2023 konnten wir uns an die Gründung des demokratischen Turnerbundes in Hanau vor 175 Jahren am 3. April 1848 erinnern, dessen Mitglieder für die Parlamentarier der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche Spalier standen. Zweck des Turnerbundes war es, »durch geistige und körperliche Ausbildung und Verbrüderung aller Deutschen hinzuwirken auf ein freies und einiges Vaterland, welches in dem volksthümlichen Freistaat – der demokratischen Republik – seine entsprechende Form findet.« Bekanntlich scheiterte die Revolution politisch und militärisch. Viele Turner emigrierten und verbreiteten so das Turnen in England und in den USA. Zum anderen erinnerten wir uns an die Gründung des Arbeiter-Turnerbundes am 21./22. Mai in Gera 1893 (ab 1919: Arbeiter-Turn- und Sportbund) vor 130 Jahren.
Motive für die Gründung
Hauptmotiv der Gründung des Arbeiter-Turnerbundes (ATB) im Jahr 1893 war neben dem Auslaufen der Sozialistengesetze der deutliche Rechtsruck der 1868 gegründeten Deutschen Turnerschaft (DT) nach der Reichsgründung 1871 und die damit verbundene politische Ausgrenzung der klassenbewussten und freiheitlich-demokratisch orientierten Turner durch die DT. Von den in der Entstehung begriffenen bürgerlichen Sportverbänden (Rudern, Schwimmen, Tennis usw.) wurden die Arbeiter weniger politisch als vielmehr sozial ausgegrenzt: Hohe Mitgliedsgebühren, teure Sportkleidung und Trainingszeiten während der Arbeitszeit sorgten dafür, dass sich im Laufe der Zeit neben dem ATB auch eigene Arbeitersportorganisationen gründeten (Arbeitersegler, Arbeiterruderer usw.).
»Das Bürgertum fürchtete die Proletarisierung seines Sports.«
Darüber hinaus schirmten sich die »Herrensportler« auch durch Amateurparagrafen ab, die eigentlich Arbeiter-Abwehrparagrafen waren, weil sie alle, die mit ihrer Hände Arbeit den Lebensunterhalt verdienten, als Profis abstempelten. Das Bürgertum fürchtete die Proletarisierung seines Sports und die Kraft der Arbeiterschaft gleichermaßen. Und in der Tat war für den Arbeiter sein Körper, seine Kraft und Stärke ein reales und symbolisches Kapital, das ihm im Kampf gegen die vielfältigen Formen sozialer Ächtung und Diskriminierung durch die herrschenden Schichten zur Verfügung stand.
Gründung und schnelle Konsolidierung des ATB
Zu dem Pfingsten 1893 nach Gera einberufenen 1. Turntag des freien Arbeiter-Turnerbundes Deutschlands (nach der Aufnahme des österreichischen Turnkreises im Jahr 1897 nur noch Arbeiter-Turnerbund) erschienen 39 Delegierte, die 51 Vereine in 49 Orten mit 3.556 Mitgliedern vertraten. 42 Vereine erklärten sofort ihren Beitritt, die restlichen mussten erst noch aus der Deutschen Turnerschaft austreten. Das schnelle Wachstum der ersten Jahre resultierte meist aus Übertritten aus der 1894 etwa 500.000 Mitglieder zählenden Deutschen Turnerschaft. Einen wesentlichen Anteil am Mitgliederwachstum und am inneren Zusammenhalt des ATB hatte die Arbeiter-Turnzeitung, deren Herausgabe in Gera beschlossen worden war. Als Mitgliederzeitung konzipiert, erreichte die Arbeiter-Turnzeitung 1913 eine Auflage von 119.000, womit sie die Deutsche Turnzeitung der DT, deren Auflage bei 6.000 bis 7.000 lag, weit überflügelte.
Die wilhelminische Obrigkeit schikanierte die Arbeiterturner, wo sie konnte: Vereine wurden als »politisch erklärt«, um ihnen die Schülerabteilungen zu verbieten, Gaststätten, in denen geturnt wurde, weil in städtischen Hallen nur die DT turnen durfte, erhielten Militärverbot.
Mit der Herausgabe der Zeitschrift Moderne Körperkultur (1911) und der Zeitschrift Jugend und Sport (1913) setzte die Modernisierung bzw. die Versportlichung des ATB erst relativ spät ein. Die Umbenennung in Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) im Jahr 1919 war äußeres Zeichen einer gewandelten Sportauffassung der meist jugendlichen Mitglieder. Durch die gleichzeitige Anerkennung des Fußballs als vollberechtigte Sportart zeigte der ATSB, dass er nicht bereit war, das im Ersten Weltkrieg hinter den Fronten populär gewordene Ballspiel allein dem Deutschen Fußball Bund zu überlassen. Der gesamte ATSB profitierte vom Sportboom in der Weimarer Republik, wuchs an auf ca. 770.000 Mitglieder im Jahr 1928 und wurde damit die größte Organisation innerhalb der Sozialistischen Arbeitersport Internationale. Die 1932 begonnene »Europameisterschaft im Arbeiterfußball« – eine wenig bekannte Innovation des Arbeitersports – wurde dann allerdings wegen der »Machtergreifung« 1933 nicht zu Ende gespielt.
Unterschiede zwischen Arbeiter- und bürgerlichem Sport
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Arbeitersport und bürgerlichem Sport war die Einstellung zum internationalen Sportverkehr. Während der deutsche Arbeitersport bereits 1919 Mitglied der Luzerner Sportinternationale (ab 1928 Sozialistische Arbeitersport-Internationale) wurde, dauerte es bis 1925, bis der bürgerliche Sport wieder in das IOC aufgenommen wurde. Dagegen nahmen am 1. Bundesfest des ATSB in Leipzig 1922 schon Sportler aus elf Nationen, darunter Franzosen, Belgier und Engländer teil. Im gleichen Jahr brachten es die bürgerlichen Leichtathleten auf einen einzigen Auslandsstart im neutralen Schweden. Bei dem 1925 in Frankfurt am Main ausgetragenen Arbeiter-Olympia waren bereits 19 Nationen zu Gast. Den Unterschied zwischen den Olympiaden des Arbeitersports und denen des IOC beschrieb der Generalsekretär der Zentralkommission für Arbeitersport und Körperpflege, Fritz Wildung, 1924 wie folgt:
»Miteinander ringen, aber nicht als nationale Rivalen.«
»Unser Olympia unterscheidet sich nicht allein dadurch von bürgerlichen Veranstaltungen gleicher Art, dass es eine Massenveranstaltung ist, sondern es liegt ihm auch ein ganz anderer Gedanke zugrunde. Die bürgerlichen Olympien dienen fast ausschließlich dem Wettkampf der Nationen gegeneinander, man könnte ihn fast einen Krieg mit sportlichen Mitteln nennen (…) Ganz anders bei uns. Auch hier kämpfen die Vertreter der Nationen in einem Verbande, aber sie fühlen sich nicht als Vertreter ihrer Nationen. Als Glieder dieses Bundes ringen sie miteinander, nicht als nationale Rivalen (…) Damit dienen unsere Olympien nicht dem Nationalismus, sondern der internationalen Verbrüderung.«
Eine andere Sportkultur
Im Festumzug der 100.000 durch die Frankfurter Innenstadt, der durch 400 Trommler der Spielmannzüge angeführt wurde, sah man Spruchbänder mit den Aufschriften »Nieder mit dem imperialistischen Krieg«, »Nie wieder Krieg«, »Kämpft für den Achtstundentag«. Das Weihespiel »Kampf um die Erde« am Abend des Eröffnungstages thematisierte die Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung mit dem Sieg des Sozialismus. Wie in Frankfurt umrahmten auch beim zweiten Arbeiter-Olympia 1931 in Wien turnerische Massenübungen die sportlichen Wettkämpfe. Vor 77.166 Festteilnehmern stellten 4.000 österreichische Arbeitersportler die Entwicklungsgeschichte des Proletariats und der Arbeiterbewegung dar, der unausbleibliche Zusammenbruch des Kapitalismus wurde durch den Einsturz eines im Stadion aufgebauten »Götzen Kapitalismus« symbolisiert.
Ein weiterer Unterschied zum bürgerlichen Sport zeigte sich in verkürzten Renn- und Laufdistanzen (Halbmarathon, 50 km Radrennen), weil ein Arbeiter mit seiner 48 Stundenwoche für längere Distanzen nicht ausreichend trainieren konnte. Der Verzicht auf Starrummel und eine andere, politischere Festgestaltung waren weitere Kennzeichen einer anderen Sportkultur. Dabei ging es nicht nur um die Integration in die Arbeiterbewegung, sondern auch um ein anderes Sportbewußtsein: »Kollektive Sportausübung versus Individualismus beim bürgerlichen Sport, Massensport versus Rekordorientierung, Solidarität und faire Spielweise versus sportlichen Egoismus auf der bürgerlichen Seite.«
Kollektive Sportausübung versus Individualismus, Solidarität versus sportlichen Egoismus.
Inwieweit diese Pädagogisierung des Sport- und Freizeitbetriebes – die Sozialistische Arbeitersport Internationale verabschiedete 1929 sogar Leitsätze für den Übungs- und Wettkampfbetrieb – im Alltag und im Wettkampfbetrieb des Arbeitersports Früchte trug, kann nachträglich kaum überprüft werden. Die zahlreichen Appelle in den Fachzeitschriften des Arbeitersports, beim sportlichen Wettkampf niemals die Rivalität gewinnen zu lassen, die Gegenüber nicht als Feinde, sondern als dienende Glieder des Ganzen zu sehen, deuten allerdings darauf hin, dass die Eigengesetzlichkeit des sportlichen Wettkampfes wichtiger waren als die proklamierten hehren Kultur- und Erziehungsgrundsätze. Während die ATSB-Führung aus ideologischen Gründen einseitiges sportliches Leistungsstreben ablehnte – eine simplifizierende Gegenüberstellung lautete: »Entspannung, Spiel und Freude an der Bewegung im Arbeitersport« und »Tempo, Rekord und angewandte Automatisierung im bürgerlichen Sport« (Arbeiter-Turnzeitung 16/1932) mußte sich der ATSB, um für den Nachwuchs aus der Arbeiterjugend attraktiv zu bleiben, immer mehr dem Wettkampfsport öffnen.
Besonders in der Leichtathletik »ist der Wille der Arbeiterklasse erkennbar, sportliche Ebenbürtigkeit zu beweisen und mit Erfolgen das Klassenbewußtsein zu stärken«, so der Sporthistoriker Hajo Bernett. Auch im Wintersport wurde strikt nach Nationen gewertet. So wandte der Technische Ausschuss der Winterolympiade in Mürzzuschlag 1931 das heute noch übliche 6-Punkte-System (1. Platz 6 Punkte, sechster Platz 1 Punkt) an, um eine Nationenwertung vorzunehmen.
Ein Gegenentwurf zum bürgerlichen Sport ist also während der 1920er Jahre nicht mehr in der Sportpraxis, sondern in der Festgestaltung und in der organisatorischen Anbindung an die Arbeiterbewegung, z.B. durch örtliche Kulturkartelle (Gerhard Hauk), zu suchen. Die Fest- und Sonntagsreden der Funktionäre, wie z.B. »nieder mit dem Kampfrekord, freie Bahn dem Massensport« hatten mit der Sportrealität im Arbeitersport, der in Deutschland schon ab 1913 Bestenlisten veröffentlichte, wenig zu tun.
Mit sportlichen Erfolgen das Klassenbewusstsein stärken.
Bedingt durch die Aussperrung aus kommunalen Hallen im wilhelminischen Kaiserreich schufen sich die Arbeitersportler – meist auf genossenschaftlicher Basis – zahlreiche vereinseigene Sportstätten: Das Bundesvermögen des ATSB wurde in einer Zusammenstellung für den ATSB-Bundestag im Jahr 1930 auf 25.696.058 Mark beziffert. Dazu zählten 2.139 Sportplätze, 342 Übungshallen, 367 Vereinshäuser, 101 Bootshäuser, 128 Badeanlagen, 16 Sprungschanzen und 1.510 Umkleide- bzw. Geräteräume sowie die 1925 in Leipzig errichtete Bundesschule. Die politische Zerschlagung des ATSB im Jahr 1933 wurde dadurch gleichzeitig zu einer Raubaktion größten Ausmaßes.
Das ausgeprägte Solidaritätsbewusstsein des Arbeiterssports lebt heute weiter in der »sozialen Offensive »des Sports, im Ziel des »Sports für alle« und im Bekenntnis des DOSB für Demokratie und Frieden.
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