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Was Politik heute prägt – Gedanken aus Anlass einiger 80. Geburtstage Wider das Vergessen der Theorie

Irgendwann im Frühjahr hat ein CSU-Parteitag ein neues Grundsatzprogramm beschlossen und Markus Söder einstimmig zum Spitzenkandidaten für die Bayernwahl nominiert. Letzteres als reines Ritual, zumal weil in offener Abstimmung. Die deutsche Medienwelt hat sich an jenem Wochenende ausschließlich dem Thronritual für Charles und Camilla in London gewidmet. Vom CSU-Parteitag ward weithin nur berichtet, dass man dort über Söders parallele Krönung witzelte.

Nun ist die bayerische Staatspartei ohnehin nicht gerade als grundsatzinteressiert bekannt, schon gar nicht in Zeiten des wetterwendischen Populisten Söder. Aber es war in diesem Fall doch frappierend, mit welcher Selbstverständlichkeit medial ein Grundsatzprogramm für belanglos erklärt wurde. Bis hin zu dem Reporter, der sich nicht mal mehr dafür genierte, dass es ihm für die Lektüre zu lang war. Abstraktion, Theorie gar in der Politik? Es breitet sich gelangweiltes Schulterzucken aus.

Personal schlägt Programmatik?

Was nicht personalisiert und vermachtet ist, gilt als irrelevant. Nicht erst heute, schon sehr lange. Nicht nur in der Medienwelt, zunehmend auch in den Parteien selbst, wo die Karriere- und Machtmenschen herablächeln auf jene, die sich mit Texten zu Grundsatzfragen herumschlagen – und sich dabei gerne selbst überschätzen. Wobei einzuräumen ist: Bei den Konservativen war Programmatik schon immer lässliche Pflichtübung. Auf der Linken war sie oft eher stark überhöhtes Feld für Flügelkämpfe und Seilschaftskonflikte, zumal im Nachgang zu 1968. Vordergründig inhaltlich codiert, nicht selten mehr zur kulturellen Drapierung von weitaus Profanerem. Objektiv mit Theorie als Vehikel für persönliche Geltungsambitionen, selbst wenn es subjektiv anders erschien. Gleichwohl phasenweise mit Programmatik und Theorie als relevantem Diskursfeld, mit starkem inhaltlichen Begründungs- und Einordnungszwang für die konkreten politischen Projekte. Somit in einer indirekten Weise immerhin machtrelevant, und sei es nur zum Schein.

»Wer sich mit Texten zu Grundsatzfragen herumschlägt, wird belächelt«

Heute sind es nur noch die Alten, die diese Zeiten erlebt haben und davon geprägt bleiben. Es ist Zufall, dass auf sozialdemokratischer Seite just in diesem Jahr mehrere von ihnen ihren 80. Geburtstag feiern. Thomas Meyer und Wolfgang Thierse, Gesine Schwan und Christoph Zöpel gehören dieser Generation an, alle der Zeitschrift Neue Gesellschaft|Frankfurter Hefte besonders verbunden. Alle haben sie über Jahrzehnte die Grundwertedebatten in der Sozialdemokratie mitgeprägt, verkörpern ein Politikverständnis, das auf der Wertschätzung für die Formulierung von Grundsätzen basiert. Auf Theorie damit über konkrete Projekte hinaus, auf den langen Linien – bewusst unterschieden vom tagespolitischen Machtspiel. Aber nicht weltfremd, genau das nicht.

Politische Praxis braucht ein theoretisches Fundament

In dem Maße, wie inzwischen das generelle Verschwinden des Grundsätzlichen im Tagesdiskurs droht, ist es an der Zeit, gegenzuhalten: Mehr Theoriekompetenz und weniger Konzentration auf billige Machteffekte und das Tagesecho wäre dringend und wichtig. Denn wenn die großen ideengeschichtlichen Linien nicht mehr das eigentliche Fundament des politischen Diskurses bleiben – oder wieder werden – statt der verbreiteten egomanischen Lautsprecherei: Dann geht Sinn verloren. Dazu bräuchte es in den nachkommenden Generationen mehr Menschen, die mit Verve und Hartnäckigkeit auf den langen Linien bestehen. Aber auch Machtpolitiker, die verstanden haben, dass es die großen Trends sind, die richtungsweisend für das Tagesgeschäft sind. Und dass große Themen große Antworten brauchen.

Inzwischen meinen viele der Älteren in der Politik, dass dieser langfristige Ansatz bei den Jüngeren generell fehle – woran, so eine typisch systemische These mit Verantwortungsverschiebung, die schnelllebige Medienwelt mehr als mitschuldig sei. Tatsächlich stimmt, dass politische Theoriefragen kein großes Publikum mehr haben. Das ließ sich lange damit erklären, dass die großen Fragen der Demokratiekonzeption und Demokratiepraxis inzwischen durch Routine beantwortet seien und die Welt die ganz großen Umbrüche hinter sich habe. Gerade jetzt, mit den sogenannten multiplen Krisen, löst sich dieses Abwehrargument aber nach und nach auf.

Gerade jetzt bräuchte es – wieder – mehr politische Theorie neben der politischen Praxis. Der Zeitenwende-Begriff überzieht in seiner Absolutheit, aber er benennt immerhin eine sehr grundlegende Umwälzung mit veränderten Fragestellungen. Hinsichtlich Krieg und Frieden, hinsichtlich ökologischer Transformation, hinsichtlich gesellschaftlicher Diversität und Demokratiepraxis. Zu diesen großen Themen ist viel zu besprechen, sind neue Gegensätze aufgetaucht, brauchen die politischen Parteien dringlichst immer wieder eine Verständigung auf die eigenen Grundsätze und die Wege, sie in konkrete Politik umzusetzen.

Wer erlebt, wie Programmatisches schnell abgetan und Theorie als politische Lyrik verspottet wird, kann die Länge dieses Weges ermessen. Wer den regelrechten Hunger auf Orientierung an der politischen Basis erlebt, zugleich die Suchbewegungen vieler Jüngerer, erkennt die Nachfrage. Nur eben nicht mehr so massiv ausgedrückt in Bücherlesen, Papiereschreiben und Seminarbesuchen wie früher. Vielfältiger, sicher auch kleinschrittiger, aber nicht weniger ernsthaft. Und durchaus immer in der Gefahr, einfachen Antworten aufzusitzen, einfachen Gruppenidentitäten zumal. Aber genau das war bei den theorielastigen Klüngeln früherer Jahrzehnte nicht anders.

Zeitgemäße Theorie der Gesellschaft als Ganzes

Mit den alten Systembegriffen alleine lässt sich dabei jetzt nicht mehr viel erklären. Der Kapitalismus ist weltweit allgemein geworden, der Autoritarismus aber auch. Rechte kommen als sozial daher, Linke als bevormundend. Was sozial verantwortliche Freiheit ist, müsste bezogen auf die neuen Herausforderungen wieder diskutiert werden. Was Emanzipation mit Solidarität zu tun hat und umgekehrt, muss erst recht neu besprochen werden – und vorgelebt.

Mit anderen Worten: Diese komplexe Zeit schreit geradezu nach Grundsätzen und politischer Theorie, aber in zeitgemäßer und junger Form. Ernsthaft, nicht vornehmlich taktisch gemeint. Auf das Ganze der Gesellschaft bezogen, mit einem weiteren Ansatz als vielfach in den immer mehr zersplitterten Sozialwissenschaften üblich. Anders, weniger rechthaberisch als so oft in der Vergangenheit, aber mit argumentativer Anstrengung gegen die Rechthaber vieler Richtungen von heute, die sich – wie früher auch – manchmal schnell als Mitschwimmende erweisen. Übertragen auf veränderte multimediale Zeiten, ziemlich unübersichtlich damit nach klassischen Maßstäben. Aber zugleich realitätsnah und prinzipienfest – in diesem Punkt so, wie es die Generation der heute 80-Jährigen versuchte vorzumachen.

Was heute ernsthaft bedeutet? Es war der Vorwurf gegenüber der Parteienpolitik schlechthin, dass dies in ihr schwer bis unmöglich sei. Und es gibt die andere Erfahrung vieler Praktiker, zumal an der kommunalen Basis dass letztlich alle politischen Entscheidungen dann doch wieder höchst konkret und kleinteilig sind, weshalb ja das Belächeln der Theoretiker oft so populär und entlastend ist. Fast unmerklich lässt man sich mit solcher Argumentation auf den falschen Gegensatz ein. Hier die zupackenden Macher, dort die blassen Grübler.

»Aus Theorielosigkeit kann sehr schnell das Programm der Prinzipienlosigkeit werden.«

Es sind das alles alte Fragen, alte Debatten. Aber aus der heutigen Perspektive sind sie hochaktuell. Denn aus Theorielosigkeit kann vor allem in Umbruchzeiten sehr schnell das Programm der Prinzipienlosigkeit werden. Zumal in personell schrumpfenden Parteien umgekehrt die Dominanz des tagespolitischen Laufrades immer gravierender wurde, in dem keine Zeit und kein Umfeld mehr bleibt für grundsätzliche Fragen. Bitte immer konkret. Und bitte immer mit direktem Nutzen im eigenen Umfeld. So ist meistens die Erwartungslage.

Wer sich damit abfindet, hat schon verloren. An Substanz sowieso. Auf die Dauer betrachtet auch an Überzeugungsfähigkeit. Das ist selbst in der digitalen Welt so geblieben.

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