagnostische Hypothese zu bestätigen und zu behandeln. Befreit von zahllosen Aufgaben, könnten Ärzte sich viel intensiver auf ihre Patienten mitfühlend einlassen.

Wenn es weniger gut läuft – und wann läuft es schon wirklich gut? – könnte sich das Gesundheitssystem der Zukunft in eine Dreiklassenmedizin aufsplitten: Geringverdiener könnten sich nur das Modell »Dr. AGI for free« leisten. Ihr Gesundheitsmanagement würde dann ausschließlich von den intelligenten Medizinmaschinen übernommen. Die mittleren krankenversicherten Einkommensgruppen könnten eventuell das Modell »Dr. AGI premium« bekommen: Ein Gesundheits- und Krankheitsmanagement durch intelligente Maschinen, allerdings mit ärztlicher Überwachung. Nur für wohlhabende Patienten wird es dann vermutlich private Zusatzversicherungen mit dem Produkt »Doktor plus« geben für ein einzigartiges, individuelles Heilerlebnis, das von einem echten Arzt aus Fleisch und Blut begleitet wird, der jederzeit für Sorgen und Nöte ansprechbar bleibt. Warum? Weil sich dies wahrscheinlich besser anfühlen wird.

Christian Maté: Medizin ohne Ärzte. Ersetzt künstliche Intelligenz die menschliche Heilkunst? Residenz, Salzburg 2020, 176 S., 22 €.

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