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Jaron Lanier erklärt, warum wir unsere Social-Media-Accounts sofort löschen müssen Widerstand gegen Facebook, Google & Co

»Aufblühen von etwas Gefährlichem, das tief verwurzelt ist«, schrieb der Guardian über die Ausschreitungen von Chemnitz am 27. August, nachdem über die (zu Unrecht) sogenannten sozialen Medien binnen kürzester Zeit Tausende rechter Krawallmacher die Stadt fast ins Chaos gestürzt hätten. Kurz darauf kam die von der Bundesregierung berufene Datenethikkommission erstmals zusammen. »Gibt es ein Eigentum an Daten, wenn ja, wer hat das?«, fragte Justizministerin Katarina Barley zum Auftakt. Kaum jemand kennt diese Kommission. Dabei lohnt ein Blick in den Fragenkatalog, der ihrer Arbeit zugrunde liegt. Zwei Fragen daraus seien exemplarisch genannt: »Wie kann ermittelt werden, welche Vorurteile und Verzerrungen in welchen Bereichen ethisch unerwünscht sind?« Und: »Gibt es Grenzen des Einsatzes (…), wenn Einsatz und Kriterien den betroffenen Menschen nicht erklärt werden können?« Es geht um die »ethischen Grenzen der Ökonomisierung von Daten«, darum, wer den »ökonomischen Nutzen aus Daten ziehen darf«.

Das neue Buch von Jaron Lanier Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, welches die18 Kommissionsmitglieder bestimmt gelesen haben, könnte eine gute Basis für die Beantwortung der Fragen sein. Der Computerwissenschaftler und Internetpionier Lanier möchte »Social Media« in »Verhaltensmodifikations-Imperien« umbenennen. Denn darum geht es Zuckerberg & Co: Sie wollen, ohne dass die Kunden es merken, deren Verhalten verändern. Lanier erfindet für das Vorgehen ein neues Wort: das Akronym BUMMER (umgangssprachlich für etwas Unerfreuliches, ähnlich wie »Mist« oder »blöd«). Es steht für »Behaviors of Users Modified, and Made into an Empire for Rent« (»Verhaltensweisen von Nutzern, die verändert und zu einem Imperium gemacht wurden, das jedermann mieten kann«). BUMMER-Algorithmen berechnen die Wahrscheinlichkeit von Einzelverhalten. Was aber im Einzelfall nur eine Wahrscheinlichkeit sei, werde im Durchschnitt der großen Zahl zur Gewissheit. BUMMER spricht unsere negative Seite an, knallige Brutalbotschaften sollen uns in ihren Bann ziehen. Laniers Kurzformel: »BUMMER macht Dich zum Arschloch«. Entsprechend lauten die anderen Kapitel (die Gründe für das Löschen) des 200-Seiten-Werks: Du verlierst deinen freien Willen; Social Media untergräbt die Wahrheit; (…) macht das, was du sagst, bedeutungslos; (…) tötet dein Mitgefühl; (…) macht dich unglücklich; (…) fördert prekäre Arbeitsverhältnisse; (…) macht Politik unmöglich und: Social Media hasst deine Seele.

Nach der OCEAN-Methode, dem universellen Standardmodell der Persönlichkeitsforschung, lässt sich eine Einzelperson durch fünf Kriterien (daher auch »Big Five« genannt) weitestgehend beschreiben: »Openness, Conscientiousness, Extraversion, Agreeableness, Neuroticism« (etwa: Aufgeschlossenheit, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Empathie und emotionale Verletzlichkeit). Werden diese Kriterien mit Daten von Google, Facebook, Amazon oder WhatsApp verknüpft (wie etwa die 50 Millionen, die von Cambridge Analytica an die Trump-Wahlkämpfer verkauft wurden), entstehen zuverlässige Persönlichkeitsprofile, mit deren »Hilfe« demokratische Prozesse ausgehebelt oder Massenphänomene ausgelöst werden können. Lanier bringt neben der Trump-Wahl weitere eindrückliche Beispiele dafür: den Brexit, den Massenexodus der Rohingya aus Myanmar, den Arabischen Frühling und seine Zerstörung, der italienische BUMMER heißt »5 Sterne«.

Und er zieht einen beängstigenden Schluss: Soziale Medien höhlen die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben aus und zerstören über kurz oder lang die Demokratie, bedrohen das Überleben der Zivilisation. Denn sie schädigen unser Verständnis füreinander dadurch, dass jeder User nur das serviert bekommt, was der Algorithmus als für ihn passend definiert hat. Die Folge ist Vereinzelung – alle Facebook-Nutzer leben in ihrer eigenen Echokammer. Irgendwann verlieren wir dort die Maßstäbe dafür, was echt oder gefälscht (fake) ist. Lanier hat ein biografisches Gespür für Bedrohung der Freiheit durch totalitäre Systeme: Seine Mutter hat ein KZ überlebt, sein Vater russische Pogrome.

Jaron Lanier, Erfinder des Datenhandschuhs und des Begriffs »Avatar«, 2010 unter den Nominierten der Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Nachrichtenmagazins Time und 2014 Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, nennt »das, was plötzlich normal geworden ist – allgegenwärtige Überwachung und ständige, subtile Manipulation –, unmoralisch, grausam, gefährlich und unmenschlich«. Er zeigt, wie soziale Medien für die Süchtigen nicht wahrzunehmendes Suchtverhalten erzeugen. Dazu zitiert er u. a. einen Ex-Facebook-Vizepräsidenten: »Die von uns entwickelten, schnell reagierenden, dopamingetriebenen Feedbackschleifen zerstören, wie die Gesellschaft funktioniert. (…) Ich fühle mich sehr schuldig. Ich glaube in den hintersten Winkeln unseres Bewusstseins wussten wir es alle (…), dass etwas Schlimmes passieren könnte. (…) Jetzt haben wir, glaube ich, einen wirklich schlimmen Zustand erreicht. Er untergräbt das Fundament des Verhaltens der Menschen zu- und untereinander.«

Lanier will wachrütteln, so wie der kalifornische Immobilienkaufmann Alastair Mactaggart, dem ein bei Google arbeitender Freund gesagt hatte: »Wenn die Leute wirklich wüssten, was wir über sie wissen, würden sie ausflippen«. Facebook, Google, Twitter scannen mit einem ausgeklügelten, unsichtbaren Netzwerk von Browsern beständig Internet, Mobiltelefone (deren Bewegung oder Stillstand ergeben die Verkehrsprofile) und am Netz befindliche Rechner und haben innerhalb von etwas mehr als einem Jahrzehnt einen privaten Überwachungsapparat von außergewöhnlicher Reichweite und Raffinesse geschaffen. Der Wert ihres inzwischen gesammelten Datenschatzes wird auf 650 Milliarden Dollar geschätzt. Google und Facebook kontrollieren heute mehr als die Hälfte des weltweiten Marktes für Onlinewerbung – Daten sind der Rohstoff des 21. Jahrhunderts. Mactaggart trat eine Bewegung los, die gegen anfänglich erbitterten Widerstand von Facebook und Google zum ersten Datenschutzgesetz (Privacy Act) eines US-Bundesstaates führte – von dem allerdings offen ist, ob die Trump-Regierung es nicht auszuhebeln versuchen wird.

Lanier – inzwischen bei Microsoft und immer noch Silicon-Valley-Bürger – fordert keine Opposition, er bittet »um Hilfe«, auch wenn es seltsam klingen mag, dass er zum Widerstand auffordert. Er rechnet auch nicht mit einer »großen Austrittswelle« – dennoch wollen 44 % der 24–28-jährigen Amerikaner ihren Account gelöscht haben. Für Lanier war es einmal Ausdruck sozialen Denkens, dass die Internetdienste (scheinbar) kostenlos waren. Das sieht er heute anders. Er hält BUMMER für so gefährlich, dass er das Geschäftsmodell, bei dem ein Einzelner noch dazu über einen der teuersten Konzerne der Welt herrscht, abschaffen will. Dennoch schreibt er (in der ihm eigenen persönlichen »You«-Anrede): »Du musst nicht unbedingt darauf dringen, dass die Regierung Facebook reguliert oder gar verstaatlicht.« Der EU-Wettbewerbschefökonom Tommaso Valletti jedenfalls denkt laut darüber nach, die betreffenden Konzerne zu zerschlagen. Schon ein bisschen gesellschaftliche Kontrolle wäre nicht schlecht, mit der EU-Datenschutzgrundverordnung ist ein Anfang gemacht. Vielleicht wäre der öffentlich-rechtliche Rundfunk ein Vorbild. Vielleicht kommt erst einmal die EU-weite Besteuerung. Vielleicht sollten sich Bundes- und Landesregierung(en), Ministerien, Parteien und Gewerkschaften Gedanken darüber machen, wozu sie eigentlich Facebook-, Twitter- oder andere Accounts brauchen.

Jaron Lanier: Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst. Hoffmann und Campe, Hamburg 2018, 208 S., 14 €.

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