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© picture alliance / Zoonar | Mathias Fengler

»Werden sich die USA wieder verstärkt in Europa engagieren?«

Rüdiger Lentz

Ja, weil die über 70 Jahre währende strategische Partnerschaft mit den USA, trotz aller zwischenzeitlichen Verstimmungen, ein Garant für Stabilität in Europa und von Vorteil für beide Seiten war.  

Die entscheidende Frage, die sich uns aktuell stellt, lautet: Können wir – also Deutschland und Europa – allein die politische, militärische und gesellschaftliche Stärke aufbringen und auf Amerika ganz verzichten? Vor allem in Zeiten zunehmender globaler Spannungen? Zumindest Westdeutschland ist jahrzehntelang politisch und wirtschaftlich unter dem globalen Schutz der Amerikaner gut gefahren. Aber dabei haben wir unsere Augen vor den wachsenden Gefahren des chinesischen Einflusseses in Asien und der russischen Bedrohung, insbesondere gegenüber unseren ost- und nordeuropäischen Nachbarn die Augen verschlossen. Und es sind diese neuen Herausforderungen die jetzt Antworten von uns verlangen.
 
»Amerika, du hast es besser als unser Kontinent, der alte (...)«, konstatierte vor über 200 Jahren Johann Wolfgang von Goethe. Das geflügelte Wort von damals kann man auch heute noch nachvollziehen: Amerika hatte sich gerade im Unabhängigkeitskrieg von dem Joch britischer Vorherrschaft befreit, bot religiös und politisch Verfolgten Zuflucht und Zukunft, predigte den Gleichheitsgrundsatz und war eine Macht, von der man damals schon ahnen konnte, dass sie einmal Weltgeltung erlangen würde. 
Und heute: Amerika ist ein zutiefst politisches und wirtschaftlich zerrissenes Land. Ein Land der Gegensätze, das Donald Trump hervorgebracht hat, den Vietnam-Krieg und zwei Irak-Kriege geführt hat, dessen Gesundheitssystem überteuert ist, dessen soziales Netzwerk noch immer im Vergleich zu europäischen Ländern unterentwickelt ist und dessen Versuche Demokratie im Namen Amerikas zu exportieren, sei es im Irak oder in Afghanistan allesamt entweder gescheitert oder aber an ihre Grenzen gestoßen sind. Grund genug also für Europa, sich von Amerika abzuwenden und unser Heil allein in der Zukunft des alten Kontinents zu suchen? Sich auf uns selbst zu besinnen und sich von der transatlantischen Gemeinschaft endgültig zu emanzipieren? 
 
Sicher: Der Sehnsuchtsort von heute ist nicht mehr allein Amerika, sondern zunehmend Europa. Das ist der Grund, warum die Ukraine nach Europa will. Das ist der Grund, warum Zehntausende russischer Intellektueller und Studenten ihr Land in Scharen verlassen, das ist der Grund warum Migranten aus Afrika und Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien Europa als sicheren Hafen und zukünftige Heimat ansteuern. Das Bild eines starken und zukunftsfähigen Europas besitzt eine Anziehungskraft wie schon lange nicht mehr. Und der Wahlerfolg von Macron hat weiter mit dazu beigetragen. Aber reicht das? Ist das schon genug sich endgültig von Amerika abzulösen und sich allein auf die eigene Stärke und Zukunftsfähigkeit zu verlassen?
 
Viele in Europa glauben jetzt sei das europäische Zeitalter angebrochen und die Ablösung von Amerika nur eine Frage der Zeit. Doch die Wahrheit ist: jede Trennung von Amerika würde uns mehr schaden als nützen. Der Ukraine-Krieg und die enge Abstimmung mit den USA in den letzten Wochen hat bewiesen, wie schnell, unbürokratisch und solidarisch die Weltmacht Amerika auf große Krisen reagieren kann und wie notwendig die USA auch weiterhin für die Sicherheit Europas sind. Fünf Gründe, die für eine Fortsetzung der transatlantischen Beziehungen, ja sogar für eine Ausweitung und Neudefinition sprechen.
 
Erstens: Die geopolitische Neuordnung, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg, steht gerade erst am Anfang. Und sie umfasst nicht nur den Bereich der Politik und Strategie, sondern auch die Wirtschaft, die Wissenschaft und das Klima. Ein isoliertes, aber geostrategisch aggressives Russland, mit China eine Konkurrenz im Osten, die wächst und Supermacht Nummer eins werden will und einem Europa, dass sich angesichts des Krieges und der Krise erstaunlich einig und widerstandsfähig gezeigt hat. 
Aber das reicht nicht. Ja, wir müssen Europa stärken, aber wir müssen auch die transatlantische Achse weiter ausbauen und gemeinsam mit den USA unsere Beziehungen zu Russland und China neu ordnen. Und dazu gehört auch, dass wir die strategische Souveränität Europas stärken, unsere Abhängigkeiten im wirtschaftlichen wie militärischen Bereich verringern und dadurch die Fähigkeit erhalten, global unabhängiger zu agieren. Europa und die USA brauchen einander als komplementäre Partner. Und auch wenn diese Erkenntnis manchen nicht gefallen mag, die gegenwärtigen Umbrüche zwingen uns mehr als je zum gemeinschaftlichen Handeln und zum strategischen Konsens mit den USA.

Zweitens: Und dabei wird es auch entscheidend auf die deutsch-französisch Zusammenarbeit ankommen. Sie war schon in der Vergangenheit Europas immer wieder Stabilitätsanker der europäischen Zusammenarbeit und Motor des Fortschritts. Jetzt muss dieser Motor beweisen, dass er auch zukunftsfähig ist. Und das kann nur im Duo zwischen dem Europavisionär Emmanuel Macron und dem kühlen und zurückhaltenden Pragmatiker der Macht, Olaf Scholz, gelingen. Vielleicht kein Traumpaar aber eine Konstellation, die ein Erfolgsmodell für die Zukunft Europas sein könnte. Aber beide wissen auch: Das geht nur mit und nicht gegen Amerika!
 
Drittens: Beispiel Transformation und gesellschaftlicher Wandel: Auf drei Feldern sind wir entscheidend gemeinsam gefordert: bei der Bekämpfung des Klimawandels, bei der Umstellung unserer Industrien und Wirtschaft auf nachhaltiges Wachstum und bei der Frage wie wir die politische Mitte stärken und es schaffen, die Menschen bei diesen wichtigen Transformationsprozessen mitzunehmen.

Viertens: Und bei allen drei Bereichen spielt eine enge Abstimmung und Zusammenarbeit mit Amerika eine entscheidende Rolle. Denn nicht nur unser immer noch vorhandene demokratische Wertekanon hält uns zusammen. Auch die Bereitschaft und Fähigkeit, auf diese Fragen Antworten zu finden solange sich unsere demokratisch gewählten Regierungen darauf verständigen können, ist einer der entscheidenden Gründe für das Postulat: ohne Amerika ist alles nichts, mit Amerika geht vieles besser. 
Aber dazu gehört auch, dass wir den populistischen Strömungen, die Trump ins Weiße Haus gebracht haben und die auch in Europa virulent sind, gemeinsam entgegentreten. Wie wir unsere Demokratien resilient gegen diese Bedrohungen von innen machen, wird eine der Zukunftsfragen sein die auch die europäisch-amerikanische Zusammenarbeit bestimmen werden.

Fünftens: Unsere Westbindung und transatlantische Ausrichtung, die uns über 70 Jahre Sicherheit und Wohlstand garantiert hat, heißt aber nicht, dass wir den Osten darüber vernachlässigen dürfen. Ganz im Gegenteil: der Osten hat durch den Krieg in der Ukraine und die gewachsene Bedrohung durch Russland wieder eine ganz neue Bedeutung erlangt. Für viele im Westen war der Osten Europas eine Vergangenheit, die allein durch die Tatsache des Mauerfalls schon überwunden schien. 
Amerika hat die Bedeutung Osteuropas für die strategische Sicherheit des Kontinents sehr viel früher richtig eingeschätzt und daraus Konsequenzen gezogen. Für viele in Europa brauchte es erst den Angriff Russlands auf die Ukraine, um uns die Augen zu öffnen. Eine neue europäische Sicherheits-und Friedensordnung 2.0 muss deshalb die Sicherheitsbedürfnisse unserer ost- und nordeuropäischen Nachbarn mehr berücksichtigen. Und das ist nur durch die Präsenz amerikanischer Truppen in West-und Osteuropa möglich.

Natürlich hat es in den transatlantischen Beziehungen in den über 70 Jahren immer wieder Konflikte und Auseinandersetzungen gegeben. Man denke nur an die umstrittene Wiederaufrüstung der jungen Bundesrepublik, die Stationierung von Nuklearwaffen, die NATO-Nachrüstung, den Vietnam-Krieg und die gescheiterten Versuche des amerikanischen »Demokratieexports« im Irak und Afghanistan. 
Aber es gibt eben auch die gegenteiligen Beispiele: die Luftbrücke, die West-Berlin vor der Strangulation gerettet und seinen Bürgern die Freiheit garantiert hat; die Wiedervereinigung, die ohne die aktive Unterstützung von George Bush senior und seinem Einwirken auf Großbritannien, Frankreich und Russland nicht zustande gekommen wäre; und nicht zuletzt die stabilen und ständig gewachsenen Handelsbeziehungen mit den USA, die Hauptursache unseres durch Exporte und Handelsbilanzüberschüsse zustande gekommenen Wohlstandes sind.

Noch entscheidender aber für die über 70 Jahre währende strategische Partnerschaft mit den USA war und ist die erfolgreiche Zusammenarbeit in der NATO. Und daran hat sich nichts geändert. Auch heute noch sind deutsche und europäische Sicherheitsinteressen besser in der Zusammenarbeit mit den USA zu realisieren als der Chimäre einer »strategischen Autonomie« Europas hinterher zu träumen. 
Sicher es gibt PESCO und es gibt rudimentäre Ansätze einer europäischen, sicherheitspolitischen Zusammenarbeit. Aber sie ist bisher immer wieder durch nationale Egoismen, Souveränitätsvorbehalte und der mangelnden Bereitschaft an Grenzen gestoßen eine eigene, schlagkräftige europäische Verteidigungsstreitmacht aufzustellen. 
Fachleute schätzen, dass Europa mehr als 300 Milliarden Euro pro Jahr mehr ausgeben müsste, um den amerikanischen Militäranteil in der NATO und die amerikanische Sicherheitsgarantie für Europa zu ersetzen. Und das betrifft nur den konventionellen Anteil an der Bündnisverteidigung, die atomare Abschreckung und Schutzgarantie durch die USA für Europa ist weder durch die französische Force de Frappé noch durch die britische Atommacht zu ersetzen. Denn beide sind zuvörderst nationale Abschreckungspotenziale und nicht für die Verteidigung des gesamten Kontinents vorgesehen.
 
Eine neue, europäische Sicherheitsarchitektur ist deshalb nur mit und nicht gegen die Amerikaner zu entwickeln. Das heißt, es geht jetzt darum, unsere strategischen Interessen mit denen der Amerikaner so in Übereinstimmung zu bringen, dass beide Seiten ein Optimum an gemeinsamer Sicherheit gewinnen. Und dafür bietet sich die NATO als Clearinghaus wie keine andere Institution an: Sie hat schon in den 70er und 80er Jahren bewiesen, dass sie auf Bedrohungen, wie die sowjetische Vorrüstung durch Mittelstreckenwaffen – die im Übrigen der damalige SPD-Bundeskanzler Helmut Schmidt als Erster erkannt hatte – entsprechende Antworten finden kann.

Und der Angriff Russlands auf die Ukraine hat gezeigt, dass die westliche Verteidigungsallianz für die politische, soziale und wirtschaftliche Überlebensfähigkeit Europas noch immer essenziell ist. Beredte Beispiele dafür sind Schweden und Finnland, die der NATO beitreten wollen. Es ist das transatlantische Bündnis, das Ihnen diese Sicherheitsgarantien gibt. Nicht die EU!  

Die aktuelle Krise gibt uns jetzt die Chance, die NATO als das eigentliche Instrument europäischer Sicherheitsarchitektur neu zu beleben. Und den europäischen Pfeiler in ihr so zu stärken, dass wir in Zukunft als gleichberechtigte Partner mit den USA gemeinsam transatlantisch agieren können. Denn nur mit einer starken NATO und einer erstarkten EU werden wir auch für Russland wieder ein ernstzunehmender Dialogpartner. Denn das waren wir in den 80er Jahren. Damals war das mit ein Auslöser für weitreichende Abrüstungsschritte und gemeinsame Sicherheitsgarantien für ganz Europa. Den Geist dieser neuentdeckten Stärke Europas gilt es jetzt zu nutzen. Für einen strategischen Konsens mit Amerika! Dies liegt im virulenten Interesse auch der USA.
 

Josef Braml

Nein,weil die innenpolitischen Probleme die angeschlagene Weltmacht USA weiterhin nötigen, ihre geostrategische Umorientierung nach Asien zu forcieren, wo es vornehmlich gilt, dem ökonomischen und militärischen Herausforderer China zu begegnen. Auf absehbare Zeit bleiben Russland und Wladimir Putins völkerrechtswidriger Angriff auf die Ukraine vornehmlich Europas Problem.

Deutschland und Europa sollten künftig vielmehr eigene größere militärische und diplomatische Anstrengungen unternehmen, um sich gegen Erpressungsversuche des russischen Machthabers oder die Launen einer möglichen zweiten Amtszeit des Putin-Bewunderers Donald Trump zu wappnen. Umso dringlicher ist es für die Europäer, das »Sicherheitsdilemma« vor allem im Verhältnis zum Nachbarn Russland zu verringern. Es ist problematisch, diese Aufgabe an die USA zu delegieren, da deren aktuelle Herausforderungen, ihre Geschichte und Geografie andere geopolitische Interessen nahelegen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges waren die USA für einen historischen Moment die einzig verbliebene Supermacht, und es schien, als könnten sie den Globus nach ihrem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Modell neu ordnen. Die Formel vom »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) machte die Runde. Diese Hoffnungen haben sich nicht erfüllt. In der Regierungszeit von George W. Bush überstrapazierten die USA ihre Kräfte. Vor allem aber verspielten sie viel von ihrem »Soft-Power-Kapital«, da sie sich selbst nicht an die internationalen Regeln und Werte hielten, die sie dem Rest der Welt oft auch mit militärischem Nachdruck, mit ihrer hard power, »empfahlen«. Die dramatischen Konsequenzen ihrer fehlgeleiteten Realpolitik, vor allem im Mittleren, für uns Nahen Osten tragen allerdings nicht die USA selbst, sondern die Menschen vor Ort und im nahegelegenen Europa.

Es sollte also gerade vor dem Hintergrund des mörderischen Angriffskriegs Putins gegen die Ukraine nicht vergessen werden, dass auch der Irak-Krieg von 2003 ein strategisch kontraproduktiver völkerrechtswidriger Angriffskrieg war, der selbst nach konservativen Schätzungen amerikanischer Forscherinnen und Forscher von der Washington University, der Johns Hopkins University und der Simon Fraser University etwa eine halbe Million Menschen das Leben gekostet hat. Die Bush-Regierung täuschte die Weltöffentlichkeit bewusst in der Frage der Kriegsbegründung (gefälschte Beweise für die Existenz von angeblichen Massenvernichtungswaffen) und stürzte den Irak ins Chaos. Bis heute ist dessen Staatlichkeit prekär. Die Enthüllungen über die Praktiken im Gefängnis von Abu Ghraib bedeuteten dann den endgültigen moralischen Bankrott der westlichen Führungsmacht. Während man im Westen das alles aber erstaunlich schnell wieder vergaß, besitzen die geopolitischen Rivalen China und Russland ein deutlich besseres Gedächtnis.

Diese Fehler und Verbrechen der Vergangenheit können selbstverständlich nicht als Rechtfertigung für das aktuelle menschenverachtende Vorgehen der russischen Streitkräfte dienen, ist der russischen Führung aber eine willkommene Argumentationshilfe.

Bauernopfer der Großmächte

Es macht die Lage für das machtvergessene und friedliebende Europa umso prekärer, wenn nun Russland nach amerikanischem Vorbild idealistische Propaganda bemüht. »Putins Krieg«, der schon vielen Menschen in der Ukraine das Leben kostete und ihrer Heimat beraubte, war im Kern jedoch realpolitisch motiviert und auch für Geostrategen in Washington vorhersehbar.

Bereits im Mai 1998, unmittelbar nachdem der US-Senat die NATO-Erweiterung ratifiziert hatte, kritisierte der damals 94-jährige George Kennan die geostrategische Kurzsichtigkeit, den »tragischen Fehler«, Russland damit in die Enge zu treiben und eine künftige Auseinandersetzung zu provozieren. Russland würde, so Amerikas renommiertester Russland-Experte und Architekt der erfolgreichen Eindämmung der Sowjetunion, mit scharfsinniger Voraussicht, »allmählich ziemlich negativ reagieren« und die USA mit einem strategischen Dilemma konfrontieren: »Wir haben uns verpflichtet, eine ganze Reihe von Ländern zu schützen, obwohl wir weder über die Mittel noch über die Absicht verfügen, dies ernsthaft zu tun.« Eine zu erwartende aggressive Reaktion Russlands würden die Befürworter der NATO-Erweiterung dann wohlfeil als Rechtfertigung für ihre kurzsichtige Entscheidung nehmen, die für die Eskalation eigentlich den Ausschlag gab. Und genauso, wie Kennan es vorhersagte, sollte es kommen.

Aus guten Gründen durchkreuzten seinerzeit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy vorerst die Pläne des damaligen US-Präsidenten, auf dem NATO-Gipfel in Bukarest im April 2008 auch noch Georgien und die Ukraine in die NATO aufzunehmen: Diese Entscheidung hätte Russland bis aufs Äußerste provoziert.

Überhaupt betrachtet die russische Führung die post-sowjetischen Staaten als Puffer gegen Sicherheitsbedrohungen von außen. Die an der Grenze zur NATO liegenden Staaten bilden im strategischen Kalkül Moskaus einen vorgelagerten Verteidigungsring. Hinzu kommt, dass im Falle eines NATO-Beitritts Georgiens und der Ukraine inklusive der Krim und Abchasiens das Schwarze Meer zu einem NATO-Meer würde. Dies erklärt auch, warum sich Moskau die Kontrolle über die Krim und Abchasien sicherte. Mit beiden Territorien besitzt der Kreml die Möglichkeit, der NATO den Zugang zum Schwarzen Meer zu verwehren, ohne sie kann hingegen die NATO Russland von den Meerengen am Bosporus abschneiden.

Die Sicherheitsinteressen Moskaus sind durch die NATO-Beitrittsperspektiven für Georgien und die Ukraine also massiv betroffen. Deswegen versteht den Konflikt auch nicht, wer die geostrategischen Implikationen ausblendet und sich nur auf rein rechtliche Aspekte beschränkt. Und einmal umgekehrt gefragt: Würde Washington die freie Bündniswahl respektieren, wenn Mexiko ein Militärbündnis mit China schlösse? Möglich ist das natürlich, aber die historischen Erfahrungen mit der amerikanischen Lateinamerika-Politik legen das nicht unbedingt nahe. Vielleicht erinnert sich der eine oder die andere noch an die Kuba-Krise?

In dem aktuellen Ukraine-Krieg wähnt sich Putin militärisch am längeren Hebel. Denn die amerikanische Führungsmacht und ihre NATO-Verbündeten sind erklärtermaßen nicht bereit, das Leben ihrer Soldaten für die Ukraine zu riskieren. Während Kiews Schicksal die Sicherheitsinteressen der USA nur peripher tangiert, ist und bleibt die Ukraine wegen ihrer geografischen Lage an der unmittelbaren Grenze zu Russland im »vitalen Interesse« Moskaus. Mit seinem Waffengang vom 24. Februar 2022 versucht der russische Präsident Putin nunmehr seine politischen Ziele mit militärischen Mitteln zu erreichen: die geostrategisch wichtige Halbinsel Krim und die östlichen, an Russland angrenzenden Provinzen der Ukraine für sich zu beanspruchen und die Restukraine zur Neutralität zu zwingen.

Trotz ihrer für viele US-Verantwortliche unerwarteten Wehrhaftigkeit scheint die politische Führung der Ukraine nunmehr dazu bereit, auf Putins Forderungen einzugehen, insbesondere seitdem ihr aus Washington – trotz ihres öffentlichen Flehens in verschiedenen westlichen Parlamenten – unmissverständlich verdeutlicht wurde, dass die von den USA geführte westliche Allianz nicht selbst in den Krieg eingreifen werde und darauf bedacht sein müsse, eine direkte Konfrontation mit der Nuklearmacht Russland zu vermeiden, solange Russland kein Mitglied der Allianz angreift. Unter diesen Umständen werde die Ukraine selbst, so die Ansage aus Washington, auf absehbare Zeit nicht in die NATO aufgenommen werden können.

Es wäre nicht nur in strategischer, sondern auch moralischer Hinsicht geboten beziehungsweise redlich gewesen, die Ukraine nicht mit von vorneherein unhaltbaren Angeboten in diese Zwickmühle zu locken. Mit schön gefärbten Kriegsberichten und dem Wunschdenken eines Regimewechsels in Moskau sollte man auch heute nicht davon ablenken, dass dieser Krieg nicht nur Putins Krieg ist. Mit dem Versuch, die Landkarte mit Gewalt neu zu zeichnen, hofft Putin im Sinne seiner Landsleute, Russland wieder als herausragende Macht zu etablieren. Die Demütigungen der 90er Jahre, die im historischen Gedächtnis vieler Russinnen und Russen haften geblieben sind, sollen ausgelöscht werden. Unter Putins Führung will das von US-Präsident Barack Obama zur »Regionalmacht« degradierte Russland in der neuen multipolaren Weltordnung wieder zu einer Weltmacht, auf Augenhöhe mit den USA und China, aufsteigen.

Amerikas erratische Realpolitik

Der Machthaber im Kreml wird mit Genugtuung zur Kenntnis genommen haben, dass Washington nach Russlands Angriff auf die Ukraine nun wieder versucht, wie in den für Putin glorreichen Zeiten der Sowjetunion, Peking um Hilfe zu bitten. Amerikas Bemühen, China zur Parteinahme für die Ukraine und gegen Russland zu gewinnen, wirkt hilflos und unbedacht. Wladimir Putin hätte seinen Angriff auf die Ukraine zu diesem Zeitpunkt nicht begonnen, wenn er nicht gewusst hätte, dass er sich Chinas Wohlwollen gewiss sein könnte. Chinas Machthaber Xi Jinping kommt es nicht ungelegen, dass die USA sich nun wieder mit Russlands Bedrohung beschäftigen müssen und sich nicht auf Asien, auf den wirtschaftlichen und militärischen Rivalen China, konzentrieren können.

Für die Weltenplaner in Washington wäre ein festes strategisches Bündnis zwischen Russland und China ein umso bedrohlicheres Szenario. Bereits heute wären die USA nicht mehr in der Lage, einen Zweifrontenkrieg, also gegen Russland in Europa und gegen China in Asien, zu gewinnen. Das war bereits 2019 die Befürchtung von amerikanischen Verteidigungsbeamten und Militäranalysten. In Planspielen der Rand Corporation, des größten und renommiertesten amerikanischen Thinktanks, in denen Großmachtkonflikte simuliert wurden, wäre in einer gleichzeitigen Auseinandersetzung mit Russland und China eine Niederlage für die USA programmiert.

Insofern ist es selbst nach Putins Waffengang in der Ukraine durchaus denkbar, dass sich die amerikanische Russland-Politik in Zukunft wandelt und damit die Europäer erneut vor Probleme stellen wird – allerdings vor völlig anders geartete. Analog zum machtpolitischen Kalkül des damaligen US-Sicherheitsberaters Henry Kissinger, der Präsident Richard Nixon nahelegte, die Verbindung mit dem damals schwächeren China zu suchen, um die mächtigere Sowjetunion einzudämmen, könnte es heute ratsam sein, Russland zu umgarnen, um dem aufsteigenden und für die USA immer bedrohlicher werdenden China zu begegnen.

Amerika sieht sich mit einem revisionistischen Russland und einem wiederaufsteigenden China gleichzeitig konfrontiert. Diese komplexe Herausforderung wird Washington trotz seiner werteorientierten Rhetorik realpolitische Entscheidungen abverlangen, die vor allem auch Europas Sicherheit und Wohlstand beeinträchtigen. Europa insgesamt könnte so eine Erfahrung machen, mit der die osteuropäischen Staaten historisch bereits vertraut sind: dass die eigenen Interessen einem »Deal« größerer Mächte geopfert werden. Sollte Donald Trump 2024 erneut ins Weiße Haus einziehen, würde diese Gefahr noch größer werden.

Künftig könnte für uns also die Frage überlebenswichtig werden, wie sich eine glaubwürdige militärische Abschreckung ohne Washington aufrechterhalten lässt. Um Europas Sicherheit und Zusammenhalt strategisch zu gewährleisten, gilt es bereits heute vorauszudenken und dementsprechend mutig zu handeln. Vertrauen in andere ist gut, eigene Verteidigungsfähigkeit ist besser, könnte eine für Europas Staaten zeitgemäße Abwandlung eines russischen Sprichwortes lauten.

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