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Wie die Sozialdemokraten das Blatt im Wahlkampf noch wenden können

Geht man von Umfrageergebnissen aus, könnte die Ausgangssituation für die SPD kurz vor der Bundestagswahl am 24. September kaum ungünstiger sein. Die Partei liegt rund 15 Prozentpunkte (Stand: Mitte August 2017) hinter der Union zurück. Ein Déjà-vu der Bundestagswahl 2013, als die Differenz zwischen den beiden Volksparteien 15,8 Prozentpunkte betrug, scheint damit vorprogrammiert zu sein. Gibt es eine halbwegs realistische Aussicht für die Sozialdemokraten, das Blatt noch einmal zu wenden?

Wie volatil es in der Wählerschaft zugeht, zeigt das Auf und Ab der SPD in den Umfragen nach der Nominierung von Martin Schulz zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Ende Januar. Der Mobilisierungsschub, der die Partei die für sie auf Bundesebene lange Zeit unerreichbare Schwelle von 30 % überspringen ließ und kurzzeitig wieder auf Augenhöhe mit der Union brachte, bestätigte diejenigen, die die SPD schon länger für deutlich unterbewertet gehalten hatten. Dass die Umfragewerte danach fast ebenso rasch wieder nachgaben, dürfte vor allem auf die mangelnde öffentliche Präsenz von Schulz zurückzuführen sein. Statt die Medien mit sich und der Partei weiter zu beschäftigen, zog dieser es vor, das Land zu bereisen und die eigene Basis zu beackern. Die Prioritätensetzung rührte auch daher, dass der von seiner Kandidatur selbst überraschte neue Vorsitzende zu diesem Zeitpunkt noch keinen strategischen Plan für den angestrebten Machtwechsel in der Tasche hatte. Die im Drehbuch nicht vorgesehenen, in erster Linie landespolitisch verschuldeten Wahlniederlagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen verstärkten den Abwärtssog. Mit ihnen schien sich die SPD erneut auf die Verliererstraße zu begeben, noch ehe der Bundestagswahlkampf überhaupt richtig begonnen hatte.

Erst mit dem Wahlparteitag Ende Juni fassten Kampagne und Kandidat allmählich Tritt. In seiner Eröffnungsrede erinnerte Altkanzler Gerhard Schröder daran, wie es ihm 2005 aus scheinbar aussichtsloser Position gelungen war, die Wahlauseinandersetzung trotz negativen Medienklimas zu seinen Gunsten zu wenden und den gefühlten Wahlsieger CDU/CSU an den Rand einer Niederlage zu bringen. Dass er dabei auch von kapitalen Fehlern der Gegenseite profitierte und diese gekonnt ausschlachtete, markiert zweifellos einen Unterschied zur aktuellen Situation, in der mit solchen Fehlern eher nicht zu rechnen ist und Angela Merkel zudem von ihrem Nimbus als national und international erfahrene Staatenlenkerin profitiert. Martin Schulz und Sigmar Gabriel haben jedoch zu Recht erkannt, dass es grundfalsch wäre, die nach wie vor populäre Amtsinhaberin allein deshalb von Angriffen zu verschonen. Schulz’ Vorwurf, die Kanzlerin würde sich mit ihrer Strategie der »asymmetrischen Demobilisierung« der politischen Auseinandersetzung bewusst verweigern, war und ist in der Sache berechtigt. Glaubwürdig vermitteln lässt er sich allerdings nur, wenn die SPD selber klare Kante zeigt und der Wählerschaft vor Augen führt, warum ein Wechsel an der Regierungsspitze dringend geboten ist.

Herausforderungen und Dilemmata einer erfolgreichen Strategie

Für eine erfolgreiche Wahlkampfführung lassen sich daraus drei zentrale Anforderungen bzw. Aufgabenstellungen ableiten:

Erstens muss die SPD entschiedenen Machtwillen demonstrieren. Den Anspruch, die Regierung anzuführen, kann sie nur erheben, wenn sie vor der Union stärkste Partei wird oder zusammen mit den GRÜNEN und der Partei DIE LINKE oder mit den GRÜNEN und der FDP eine arithmetische Mehrheit erreicht. Genauso wie die anderen Parteien ist sie gut beraten, die Koalitionsfrage zu »dethematisieren«, obwohl das aus Sicht des Wählers misslich ist. Die Partei könnte auch Signale aussenden, dass sie den Gang in die Opposition einer erneuten Regierungsbeteiligung in der Rolle des Juniorpartners vorziehen würde, falls es für den Wahlsieg nicht reicht. Die verbleibende Zeit in der Großen Koalition sollte sie nutzen, um als Regierungspartei auf Distanz zum Koalitionspartner zu gehen. Mit der Durchsetzung der »Ehe für alle« gegen den Willen eines Großteils der Union, die formal betrachtet sogar einen Bruch des Koalitionsvertrages darstellte, und der von Sigmar Gabriel forcierten Neuausrichtung der Türkeipolitik (gegen den bisherigen Beschwichtigungskurs der Kanzlerin) hat sie hier bereits entsprechende Akzente gesetzt. Ihren Machtwillen könnte die SPD auch dadurch deutlich machen, dass sie den »Verbund« von CDU und CSU, der der Unionsseite einen unfairen Vorteil im Parteienwettbewerb verschafft, im Wahlkampf stärker delegitimiert. Der Dissens, der zwischen den beiden »Schwesterparteien« in zentralen politischen Fragen wie der Obergrenze bei der Zuwanderung oder der Einführung von Volksentscheiden auf Bundesebene besteht, liefert hier ausreichend Munition.

Zweitens muss die SPD der Union klar erkennbare Alternativen entgegensetzen. Hier liegt die Schlüsselaufgabe und größte Herausforderung für eine erfolgreiche Strategie. Die Partei steht dabei vor mehreren Dilemmata gleichzeitig. Zum einen muss sie die Unterschiede zur Gegenseite deutlich herausstellen, ohne die eigene Mitverantwortung an der Regierungspolitik der Großen Koalition zu dementieren. Des Weiteren hat sie es mit einer Union zu tun, die in den für die SPD zentralen Feldern der Sozial-, Familien-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sozialdemokratische Positionen in der Vergangenheit systematisch okkupiert hat – und sei es nur durch Zugeständnisse in der gemeinsam getragenen Regierung. Diese Themen eignen sich somit allenfalls teilweise zur Profilierung. Und schließlich muss die SPD fürchten, durch zu radikale Positionen (etwa in der Steuerpolitik) mehr Wähler in der politischen Mitte abzuschrecken, als sie am linken Rand oder aus dem Bereich der Nichtwähler gewinnen würde.

Die Probleme reproduzieren sich in der Außen- und speziell der Europapolitik, die in der Auseinandersetzung diesmal eine größere Rolle spielen dürften als in früheren Wahlkämpfen. Gerade mit dem Kandidaten Martin Schulz hätte die SPD die Chance, der Union ihren traditionellen Kompetenzvorsprung in Sachen Europa zu entwinden, den diese durch ihren fehlenden Gemeinschaftsgeist in zentralen europäischen Politikfeldern verspielt hat. Auf der anderen Seite weiß die Union, dass dieser Gemeinschaftsgeist und die Bereitschaft zu mehr Solidarität auch in ihrer eigenen Wählerschaft nicht sonderlich stark ausgeprägt sind. Entsprechend vage bleiben die Vorschläge, wie die Europäische Union fortentwickelt und für die großen Zukunftsaufgaben tauglich gemacht werden soll. Auch die an die Adresse der mittelosteuropäischen Länder gerichtete Drohung, bei weiterhin fehlender Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen künftig Transferzahlungen aus dem EU-Haushalt zu verweigern oder zu kürzen, könnte auf die Partei zurückfallen, wenn sie den Blick auf die Fehler der eigenen Flüchtlingspolitik versperrt. Damit nimmt sich die SPD zugleich die Möglichkeit, die Hauptverantwortung der Kanzlerin für diese Fehler aufzuzeigen.Wirtschaftskompetenz unter Beweis stellen kann die SPD mit ihrer Forderung nach einer Investitionsoffensive. Neben den klassischen Feldern der Bildung und Verkehrsinfrastruktur geht es dabei nicht zuletzt um die Gestaltung des durch die Digitalisierung herbeigeführten bzw. bevorstehenden Strukturwandels. Auch die bisher im Wahlkampf weitgehend ausgesparte Energiewende sollte eine größere Rolle spielen; um mehr Modernität und Zukunftsgerichtetheit auszustrahlen als die Union, müsste die SPD hier ökologische und wirtschaftliche Gesichtspunkte stärker verknüpfen. Innere Sicherheit ist ein Thema, das traditionell eher den Konservativen in die Hände spielt. Rückt es auf der politischen Agenda nach oben, könnte die SPD versuchen, es mit sozialdemokratischen Positionen zu »rahmen«, indem sie z. B. auf die unzureichende Personal- und Ressourcenausstattung von Polizei und Justiz hinweist.

Zuletzt muss die SPD das Wählerbündnis ihrer Kernklientel der »kleinen Leute« mit dem linksliberalen Bürgertum erneuern. Eine Sozialdemokratie, die ihre Grundwerte ernst nimmt, darf es nicht akzeptieren, dass sich unser Gemeinwesen heute zu einer »Zwei-Drittel-Demokratie« (zurück)entwickelt hat, in der das untere Drittel der Bevölkerung immer weniger Gehör und Berücksichtigung findet. Mehrheitsfähig sind und bleiben die mit einem umfassenden Vertretungsanspruch antretenden Volksparteien nur dann, wenn es ihnen gelingt, verschiedene Gruppen der Gesellschaft, deren Interessen und Meinungen durchaus weit auseinanderliegen können, zu einer möglichst umfassenden Wählerkoalition zusammenzubinden. Für die SPD heißt das, dass sie auf der einen Seite das ihr zuneigende liberal eingestellte Bürgertum, dessen Angehörige über höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen verfügen als die übrige Bevölkerung, verteilungspolitisch »schonen« und mit gesellschaftspolitisch progressiven Positionen pflegen sollte. Auf der anderen Seite muss sie aber auch denjenigen, die von der Wohlstandsentwicklung abgekoppelt sind und Status- und Zukunftsunsicherheit verspüren, ein Politikangebot machen, das tatsächlich zur Verbesserung ihrer Lebenssituation beiträgt und sich nicht in kosmetischen oder nur symbolisch wirkenden Maßnahmen erschöpft. Auch dem Rechtspopulismus lässt sich am besten begegnen, wenn man beides miteinander verknüpft.

Wo es um die Verteidigung der Demokratie und Menschenrechte (auch von Zuwanderern) geht, braucht sich die SPD von anderen Parteien nicht belehren zu lassen – am wenigsten von den Konservativen. Dieses stolze historische Erbe sollte sie stets offensiv herausstellen. Andererseits darf sie ihr Eintreten für liberale Werte und Rechte aber nicht so anlegen, dass es auf Kosten der ohnehin benachteiligten Bevölkerungsgruppen geht. Weil das Gelingen der Integration ein voraussetzungsvoller und konfliktreicher Prozess ist, unterliegt auch die Zuwanderung Grenzen. Die SPD sollte diesen Zusammenhang offen ansprechen und das Thema nicht der konservativen oder rechtspopulistischen Konkurrenz überlassen.

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