Wolfgang Merkel ist Direktor der Abteilung »Demokratie und Demokratisierung« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der SPD-Grundwertekommission. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert er, wie die SPD den Spagat zwischen weltoffenen und traditionell ausgerichteten Milieus hinbekommt.
NG|FH: Die SPD steckt in der Krise. Und mit der neuen Großen Koalition ist sicherlich noch kein Ausweg aus der Misere gefunden. Von etwa 30 % Zustimmung, die die Sozialdemokratie vor ein paar Jahren noch erhielt, ist sie auf unter 20 % abgesackt. Inwieweit ist diese Entwicklung europäische Normalität und auf allgemeine gesellschaftliche und politische Ursachen zurückzuführen? Und inwieweit auf besondere Schwächen der deutschen Sozialdemokratie?
Wolfgang Merkel: Beides spielt eine Rolle. Das Beunruhigendere ist zweifellos, dass es ein europäischer Trend ist. Es gibt – mit ganz wenigen Ausnahmen wie Portugal – kein Land in Europa mehr, in dem die Sozialdemokratie auch nur annähernd noch ihre Stärke von vor 20, 30 Jahren erreicht hat. Gar nicht zu reden von den 60er und 70er Jahren. Es ist ein langanhaltender, säkularer Trend, der mit der Individualisierung der Gesellschaft zusammenhängt und etwas damit zu tun hat, dass sich Menschen sehr viel weniger in kollektiven Zusammenschlüssen organisieren, die häufig so etwas wie Unterstützungs- oder Zulieferorganisationen für die Sozialdemokratie darstellten. Dieser Trend trifft die Mitte-links-Volksparteien stärker als die Mitte-rechts-Parteien, weil erstere den Anspruch haben, die Gesellschaft sozial gerechter zu gestalten, aber auf Restriktionen treffen, unter denen heute viel schwieriger zu handeln ist, als in den 70er oder 80er Jahren. Die Deregulierung und Internationalisierung der Märkte sind hier zuerst zu nennen. Gleichzeitig wird der Verteilungskonflikt mittlerweile von einer kulturellen Konfliktlinie überlagert. Diese verläuft zwischen autoritären und libertären Einstellungen, die wir noch komplexer als »kommunitaristisch« bzw. »kosmopolitisch« bezeichnen. Diese neue doppelte Wettbewerbsstruktur verengt den strategischen Raum der Sozialdemokratie zusätzlich.
NG|FH: Sie haben vor einiger Zeit diagnostiziert, die SPD säße in einer »Kosmopolitismusfalle«. Können Sie erläutern, was sich dahinter verbirgt und welcher Weg aus dieser Falle herausführen könnte?
Merkel: Die Falle entsteht durch die angesprochene neue Konfliktlinie im politischen Wettbewerb in Europa. Auf der einen Seite stehen jene, die im weitesten Sinne offene Grenzen wollen, für Handel, Kapital, Flüchtlinge und nationalstaatliche Kompetenzen. Das entspreche einer modernen liberalen Politik, trifft aber auch humanitäre Präferenzen wie sie in weiten Teilen sozialdemokratischer Mittelschichten zu finden sind. Auf der anderen Seite befinden sich traditionelle Sektoren, typischerweise die weniger Privilegierten in unserer Gesellschaft, die sehr stark auf nationalstaatlichen Schutz vor einer uferlosen Liberalisierung, Globalisierung und Öffnung angewiesen sind. Dies bezieht sich sowohl auf die ökonomische wie die kulturelle Dimension des Grenzregimes.
Die SPD ist nun eine Partei, die zum einen kulturell modern sein will, gleichzeitig aber auch die Schwächeren in der Gesellschaft schützen muss. Und die Schwachen sind typischerweise sehr viel stärker kommunitaristisch und manchmal auch nationalstaatlich orientiert. Hier geht also ein neuer Riss durch die Gesellschaft. Und er verbindet sich mit einer Sozialstruktur, in der die Mittelschichten durchaus auch vom Kosmopolitismus profitieren und sehr viel weniger die Bürde der Öffnung der Grenzen tragen, während die traditionellen Arbeiterschichten oder gar die prekärer beschäftigten sozialen Unterschichten direkt von der neuen verschärften Konkurrenz auf dem Arbeits-, Wohnungs- und Bildungs»markt« sowie in der unmittelbaren Lebenswelt konfrontiert werden. Wer für eine strengere Kontrolle der Grenzen eintritt, kann also sehr wohl rationale ökonomische Gründe haben und nicht einfach fremdenfeindlich sein, wie so häufig von den Kosmopoliten unterstellt.
Eine Vermittlung der beiden Positionen ist nicht einfach. Ich glaube, dass es eine Balance geben und die SPD wieder stärker traditionellere Probleme der Verteilung und Sicherheit angehen muss. Gerade die schwachen sozialen Schichten unserer Gesellschaft muss sie schützen. Sie hat das in den letzten Jahrzehnten – zumindest auf Bundesebene, in den Kommunen ist das häufig anders – nicht hinreichend mehr signalisiert. Sie sollte also den Universalismus humanitärer Rechte nicht aufgeben, aber klarmachen, dass das nicht automatisch weit geöffnete Grenzen bedeuten muss. Migrationspolitik eignet sich nicht zur Lösung des Nord-Süd-Problems.
NG|FH: Mit welchen Leitgedanken und konkreten Politiken könnte diese Kluft überbrückt werden?
Merkel: Im Sinne Willy Brandts müsste klargestellt werden, dass wir im globalen Süden eine große Aufgabe haben und es nicht ausreicht, einen kleinen Teil der unter miserablen Umständen lebenden Bevölkerungen der früher sogenannten Dritten Welt bei uns aufzunehmen. Das lindert das eigentliche Problem so gut wie nicht. Das ist in der internationalen politischen Ökonomie der Entwicklungsforschung besser bekannt als in der schlichten Willkommensöffentlichkeit. Der Ökonom Paul Collier hat das so formuliert: »Deutschland rettet die Falschen«, wenn es nur jene rettet, die darwinistisch in der Lage sind, unter Gefahren und Strapazen zu kommen. Wir müssen vielmehr deutlich machen, dass wir in den Kriegs- und Entwicklungsländern vor Ort in einem deutlich anderen Ausmaß investieren wollen. Dann haben wir auch eine größere Berechtigung zu sagen, wir kontrollieren jetzt auch den Zuzug in sozialverträglichem Maße. Denn dieser Zuzug muss nicht nur sozialverträglich gestaltet werden, er muss auch mehrheitlich von der Gesellschaft akzeptiert werden, sonst verliert nicht nur eine Partei wie die SPD an Zuspruch, sondern es verlieren die demokratischen Institutionen insgesamt an Vertrauen. In der Flüchtlingspolitik der letzten Jahre hat die SPD jedoch an Glaubwürdigkeit und Wähler verloren.
Für die Flüchtlinge und Migranten, die eine sehr gute Chance haben, bei uns bleiben zu können, muss schnell der Weg in den Arbeitsmarkt und in die besseren Schulen der kosmopolitischen Quartiere geöffnet werden. Das verlangt größere Bildungsinvestitionen. Wir beschwören das zwar, tun es aber meist nicht. Leider liegen die SPD-geführten Bundesländer in dieser Hinsicht nicht vor den konservativ geführten.
Die SPD muss zeigen, dass sie gleichzeitig humanitär und offen ist. Offen darf dabei nicht heißen, unkontrolliert die Grenzen zu öffnen. Das ist eine verfehlte Politik. In Deutschland hat sie der AfD in den Bundestag verholfen. Wir müssen viel mehr vor Ort tun. Das ist das Nord-Süd-Erbe von Willy Brandt. Jedes Jahr Hunderttausende aufzunehmen, ändert nichts am Nord-Süd-Problem. Es unterstützt nur die narzisstische Selbstbespiegelung jener, die sich dann wohlfeil in der Willkommenskultur als die moralisch überlegenen Europäer fühlen können.
NG|FH: Um den vorher skizzierten »kommunitaristischen« Teil der Gesellschaft zu überzeugen, werden jetzt Begriffe in die Debatte eingeführt, die zeigen sollen, dass die SPD im Zuge ihrer Neuorientierung ihre Interessen aufgreift, etwa die Begriffe »Heimat« oder »Nation«. Sind diese Ansatzpunkte Schritte auf dem für einen Brückenschlag notwendigen Weg?
Merkel: Ich bin da skeptisch. Das ist ein historisch vermintes Gelände und man wird im deutschen Kontext bei »Heimat« sofort erst einmal definieren müssen, was man alles nicht meint, um sich von unserer grauenhaften Vergangenheit abzusetzen. Die Nationalsozialisten haben den Begriff in schlimmer Art und Weise instrumentalisiert und schon davor gab es nationalistische Deutschtümelei. Deshalb ist der Umgang mit dem Heimatbegriff in Deutschland schwierig. Wenn die aufgeklärte Linke ihn gebraucht, dann meint sie vertraute Lebenswelten, in denen man gerne leben, sich frei bewegen, nachbarschaftlich kommunizieren und solidarisch miteinander umgehen kann. Sozialforscher formulieren das so: Wir brauchen ein Sozialkapital des Vertrauens, das Menschen miteinander verbindet. Diese lebensweltliche Verbundenheit bedeutet auch politische Gemeinschaft. Auch der Nationsbegriff ist in Deutschland viel schwieriger durchzubuchstabieren als es im Westen Europas sonst der Fall ist, etwa in Frankreich, wo hinsichtlich der Staatsbürgerschaft das Geburtsortsprinzip gilt, während bei uns immer noch ein etwas verschwiemeltes Abstammungsprinzip dominiert.
Ich wäre also mit dem Begriff »Nation« vorsichtig. Wird er zur ethno-kulturellen Exklusion verwendet, lehne ich ihn ab. Aus demokratischer Sicht habe ich aber eine klare Präferenz: Wir dürfen den Nationalstaat nicht leichtfertig aufgeben, wir müssen ihn bewahren als ein sicheres Gehäuse für demokratische Verfahren, in dem am leichtesten Solidarität und Umverteilung zu organisieren ist. Wir könnten etwa diskutieren, was die dänischen Sozialdemokraten machen, ohne alles zu kopieren. Dort gibt es ausgeprägte Grenzkontrollen, gleichzeitig aber auch eine der besten Demokratien der Welt und eine hochsolidarische Gemeinschaft. Uns hilft es nicht, wenn wir die Grenzen aufmachen, den Nationalstaat noch weiter der wenig demokratischen EU anheimstellen und dann letztendlich den politischen Zugriff auf die Gestaltung unserer Lebensverhältnisse verlieren, die dann durch internationale Märkte oder wenig demokratische supranationale Regime organisiert würden.
NG|FH: Inwieweit hängen eigentlich kommunitaristische Orientierungen und der sozialökonomische Status der Menschen in der neuen Unterschicht und in Teilen der alten Mittelklasse zusammen? Ist zu erwarten, dass mehr soziale Sicherheit und bessere Einkommen die kommunitaristisch-nationalstaatliche Orientierung verringern – oder sitzt diese tiefer?
Merkel: Die Verbesserung der sozialökonomischen Lebensbedingungen ist eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung, um das gemeinschaftliche, kommunitaristische Element aus einem nationalistischen Kontext herauszulösen. Man kann gegenüber dem Fremden offener auftreten, wenn man sich in geschützten Lebensverhältnissen befindet.
Das ist ja der Kern meiner Kritik, dass die Kosmopoliten, die sich meist in geschützten und besseren Lebensverhältnissen befinden, viel leichter offen sein können als jene, die befürchten, dass ihre Lebensverhältnisse durch diese liberale Offenheit nur noch prekärer werden und sich verschlechtern. Wenn die Sozialdemokratie das in eine Politik umsetzt, die einen stabilen sozialen Schutz und bessere Lebenschancen gewährleistet, dann wird bei vielen Kommunitaristen die innere Bereitschaft wachsen, sich von den allzu engen nationalen Orientierungen zu lösen, sich dafür aber der sozialen und politischen Gemeinschaft zugehörig und verpflichtet zu fühlen.
Man braucht also einen handelnden, schützenden und ermöglichenden Nationalstaat als Rückhalt, erst dann kann man sich selbstbestimmt ohne zu große Lebensrisiken für eine weite Welt öffnen. Dies ist die Reihenfolge, der eine gerechte sozialdemokratische Politik folgen muss.
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