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Ein Katalog vorbeugender Maßnahmen Wie Demokratien überleben können

Als 2018 die beiden Professoren für Regierungslehre an der Harvard-Universität, Steven Levitsky und Daniel Ziblatt, ihr Buch Wie Demokratien sterben veröffentlichten, war Donald Trump schon mehr als ein Jahr gewählter Präsident der USA. Nie zuvor, so die beiden Autoren, hätten sie es für möglich gehalten, dass so etwas in ihrem eigenen Land passieren könne. »Wir wissen zwar«, schrieben sie, »dass Demokratien stets zerbrechlich sind, aber die Demokratie, in der wir leben, hat es doch irgendwie geschafft, der Schwerkraft zu trotzen. Unsere Verfassung, unser Glaube an Freiheit und Gleichheit, unsere historisch robuste Mittelschicht, unser großer Wohlstand, unser hoher Bildungsstand und unsere große, weitgefächerte Wirtschaft: all dies sollte uns gefeit machen gegen einen Zusammenbruch der Demokratie, wie wir ihn anderswo erlebt haben.«

Fünf Vorgehensweisen zur Rettung von Demokratien

Der Schock der Trump-Wahl bewog sie, noch einmal gründlich nachzuprüfen, woran Demokratien sterben. An einer Fülle von Beispielen aus der jüngeren Geschichte analysierten sie, wie es dazu kommen konnte, dass Demokratien sich in autoritäre Systeme verwandelten, oder wie es in anderen Fällen gelang, rechtzeitig gegenzusteuern und die Demokratie gegen ihre Feinde zu verteidigen. Um zu verhindern, dass antidemokratische Kräfte die Macht an sich reißen, empfahlen sie ihren Verteidigern fünf verschiedene Vorgehensweisen: »Erstens können sie möchtegern Autokraten von Wahllisten streichen… Zweitens können Parteien Extremisten an der Basis aus ihren Reihen verbannen… Drittens können prodemokratische Parteien jedes Bündnis mit antidemokratischen Parteien meiden… Viertens können prodemokratische Parteien Extremisten systematisch isolieren… schließlich müssen Mainstreamparteien, wenn Extremisten als ernst zu nehmende Wahlrivalen auftauchen, eine geschlossene Front bilden, um sie zu schlagen.«

Dieser Katalog von vorbeugenden Maßnahmen könnte heute, da überall rechtsradikale Strömungen und Parteien Zulauf bekommen, in Deutschland z. B. gegen die AfD hilfreich sein. Die institutionellen Voraussetzungen dafür sind jedenfalls bei uns vorhanden. In den USA aber, wo in diesem Jahr die erneute Wahl Trumps zum Präsidenten droht, so Levitzky und Ziblatt in ihrem neuen Buch Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können, ist die Lage ernster.

Verfassungsrechtliche Fallstricke

In den USA ist es auch die Verfassung selbst und das darin geregelte Zusammenspiel der Institutionen, die die Errichtung eines autoritären Minderheitenregimes begünstigen. Besonders gilt dies nach Meinung der Autoren für den Obersten Gerichtshof mit seinen auf Lebenszeit ernannten Richtern, für das Zweikammersystem, das vorsieht, dass alle Gesetze von beiden Kammern mit Mehrheit beschlossen werden müssen, für die zweite Kammer, den Senat, in dem jeder Teilstaat unabhängig von seiner Bevölkerungszahl gleich stark vertreten ist, für die im Senat geltende Filibusterregel, die Minderheiten erlaubt, jede Beschlussfassung dauerhaft zu verhindern, für das Wahlmännergremium für die Präsidentenwahl, das kleinere Staaten begünstigt, und schließlich für die in der Verfassung festgeschriebene Regel, dass Verfassungsänderungen nur mit einer Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern beschlossen werden können.

Eine Schieflage der amerikanischen Demokratie machte einen Präsidenten Trump erst möglich.

Diese Schieflage der amerikanischen Demokratie hat es erst möglich gemacht, dass Trump Präsident werden konnte, obwohl seine demokratische Gegenkandidatin einige Millionen Stimmen mehr erhielt als er. Dieselbe Schieflage dient bis heute dem zuweilen offen eingestandenen Zweck, die Privilegien der weißen (zumeist protestantischen) Amerikaner gegen die wachsende Zahl von nichtweißen Bürgern (Schwarze, Latinos, Chinesen, Natives u. a.) zu behaupten. Viele Jahrzehnte lang war dies das politische Geschäft der Demokratischen Partei, die lange die Südstaaten der USA beherrschte, die Rassentrennung verteidigte, Organisationen wie den Ku-Klux-Klan gewähren ließ und Schwarze und andere ethnische Minderheiten mit legalen Tricks und, wenn es sein musste, auch mit brutaler Gewalt daran hinderte, an Wahlen teilzunehmen.

Heute sind es die Republikaner, die die tradierten Mängel der amerikanischen Verfassung ausnutzen, um ein weißes Minderheitenregime in den Staaten mit hohem Anteil an Nichtweißen aufrecht zu erhalten und mit einem offenen Demokratieverächter wie Donald Trump erneut nach der Präsidentschaft zu greifen.

Dabei hatten die Republikaner noch 1964/65 wesentlichen Anteil an der Durchsetzung der neuen Wahlgesetze, die endlich aus den USA eine wirklich multiethnische Demokratie machen sollten. Der Senat machte damals nicht von der Möglichkeit Gebrauch, das Gesetz, gegen das einige Südstaaten Sturm liefen, zu verhindern. »Am Ende« so schreiben Levitsky und Ziblatt, »stimmten über 80 Prozent der republikanischen Senatoren für das Gesetz (zusammen mit 69 Prozent der demokratischen)…« In diesem Schlüsselmoment in der jüngeren Geschichte der USA spielte die Republikanische Partei also eine entscheidende Rolle bei der Durchführung von Bürger- und Wahlrechtsreformen, die das politische System Amerikas auf Dauer hätten demokratischer gestalten können. Aber: »Sechzig Jahre später ist eben diese Republikanische Partei nicht mehr wiederzuerkennen.«

Demokratischer Nachholbedarf

Dies hat ganz wesentlich mit der demografischen Entwicklung in den USA zu tun. »Afroamerikaner, hispanische Amerikaner, asiatische Amerikaner und amerikanische Natives machen heute 40 Prozent der US-Bevölkerung aus. Bei den unter 18-Jährigen bilden sie sogar die Mehrheit… Bezeichneten sich 1976 noch über 80 Prozent der Amerikaner als weiß und christlich (protestantisch oder katholisch), waren es 2016 nur noch 43 Prozent.« Es ist dieser bis heute ungebrochen anhaltende Trend, der in einem Teil der weißen Bevölkerung der USA seit einiger Zeit Panik auslöst und sie in die Arme zynischer Machtpolitiker treibt, die die nach wie vor bestehenden Schwächen der amerikanischen Verfassung nutzen, um eine Minderheitendiktatur zu errichten. »Die Vereinigten Staaten«, so Levitsky und Ziblatt, »einst Vorreiter der Demokratie und ein Vorbild für andere Nationen, sind mittlerweile zu einem demokratischen Nachzügler geworden.«

»Nicht Trump allein ist das Problem, es ist die amerikanische Gesellschaft.«

Nicht Trump allein ist also das Problem, wie es die Amerikaberichterstattung in unseren Medien zuweilen nahelegt, sondern die amerikanische Gesellschaft, die nach wie vor, wohl nicht in ihrer Mehrheit, aber doch zu großen Teilen, glaubt, dass die Verfassung der USA über jede Kritik erhaben sei und keiner Verbesserung bedürfe, die sich allzu leicht einreden lässt, dass die einfachen weißen Amerikaner aus den ländlichen und abgehängten Regionen des Landes auch dann, wenn sie gelegentlich zur Gewalt greifen, und das Kapitol in Washington stürmen, im Grunde lauter feine Kerle und treu sorgende Hausfrauen seien, die niemand ein Leid antun können, während Politiker, jedenfalls die der Demokratischen Partei, durchweg selbstsüchtige, moralisch fragwürdige und machtgeile Intriganten oder zumindest Einfallspinsel seien. Dies jedenfalls ist die Botschaft, die ihnen von vielen anglikanischen Predigern und von dem einflussreichen Fernsehsender Fox News Tag für Tag landauf und landab eingeredet wird.

This is not America

Und trotzdem, das betonen Levitsky und Ziblatt am Ende ihres Buches: Die wilden Horden, die aufgehetzt vom abgewählten Donald Trump das Kapitol stürmten, sind nicht Amerika. Das Land hat gerade in den letzten zwei Jahrzehnten erstaunliche Fortschritte hin zu einer wirklich gerechten multiethnischen Demokratie gemacht. Die großen und weiter anhaltenden Demonstrationen unter dem Motto Black Lives Matter, die durch den Mord an dem Schwarzen George Floyd durch einen Polizisten ausgelöst wurden, waren die größte Protestbewegung der amerikanischen Geschichte. »Fast drei Viertel der Amerikaner sympathisierten im Sommer 2020 mit den Demonstranten«, schreiben Levitzky und Ziblatt.

»Ob die Hoffnung machenden Veränderungen ausreichen, bleibt offen.«

Und das hat offenbar Folgen. »In der Vergangenheit haben junge Menschen nicht gewählt«, schreiben sie, aber es gebe Anzeichen dafür, dass dies sich in den letzten Jahren ändert. Ob freilich diese und andere Hoffnung machenden Ver­änderungen ausreichen, um die Zerstörer der amerikanischen Demokratie zu verhindern, bleibt offen. Immerhin hat das von Trump in seiner ersten Amtszeit als Präsident vorsorglich mit seinen Leuten besetzte Oberste Gericht der USA soeben die gerichtliche Verfolgung trumpscher Vergehen zu Teilen für nicht rechtmäßig erklärt, und gleichzeitig hatte Biden, nicht zuletzt wegen seines desaströsen Auftritts bei der ersten großen Fernsehdebatte der Kandidaten in den Augen der amerikanischen Wähler so sehr an Attraktivität eingebüßt, dass er auf die Kandidatur zugunsten von Kamala Harris verzichtete.

Die (bessere) Verfassungslage in Deutschland

Und was heißt das nun für uns in Europa, zumal in Deutschland? Hassmails, Fake News und bizarre Verschwörungserzählungen, all das gibt es auch bei uns, und auch hier ist es eine rechtsradikale Partei, die diese Mittel benutzt, um die Gesellschaft zu spalten und mit Ausländerhass und Angst vor Überfremdung Wahlen zu gewinnen. Und es gibt sogar Anzeichen dafür, dass sie mit ihrer Hetze in den sogenannten sozialen Medien zunehmend auch bei jungen Menschen erfolgreich ist.

Aber in Deutschland haben wir eine nach dem Tiefpunkt menschlicher Verrohung unter der Naziherrschaft geschaffene und seitdem mehrfach klug an neue Entwicklungen angepasste Verfassung, die, wenn die demokratischen Parteien gemeinsam davon Gebrauch machen, eine nochmalige »Machtergreifung« einer antidemokratischen Partei unmöglich machen kann. Wir haben eine Reihe von seriösen Zeitungen und ein öffentlich-rechtliches, einst nach dem Vorbild der britischen BBC eingerichtetes System von Rundfunk- und Fernsehsendern, das dazu beitragen kann, uns gegen die Feinde der Demokratie zu verteidigen.

Solange die »Brandmauern« halten, bleibt uns wahrscheinlich das Schlimmste erspart.

Solange keine der demokratischen Parteien der Bundesrepublik sich verleiten lässt, aus machttaktischen Gründen ein Bündnis mit den Feinden der Demokratie einzugehen, solange die vielzitierten »Brandmauern« halten, bleibt uns wahrscheinlich das Schlimmste erspart. Dennoch sollten wir wachsam bleiben. Denn wie eine aktuelle Studie des Regionalbüros für Internationale Zusammenarbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Wien zeigt, die Anhänger konservativer Parteien sind in Deutschland kaum weniger anfällig für undemokratisches Verhalten wie die Anhänger der AfD. Die Versuchung des Autoritarismus kann wie wir heute überall auf der Welt sehen, einst gemäßigte Parteien infizieren und die Demokratie von innen allmählich aushöhlen, sodass sie nicht mehr die Kraft aufbringt, sich zu wehren, wenn sie entschlossen angegriffen wird.

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: Die Tyrannei der Minderheit. Warum die amerikanische Demokratie am Abgrund steht und was wir daraus lernen können. Penguin, München 2024, 352 S., 26 €.

Identität, Parteienbildung, Polarisierung. Wie es demokratisch gewählten Politiker:innen gelingen könnte, Deutschland zu autokratisieren, Friedrich-Ebert-Stiftung, Wien 2024, 56 S.

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