Die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff leitet seit 2016 die Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung (HSFK), eines der großen deutschen Friedensforschungsinstitute. NG|FH-Chefredakteur Richard Meng sprach mit ihr über Auswege aus dem Ukrainekrieg – und über die neuen Herausforderungen für Friedensforschung und globale Politik.
NG/FH:Frau Deitelhoff, sehen Sie einen Weg zum Frieden in der Ukraine?
Deitelhoff: Ich sehe einen Weg zum Frieden, aber ich sehe keine Abkürzung zum Frieden. Manche sehen ja eine solche Abkürzung durch Einstellung von Sanktionen und Waffenlieferungen, verbunden mit einer großen diplomatischen Initiative. Auf diese Weise sehr schnell zu Friedensverhandlungen kommen zu wollen, halte ich für einen Fehlschluss. Ich sehe auf russischer Seite bisher keinerlei Bereitschaft, keinerlei Interesse an Kompromissen.
Gibt es diese Bereitschaft in Kiew?
Zumindest liegt da nach wie vor etwas auf dem Tisch, was bisher nicht zurückgezogen wurde. Das ist die Bereitschaft, die Verfassung zu ändern – indem man einen NATO-Beitritt ausschließt, wenn es im Gegenzug Sicherheitsgarantien von anderen Mächten gibt. Man ist bereit, den Status der Krim für das nächste Jahrzehnt offen zu halten, jedenfalls darüber zu verhandeln. Und man ist bereit, über Autonomierechte für den Donbass zu reden. Was aber nicht bedeutet, das Gebiet an Russland abzutreten.
Wenn Sie keinen schnellen Weg zum Frieden sehen, wo wäre ein langsamerer? Bedeutet er, dass auch Sie sagen: Da muss erst etwas ausgekämpft werden?
Das ist ein sehr unschöner Begriff, aber ich fürchte, er ist nicht völlig falsch. In einer Situation, in der zwei Parteien gegensätzliche Ziele haben und es zwei Möglichkeiten gibt, sie zu erreichen – verhandeln oder auskämpfen –, und mindestens eine der beiden Parteien denkt, sie könnte ihre Ziele auf dem Schlachtfeld durchsetzen: Dann können wir, egal was wir tun, nicht erreichen, dass diese Seite sich für Friedensverhandlungen entscheidet. Was wir nur tun können, ist die Veränderung des Kosten-Nutzen-Kalküls zu bewirken. Wir müssen die Kosten für das Auskämpfen so hoch treiben, dass das Verhandeln mit Kompromissangeboten attraktiver wird.
Das bedeutet, die Kriegsspirale dreht sich erst mal weiter?
Immerhin ist die eine Seite – Kiew – bereiter, sich auf Verhandlungen einzulassen. Unklar ist durchaus, wo die Grenzen dieser Kompromissbereitschaft liegen. Aber die andere Seite zeigt keinerlei Interesse an Friedensgesprächen, außer wenn die Ukraine alle Bedingungen Russlands anerkennt: Aufgabe von Krim und Donbass, Regierungswechsel und Entmilitarisierung.
Sie meinen: Stärke im Krieg ist dann der einzige Weg zum Frieden?
Nicht der einzige, da gibt es zwei Elemente. Das eine ist militärische Unterstützung, um die Ukraine nach Möglichkeit in die Lage zu versetzen, der russischen Aggression zu widerstehen. Das zweite Element ist, über Sanktionspakete ebenfalls die Kosten nach oben zu treiben, damit die russische Föderation nicht auf Dauer in der Lage ist, Gerät und Personal für den Krieg zu ersetzen.
Womit wir nun alle innerhalb einer militärischen Logik denken?
Ja – aber das bedeutet ja nicht, dass die Diplomatie automatisch zum Schweigen kommt. Innerhalb von Kriegen wird immer auch diplomatisch gehandelt. Denken Sie nur an die große öffentliche Aufregung, wenn wieder mal der Kanzler oder der französische Präsident mit Putin telefoniert hat. Es hat in diesem Konflikt immer auch diplomatische Versuche gegeben, aber die hat die russische Seite alle zurückgewiesen. Es gab Unterstützung für Friedensverhandlungen von der türkischen Seite, auch von der israelischen und von anderen – und es gibt das nach wie vor, selbst wenn zur Vermeidung von Aufgeregtheit nicht alles öffentlich gemacht wird. Selbst innerhalb der militärischen Logik gibt es weiter Diplomatie. Und sie wartet auf Signale, dass es vorwärts gehen kann.
Nun gibt es aber auch noch die gesellschaftliche Ebene, Kriegsmüdigkeit oder Kriegsbereitschaft. Kriege enden, wenn sie von den Menschen nicht mehr mitgetragen werden. Wie steht es um diese Dimension, speziell in Russland?
Im Grunde genommen zielt ja auch darauf der Versuch, das Kosten-Nutzen-Kalkül zu verändern, zum Beispiel weil Kriegsmüdigkeit entsteht. Das Ziel muss sein, dass eine Situation entsteht, in der auf beiden Seiten militärisch keine großen Gebietsgewinne mehr zu erwarten sind, sondern wir uns in einem Stellungskrieg befinden, in dem – wir sind da schon ziemlich nah dran – Material und Personal sich abnutzen und es attraktiver wird, es am Verhandlungstisch mit Kompromissen zu versuchen.
Wenn wir nun in diese beiden Gesellschaften hineinschauen, haben wir ein Problem: Wir haben keinen wirklich unparteiischen Blick. In die ukrainische Gesellschaft hinein haben wir sicherlich einen pluralistischeren Blick mit mehreren Perspektiven, aber auch da gibt es keine neutrale Perspektive, die irgendeine Objektivität für sich beanspruchen könnte. Bezogen auf die russische Gesellschaft ist es wegen Zensur und Gleichschaltung noch viel schwieriger. Wir wissen nicht, wie groß das Ausmaß an Kriegsunterstützung wirklich ist.
Wir sind mithin in unserer Wahrnehmung selbst Gefangene dieses Krieges?
Aber ja.
…wissend gleichwohl, dass es ohne Stimmungsveränderungen in Russland, ohne höhere interne Legitimationskosten, kein Ende des Krieges gibt? Während immer wieder berichtet wird, dass die russische Gesellschaft eher hinter der Regierungspolitik zusammen rückt?
Es ist unglaublich schwierig, zu sagen, ob das so stimmt. Es gibt auch den gegenteiligen Eindruck. Was wir gelernt haben über die inneren Prozesse in autokratischen Systemen ist aber doch dies: Wir wissen meist nichts, bis es stattfindet. Ganz kurz vorher öffnet sich ein Fenster und es passiert etwas, aber Prognosen über längere Zeit fallen uns unglaublich schwer.
So wie 1989 niemand den Mauerfall vorausgesehen hat?
So ist es.
Wird die Konsequenz nicht schnell zynisch, nämlich einen Krieg laufen zu lassen, bis sich am Ende in den Gesellschaften ein Friedensfenster auftut?
Einen gewissen Zynismus würde ich da auch sehen – aber das ist eine Position, die es gibt: mit der Mahnung, nicht ständig von außen eingreifen zu wollen, sondern abzuwarten, wie sich ein Konflikt entwickelt und sich dann darum zu kümmern, was daraus wird. Nun sind wir hier aber – nicht zuletzt durch die Medien – so stark miteinander verbunden, dass wir sehr stark Anteil nehmen. Solche Kriege sind nicht mehr weit in der Ferne, sondern sie sind uns nahe, schon beim Frühstück in der Küche. Wir sind Live-Beobachter und das macht es schwierig, daneben zu stehen und zuzuschauen. Verschärft dann, wenn wir den Eindruck bekommen müssen, dass es zu Kriegsverbrechen kommt und zu Gräueltaten.Das aktiviert unser moralisches Gewissen, unser Verantwortungsempfinden und den Wunsch, es zu beenden.
Jetzt redet die Forscherin fast wie eine normale Bürgerin, die auch nur weiß, was sie gerade aus den Medien mitbekommt. Helfen Ihnen Ihre Profession und Ihre Erfahrung jetzt noch irgendwie?
In ganz vielerlei Hinsicht ist dieser Krieg ein typischer, also vergleichbar. Als Friedens- und Konfliktforscherin hilft mir, was ich über Kriegsursachen weiß, über Kriegsverläufe – und darüber, wie Kriege beendet werden. Ich weiß, dass es nicht stimmt, dass alle Kriege durch Verhandlungslösungen beendet werden. Aber ich weiß auch, dass die große Mehrheit der Kriege durch Verhandlungslösungen enden. Und ich weiß, unter welchen Bedingungen es zu einer Verhandlungslösung kommt. Entweder es gibt eine übermächtige dritte Partei, die in der Lage ist, die beiden Konfliktparteien zu zwingen, aufzuhören. Das wären in unserem Fall gemeinsam China und die USA. Aber es liegt auf der Hand, dass es dazu nicht kommen wird, weil die beiden selbst in einer Konfrontation stecken. Oder es wird für beide Kriegsparteien irgendwann mehr gewinnbringend, sich am Verhandlungstisch zu einigen.
Ist überhaupt eine Lage denkbar, in der die USA und China gemeinsam ein Interesse hätten, diesen Krieg zu ersticken?
Nur dann, wenn beide eine direkte Sorge hätten, dass der Konflikt zu einem Krieg zwischen ihnen selbst führen könnte. Das sehe ich aber nicht. Beide achten sehr darauf, sich nicht direkt hineinziehen zu lassen. China etwa verhängt keine eigenen Sanktionen, aber es unterläuft die Sanktionen des Westens auch nicht. Beide sagen bisher: Für unsere Rivalität spielt dieser Konflikt keine Rolle.
Könnte es die Strategie der USA werden, ein Einfrieren des Konflikts zu erzwingen?
Alleine die Unterstützung der Europäer reicht jedenfalls nicht aus, damit die Ukraine widerstandsfähig bleibt…
…womit doch eine ukrainische Rückeroberungsstrategie ziemlich illusorisch ist?
Die ist jedenfalls sehr schwierig geworden. Rückerobern ist immer schwieriger als verteidigen. Das Problem ist für die Analyse aber, dass dieser Konflikt extrem dynamisch ist, gerade was die militärischen Fähigkeiten anbetrifft. Westliche Raketensysteme können da sehr schnell vieles ändern. Und auf russischer Seite? Ich selbst hatte erwartet, dass Putin vorrangig die Landgewinne im Donbas sichern und verteidigen wird – dann war plötzlich wieder von einem Vormarsch über den Osten der Ukraine hinaus die Rede. Bei all dem ist natürlich immer viel Säbelrasseln in der Hoffnung, die Gegenseite zu demoralisieren.
Wird die Friedensforscherin jetzt zur Militärstrategin?
Ich habe mir das so nicht vorgestellt, aber es ist Teil meiner Aufgabe. Soll ich mit Ihnen darüber reden, welcher Mediator am besten für Friedensgespräche infrage kommt? Es wäre nicht das, worauf es jetzt ankommt. Ich würde aber immer noch gerne mit Ihnen über die Krise der Rüstungskontrolle reden und darüber, wie wichtig es wäre, sie auf taktische Nuklearwaffen mit kurzer Reichweite auszuweiten, weil da unser größtes Problem ist.
Kann es sein, dass mit diesem Krieg sich auch bei der Friedensforschung etwas verschiebt?
Sie bleibt, was sie ist. Unser Gegenstand sind Kriege und Konflikte in der Welt. Je nach Konfliktkonstellation haben wir Erkenntnisse und Befunde – die geben wir an die Praxis weiter. Im Juni haben wir gemeinsam mit den anderen drei großen deutschen Friedensforschungsinstituten ein Gutachten herausgegeben und haben uns darin auch gemeinsam für militärische Unterstützung der Ukraine ausgesprochen. Das ist uns nicht leicht gefallen, aber es reflektiert die reale Situation. Nicht unsere Wunschvorstellung.
Ist Vertrauen schaffen ein Fremdwort geworden? Was sonst wäre Ihre Wunschvorstellung?
Ich habe eine Wunschvorstellung, aber ich sehe sie in den nächsten Monaten nicht als realisierbar an. Genauer: Ich habe zwei Wünsche. Erstens möchte ich, dass auch in diesem Krieg eine Politik betrieben wird, die den Frieden danach nicht verhindert. Das ist nämlich das ganz große Problem. Wie lässt sich verhindern, dass wir es am Ende mit so unversöhnlichen Gegnern zu tun haben, dass echter Frieden undenkbar wird. Wenn wir die Politik Russlands in den besetzten Gebieten anschauen, ist das verheerend. Da bricht uns eine ganze Generation auseinander.
Komplette Kompromisslosigkeit – im Ergebnis dann aber auf beiden Seiten, weil das eine zum anderen führt?
Alles was der Westen tut, muss unter der Prämisse betrachtet werden: Es muss möglich sein, später neu anzufangen, eine neue Friedensordnung zu schaffen. Mal kurz in die Glaskugel geschaut: Bis mindestens Mitte nächsten Jahres wird Krieg sein. Aber wir müssen zweitens schon jetzt vorausdenken, wie danach ein Frieden zustande kommen kann. Wir müssen Kontaktgruppen vorbereiten, die zwischen den Parteien sowie zwischen uns und den Parteien überhaupt wieder erste Gemeinsamkeiten ausloten. Hinsichtlich wechselseitiger Frühwarnung zum Beispiel, hinsichtlich nächster und übernächster Schritte. Wir versuchen jetzt, einander abzuschrecken – aber das muss so entwickelt werden, dass es nicht wieder wird wie im alten Kalten Krieg.
Kann denn Abschreckung jemals Vertrauen schaffen?
Selbst in der Abschreckung steckt ein kooperatives Element. Denn man muss sich immer darüber klar sein, was eigentlich der defensive Bezug ist. Bestimmte Formen der verabredeten Kommunikation zum Beispiel, mit denen beide Seiten gefährliche Eskalationsspiralen verhindern: Schon in der Abschreckung kann künftiges Vertrauen angelegt sein. Es beginnt mit der Frage der wechselseitigen Verlässlichkeit. Das alles müssen wir jetzt vorbereiten. Wir haben ja überhaupt keine Erfahrung mehr darin. Wir müssen es selbst neu lernen. Ich finde, die Rüstungskontrolle bei den taktischen Nuklearwaffen könnte da ein erster Schritt sein.
Wer außer Ihnen denkt schon an die Zeit danach?
Ich sag's jedem, der zuhört. Und ich merke, dass da viel nachgedacht wird. Etwa darüber, wie sich die künftige globale Wirtschaftsordnung ausgestaltet. Entflechtung, Verflechtung: Wie sollen wir die großen globalen Problemlagen in den Griff bekommen, wenn wir gleichzeitig in dieser Konfrontation feststecken? Dann die Frage, wie wir eigentlich Demokratie wieder attraktiv machen können, wenn viele Länder außerhalb des Westens der Meinung sind, dass die westliche Demokratie ein ziemlich beschädigtes Versprechen ist.
Ist in dieser Lage Entflechtung eine Friedensbotschaft?
Nicht per se. Nach wie vor gilt: Verflechtung ist ein friedensfördernder Faktor. Wir wollen keine komplett entflochtenen Gesellschaften, die einander nicht mehr kennen und miteinander nichts mehr gemein haben – und sich dann viel schneller für Feinde halten. Bestimmte Verflechtungsformen sind nun aber auch nicht positiv. Eine Verflechtung, mit der ich mich erpressbar mache, ist ein klassischer Konflikttreiber. Ebenso eine so dichte Verflechtung, dass die Kontrolle darüber gar nicht mehr möglich ist. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es schon mal eine solche Phase, in der das Ausmaß an weltwirtschaftlicher Verflechtung selbst durch die starken Länder nicht mehr kontrollierbar war. Das hat an vielen einzelnen Orten Krisen hervorgerufen, die sich wechselseitig verstärkt haben. Unkontrollierte Verflechtung ist ein hoher Risikofaktor. Daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen und Steuerung zurückzuholen, ist die große Herausforderung der künftigen globalen Politik.
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