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Wie die Welt die Juden verriet

Was vor 80 Jahren im Juli 1938 in Evian-le-Bains geschah, kam einem »test of civilisation« gleich, wie ein amerikanischer Beobachter schrieb – einer Bewährungsprobe der zivilisierten westlichen Welt. Delegierte aus 32 Staaten kamen auf Anregung des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt in dem französischen Badeort am Genfer See zusammen, um eine Lösung für die Aufnahme der verfolgten Juden aus Deutschland und dem inzwischen dem Reich einverleibten Österreich zu finden. Auslöser der Konferenz waren die antisemitischen Exzesse in Wien, die mit Plünderungen jüdischer Geschäfte und Wohnungen, auch mit jenen berüchtigten »Reibpartien« einhergingen, bei denen jüdische »Putzscharen« gezwungen wurden, die Trottoirs mit Zahnbürsten von pro-österreichischen Slogans zu reinigen. Die Pogrome dauerten Wochen und Carl Zuckmayer, Zeuge der ersten Tage der NS-Herrschaft in Berlin, kam zu dem Urteil: Nichts von dem, was 1933 in Berlin geschah, sei mit jenem geradezu blindwütigen Hass zu vergleichen, der sich in den österreichischen Anschluss-Pogromen entlud. Was in Deutschland in einem langjährigen Prozess erfolgte, vollzog sich in Österreich nach dem Einzug der deutschen Truppen praktisch über Nacht: 200.000 österreichische Juden sahen sich plötzlich entrechtet und hilflos nationalsozialistischer Willkür und Gewalt ausgeliefert. Voller Entsetzen hatte die demokratische Presse der westlichen Welt über die Gräuel in Wien berichtet.

Die Vertreter aus neun europäischen, 20 lateinamerikanischen Ländern sowie drei Dominions des britischen Empire, die in ihren Staatskarossen vor dem hoch über dem See gelegenen Hotel Royal vorfuhren, wussten also sehr wohl, worum es ging: den verfolgten, auswanderungswilligen, verzweifelt Einreisevisa begehrenden deutschen Juden Zuflucht in ihren Ländern zu bieten. Doch was mit hochtönenden Versicherungen begann, wurde bald zum zynischen Pokerspiel. Die Delegierten überboten einander darin, die Folgen der Weltwirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit und darniederliegende Wirtschaftskraft in ihren Ländern in schwärzesten Farben zu schildern – eine Situation, die trotz besten Willens die Aufnahme verfolgter Flüchtlinge unmöglich mache. Wie immer, wenn Politik nicht weiter weiß, wurde auch hier ein Komitee gegründet: Das »Intergovernmental Committee on Refugees« mit Sitz in London. In Kooperation mit Deutschland sollte es die Modalitäten der Auswanderung regeln. Aber was gab es schon zu regeln, wenn kein Land sich für die Verfolgten und Entrechteten öffnen wollte?

So mündete, was im Juli 1938 in dem Badeort am Genfer See als Bewährungsprobe der demokratischen Weltgemeinschaft begann, in eine moralische Katastrophe. Als die Welt die Juden verriet nennt Jochen Thies deshalb seinen Bericht über diese Konferenz, die von deutschen Historikern meist pflichtgemäß erwähnt, aber doch eher als Marginalie behandelt wird. Thies hat nun die Protokolle dieser zehn Tage in Evian gründlich untersucht; akribisch berichtet er über die Ausflüchte der Delegierten und konfrontiert sie mit einer Chronik des parallel in Deutschland wachsenden Drucks – etwa durch Berufsverbote für jüdische Ärzte, Apotheker oder Anwälte.

Den Reigen der Absagen eröffnet der niederländische Vertreter: Wegen extrem hoher Arbeitslosigkeit stellt er nur eng begrenzte Hilfe in Aussicht und sieht sein Land vor allem als Transitland für Flüchtlinge, die nach Amerika wollten. Der Belgier argumentiert ähnlich, verweist auf die dichte Besiedlung des kleinen Landes, in dem bei 7,8 Millionen Einwohnern bereits 300.000 Flüchtlinge aus Deutschland, der Sowjetunion und der spanischen Republik lebten. Ein Delegierter, der australische Oberstleutnant Thomas White, begründet seine Absage offen rassistisch: Sein Kontinent habe kein Rasseproblem und wolle sich in Form größerer Einwanderung auch keines schaffen. (Er übersieht dabei geflissentlich, dass Australiens Ureinwohner, die Aborigines, den Weißen damals als minderwertige Rasse gelten – erst 1967 erhalten sie die Bürgerrechte, erst 1980 hebt Australien die Rassentrennung an den Schulen auf). Schon an den ersten beiden Tagen der Konferenz wird klar, dass sich die kleineren Länder nur bewegen werden, wenn die damaligen großen drei – Großbritannien, USA und Frankreich – mit gutem Beispiel vorangehen. Doch genau das tun sie nicht. Der britische Vertreter, Lord Winterton, als einstiger Kampfgefährte von Lawrence von Arabien, gewiss kein besonderer Freund von Juden und Zionisten, erklärt kategorisch, das Vereinigte Königreich sei kein Einwanderungsland, Asyl also nur innerhalb enger Grenzen möglich. Wenige Monate zuvor hatte die britische Regierung wegen blutiger Auseinandersetzungen zwischen Arabern und Juden die Einwanderung jüdischer Flüchtlinge nach Palästina gedrosselt. Der Amerikaner, ein Industrieller namens Myron C. Taylor, hält sich strikt an die Weisung seiner Regierung, eine höhere Einwanderungsquote und jede zusätzliche Belastung der amerikanischen Steuerzahler unter allen Umständen zu vermeiden. Wenn ausgerechnet der Anreger der Konferenz, Präsident Roosevelt, die jährliche deutsche Einwanderungsquote von 27.370 Deutschen, jüdische Flüchtlinge inbegriffen, nicht erhöhen will, hat das allerdings nicht nur mit den im Jahr 1938 rasant steigenden Arbeitslosenzahlen, sondern auch mit einer Welle des Antisemitismus zu tun, welche in den 30er Jahren die besten Universitäten des Landes dazu bringt, die Zulassung jüdischer Studenten durch Quoten zu begrenzen.

Es gab damals schon eine isolationistische auch antisemitische »America First«-Bewegung, die einen Großteil der öffentlichen Meinung vor der dritten Wahl Roosevelts im Jahr 1940 beherrschte. Philip Roth hat sie in seinem Roman Verschwörung gegen Amerika eindringlich beschrieben. Schließlich wiegelt auch der letzte der großen Drei, der Schriftsteller und Diplomat Henry Bérenger ab: Frankreich leiste bereits mehr als alle anderen Konferenzteilnehmer – bei nur 40 Millionen Einwohnern lebten schon 3 Millionen Ausländer im Land, zudem habe es zusätzlich bereits 200.000 Flüchtlinge aufgenommen. Zusätzliche Hilfe sei deshalb nur äußerst begrenzt möglich.

Nach diesen Einlassungen der Großen sehen auch die Lateinamerikaner keinen Grund, die Schleusen großzügig zu öffnen. Die meisten knüpfen eine eng begrenzte Einwanderung an die Bedingung, die jüdischen Immigranten müssten bereit sein, sich als Landarbeiter zu verdingen – Akademiker sind für sie überqualifiziert und deshalb unerwünscht. Neben Costa Rica zeigt sich nur die Dominikanische Republik willig, jüdische Flüchtlinge in größerer Zahl aufzunehmen. Allerdings müssen auch sie bereit sein, als Siedler in einer tropischen Landwirtschaft zu arbeiten. Diktator Rafael Trujillo hofft offenbar, durch den Zuzug von Juden die demografische Situation auf seiner Karibikinsel zugunsten der weißen Bevölkerung zu ändern.

Obwohl die Summe dieser zehn Tage völlig vernichtend war, endet die Konferenz mit einem prächtigen Feuerwerk samt üppigem Bankett. Doch im Sommer 1938 fiel in Evian, so Thies, die Vorentscheidung über die deutschen Juden, während ihnen in Deutschland nach und nach die Luft zum Atmen genommen wurde. Es ging um eine Rettungsaktion für eine halbe Million Menschen, deren Kosten mit 200 Millionen US-Dollar überschaubar gewesen wären. Aber die demokratische Weltgemeinschaft bot nur einem Bruchteil der Betroffenen Plätze an. Golda Meir, die spätere Regierungschefin von Israel, war als Beobachterin anwesend. Zuzuhören, wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht könnten, war für sie »eine erschütternde Erfahrung«. In ihren Memoiren schreibt sie: »Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst Ihr denn nicht, dass diese verdammten Zahlen menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn Ihr sie nicht aufnehmt?« Die zivilisierte westliche Welt hat beim Test von Evian erbärmlich versagt. Allerdings kam es weit schlimmer, als damals befürchtet. Weder Golda Meir noch die verstockten Delegierten der 32 Staaten konnten damals ahnen, dass der deutsche Diktator über das »einstige Volk der Dichter und Denker« nur drei Jahre später mit aller bisherigen Zivilisation brechen und die fabrikmäßige Vernichtung all der europäischen Juden befehlen wird, deren seine SS-Henker habhaft werden können.

Jochen Thies: Evian 1938. Als die Welt die Juden verriet. Klartext, Essen 2017, 200 S., 18,95 €.

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