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Wie offen darf die offene Gesellschaft sein?

Als ich in den 50er Jahren das Gymnasium besuchte, hatte ich es noch mit Lehrern zu tun, die den Zusammenbruch des Nazireichs ohne erkennbaren Schaden an ihrer Gesinnung überstanden hatten. In der Eingangshalle meiner Schule hatte der Rektor eine Landkarte aufhängen lassen, auf der Deutschland fast bis zum Ural reichte: Dreigeteilt niemals! Der Bestseller dieser Jahre war Ernst von Salomons Roman Der Fragebogen, in dem der Autor das »Unrecht«, das ihm in amerikanischer Internierung zugefügt worden war, wortreich beklagte und gegen die Verbrechen des Naziregimes aufrechnete. Als überzeugter Anhänger der »konservativen Revolution« und Freikorpsmann war Salomon an der Ermordung Walther Rathenaus beteiligt, wofür er eine fünfjährige Zuchthausstrafe erhielt. Die gewaltsame Abschaffung der ersten deutschen Demokratie durch die Nazis begrüßte er, blieb aber als elitärer Antidemokrat zur Naziführung vornehm auf Distanz. Einen glatten Freispruch der Naziverbrecher bedeutete sein Buch zwar nicht – dann wäre es von den Alliierten sicher verboten worden –, aber es vermittelte den Tätern und vor allem den vielen Mitläufern das Gefühl, dass sie mildernde Umstände verdienten und keinen Grund hätten, Reue und Scham zu empfinden.

Ein anderer internationaler Bestseller jener Jahre, Karl Raimund Poppers Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, wurde erst 1958 von Paul Feyerabend ins Deutsche übersetzt und von den meisten Deutschen im Wir-sind-wieder-wer-Klima der Wirtschaftswunderjahre als verspätetes Mittel westalliierter Umerziehung zurückgewiesen. Dennoch gab es, wie jüngst Till van Rahden nachgewiesen hat, immer wieder Einzelne und Organisationen, die sich –durchaus erfolgreich – für eine Verankerung demokratischer Prinzipien in der Lebenswelt der Deutschen stark machten. Als dann in den 60er und 70er Jahren vor allem junge Menschen daran gingen, den fortlebenden Ungeist der deutschen Autoritaritätsgläubigkeit zu verjagen, waren es eher marxistisch inspirierte Autoren der Frankfurter Schule, an denen sich die kritischen Geister orientierten. Der Wissenschaftstheoretiker und politische Pragmatiker Popper, der den rebellischen Studenten empfahl, sich dem piecemeal social engineering zu widmen, statt von der Revolution zu träumen, war eher etwas für Sozialdemokraten wie Helmut Schmidt, die sich in beharrlicher Kleinarbeit darum bemühten, aus Deutschland eine normale westliche Demokratie zu machen.

Das Aufbegehren der Jugend und die beharrliche politische und gesellschaftliche Reformarbeit trugen aber dazu bei, dass sich im westlichen Teil Deutschlands allmählich eine Kultur der Offenheit und des aufrechten Gangs ausbreiten konnte. Willy Brandts »Mehr Demokratie wagen« wurde vor allem von jungen Menschen im Land als Aufruf zu selbstbestimmtem politischen Engagement und zur kritischen Überprüfung der deutschen Vergangenheit verstanden. Die den Deutschen von den westlichen Alliierten verordnete Demokratie wurde allmählich mit Leben erfüllt und ihre Formalien in ein Geflecht demokratischer Einstellungen und Verhaltensweisen eingebettet, für das sich inzwischen der Begriff der »politischen Kultur« eingebürgert hatte.

Erst jetzt kam es zu einer breiteren Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld. Entscheidende Anstöße dazu gaben der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main im Jahr 1965, die Weizsäcker-Rede am 8. Mai 1985 im Bundestag, in der der Bundespräsident nicht länger vom Zusammenbruch Deutschlands, sondern von der »Befreiung« sprach, und der zweiteilige Film über die Shoah von Claude Lanzmann aus dem gleichen Jahr. In der Folgezeit wurden vermehrt KZ-Gedenkstätten eröffnet, schließlich auch das Holocaust-Mahnmal in Berlin eingeweiht und eine neue Lehrergeneration informierte im Schulunterricht kritisch über die Zeit der Naziherrschaft.

Neue Zeiten, alte Geister

Im Rückblick erscheint die zweite deutsche Demokratie als eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Deutschland wurde ein integraler Bestandteil Europas und damit der westlichen Welt. Eine lange Reihe von sogenannten »neuen sozialen Bewegungen« sorgte dafür, dass das Spektrum der in Medien und Parlament verhandelten Themen erweitert wurde und neue Akteure, schließlich auch vermehrt Frauen, die politische Bühne betraten. Als dann vor 30 Jahren – ­nicht zuletzt als Ergebnis der Ost- und Entspannungspolitik, die den kommunistischen Hardlinern das stabilisierende Feindbild nahm – das Regime in Osteuropa zusammenbrach, die Grenzen sich öffneten und Deutschland-Ost und Deutschland-West sich friedlich vereinigten, war es für viele eine ausgemachte Sache, dass der Sieg der Demokratie in ganz Europa, wenn nicht gar in der ganzen Welt für alle Zeit gesichert war.

In der damaligen Euphorie machte der amerikanische Politikwissenschaftler und Planungschef im US-Außenministerium Francis Fukuyama glauben, dass das glückliche »Ende der Geschichte« gekommen sei. Es schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis die ganze Menschheit in einem weltweiten Westen friedlich und zufrieden zusammenleben würde. Das Einzige, was Fukuyama noch umtrieb, war seine nietzscheanische Befürchtung, dass das Ende der Geschichte mit einer allgemeinen kulturellen Verflachung und mit dem Verschwinden des heroischen Menschseins einhergehen könne.

Inzwischen ist die euphorische Stimmung längst verflogen. Seit die Einbindung Russlands in die Werteordnung der Europäischen Union – auch aufgrund von Fehlern der westlichen Seite – misslang und mit China und Indien neue Weltmächte auf den Plan traten, die die bisherige Weltordnung infrage stellen, kann von einem Ende der Geschichte keine Rede mehr sein. Zugleich konstatieren wir überrascht, dass nicht nur in Asien und in Afrika, sondern auch überall in der westlichen Welt neuerdings wieder autoritäre politische Bewegungen die Demokratie erfolgreich infrage stellen. Mit Trump, Putin und Erdoğan, mit Orbán, Kaczyński, Johnson und Salvini tritt ein Politikertypus wieder ins Rampenlicht, den wir schon meinten ins Museum verbannt zu haben.

In Deutschland, das sich in den letzten Jahrzehnten zum Erstaunen der Welt kritisch mit seiner eigenen verbrecherischen Vergangenheit auseinandergesetzt hatte, ist auf einmal rechtsradikales Gedankengut wieder gesellschaftsfähig, haben Hassprediger Konjunktur, häufen sich Anschläge auf Flüchtlinge und Zugewanderte, ist Antisemitismus wieder präsent, feiert eine Partei wie die AfD – in der sich bis in die Spitze hinein Rechtsradikale und Faschisten sammeln – Wahlerfolge. Gleichzeitig sinkt die Zustimmung zu den demokratischen Volksparteien dramatisch. Durch die Gesellschaft wabern diffuse Ängste. Hass und Gewalt gegen Minderheiten und Andersdenkende nehmen zu.

Und nun das Desaster von Thüringen, wo ein FDP-Mann als »Kandidat der Mitte« mit den Stimmen der CDU und der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde und damit ein politisches Erdbeben, vor allem in der FDP und in der CDU, auslöste. Auf einen Schlag wird deutlich, was die meisten von uns sich bisher nicht vorstellen konnten: Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass eine zumindest in Teilen rechtsradikale Partei wie die AfD mithilfe sympathisierender oder sträflich naiver Gehilfen aus dem bürgerlichen Lager Regierungsmacht erlangen kann. Dass die AfD in Thüringen von einem Mann geführt wird, der offen rassistisch und demokratiefeindlich ist, scheint manche Mitglieder der CDU und der FDP dort und auch anderswo im Land nicht weiter zu stören. Das, was bei allem Parteienstreit bisher den Konsens der Demokraten ausgemacht hatte, nämlich die gemeinsame Berufung auf das Grundgesetz und die darin festgelegten Grundsätze und Regularien, scheint nicht mehr selbstverständlich.

Ein fruchtbarer Boden für Populisten

Dass in dieser Lage Poppers Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde als Ratgeber nützlich sein könnte, darf man allerdings bezweifeln. Bücher bewirken, wenn es hart auf hart kommt in der Politik, meistens ohnehin nicht viel. Dazu kommt, dass Poppers Buch ganz im Geiste eines Hayekschen Liberalismus verfasst ist, der gegenüber Systemen wie dem Stalinismus und dem Faschismus zwar zu Recht die negative Seite der Freiheit, die »Freiheit wovon«, ausreichend beachtet. Nicht aber die positive Seite der Freiheit, die »Freiheit wozu« und die prozeduralen, organisatorischen und sozialpolitischen Bedingungen der Demokratie – wie die Institutionalisierung des Sozialstaats – worauf Jürgen Nordmann schon vor Jahren hingewiesen hat.

Diese Schwäche der popperschen »offenen Gesellschaft« führt heute, wie wir am Neoliberalismus und der von ihm inspirierten Globalisierung erkennen können, dazu, dass die westlichen Demokratien häufig nicht mehr imstande sind, ihre sozialen Bestandsvoraussetzungen ausreichend zu sichern. Man lese nur, was der Liberale Jan Zielonka, der in Oxford als Dahrendorf Fellow lehrt, in seinem Buch Konterrevolution. Der Rückzug des liberalen Europa über den Anteil des marktradikalen Liberalismus an der Zerstörung der Demokratie in Europa zu sagen hat: »Wenn der Kapitalfluß über die Grenzen hinweg sich kaum kontrollieren, geschweige denn eindämmen und besteuern läßt, wird die Demokratie machtlos. Wenn Staatsausgaben sich selbst mit Inflation und Staatsverschuldung nicht aufbringen lassen, sind die meisten Wahlversprechen per definitionem leere Versprechungen… Wenn Unternehmen drohen, ihre Fabriken ins Ausland zu verlagern, sobald sie sich mit Druck von Gewerkschaften oder Steuererhöhungen konfrontiert sehen, bleibt demokratischen Regierungen nur wenig Handlungsspielraum.«

Es ist dieses Dilemma, dass den Feinden der Demokratie und der offenen Gesellschaft in die Hände spielt und viele ihrer entmutigten Anhänger zögern lässt, entschlossen für die Demokratie einzutreten. Weil die Demokratie heute nicht das Maß an Schutz und an rechtlicher und sozialer Sicherheit bietet, das die Menschen erwarten, weil demokratische Regierungen angesichts der globalen Zwänge und Abhängigkeiten allzu oft rat- und machtlos erscheinen, hat die völkische Rechte die Chance, sich als Schutzmacht der Mühseligen und Beladenen aufzuspielen und nationale Abschottung als Allheilmittel anzubieten. Weil eine neoliberale Offenheit, die vor allem den ökonomisch und kulturell Privilegierten ein ideales Spielfeld bietet, für eine wachsende Zahl von Menschen eher abschreckend wirkt, weil es der Politik zur Zeit kaum gelingt, das Bedürfnis nach Schutz und fragloser Zugehörigkeit vieler Menschen zu befriedigen, erhalten jene Kräfte wieder eine Chance, die die offene und liberale Demokratie zerstören wollen.

Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz sieht die kapitalistischen Gesellschaften des Westens auf dem Weg in eine neuartige »Drei-Klassen-Gesellschaft«, die sich aus drei Großgruppen zusammensetzt: »einer aufsteigenden, hochqualifizierten neuen Mittelklasse von Akademikern, einer stagnierenden alten oder traditionellen Mittelklasse und einer absteigenden neuen Unterklasse oder prekären Klasse«. Für Reckwitz ist die sich hier abzeichnende Spaltung der Gesellschaft nicht nur eine soziale Spaltung, sondern zugleich eine kulturelle, die in Deutschland nicht nur den großen Volksparteien große Schwierigkeiten bereitet, sondern offenbar zugleich ein ideales Aufmarschfeld für rechtspopulistische Bewegungen darstellt.

Die Demokratie, das wird uns heute wieder vor Augen geführt, ist ein kompliziertes und höchst zerbrechliches Gefüge. Sie ruht auf einer Reihe stillschweigend vorausgesetzter Überzeugungen, zum Beispiel, dass Aufklärung möglich ist, die Menschen nicht ein für allemal unmündig und verführbar sind, dass religiöse und ethnische Unterschiede, und Unterschiede im Lebensstil und in der sexuellen Orientierung nicht zu Hass und Ausgrenzung führen müssen, sondern das Zusammenleben bereichern können. Wo dieser aufklärerische Optimismus schwindet und der altbekannte deutsche Kulturpessimismus um sich greift, ist die Demokratie in Gefahr. Denn Demokratie und Liberalismus basieren auf der Prämisse, »dass das Miteinander-Reden Sinn macht und gelingen kann, dass die Aushandlung von Kompromiss und Konsens erstrebenswert und machbar ist und dass es sich lohnt, ins Gespräch mit der begründeten Hoffnung einzutreten, dass der gute Dialog ein Geburtsort der Vernunft ist«.

Allerdings gibt es auch handfestere soziale Voraussetzungen für das Gelingen des demokratischen Projekts. Als institutionelles Gehäuse der offenen Gesellschaft kann die Demokratie nur Bestand haben, wenn die sozialen Verhältnisse so sind, dass die Mehrheit der Menschen das berechtigte Gefühl haben kann, als annähernd Ebenbürtige am demokratischen Prozess mitwirken zu können und wenn alle Menschen zumindest annähernd gleiche Chancen haben, vom Angebot der Freiheit Gebrauch zu machen. Darum heißt esim Artikel 20 des deutschen Grundgesetzes zu Recht: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.« Diesem Verfassungsgebot der Sozialstaatlichkeit aber kann die Politik unter den gegenwärtigen Bedingungen ungeregelter offener Märkte und ihrer eigenen immer noch weitgehend aufs Nationale beschränkten Reichweite nicht in ausreichender Deutlichkeit nachkommen.

Der naheliegende Ausweg heißt Europa. Europa ist der größte Markt der Welt, und mit dem Gewicht dieses Marktes könnten die Europäer, wenn sie es denn wollten, ein Minimum an demokratischer Kontrolle der globalen Geld- und Warenströme durchsetzen. Erst dann wäre es wieder möglich, die schleichende Entleerung der demokratischen Politik und die Erosion der rechtlichen und sozialen Gleichheitsvoraussetzungen der Demokratie zu stoppen. Allerdings nur, wenn man den Konflikt mit den Superreichen nicht scheute und statt der relativ konfliktarmen asymmetrischen Verteilung von Zuwächsen auch auf echte Umverteilung vor allem bei den Vermögen setzte und sich die Schaffung möglichst gleicher Lebensbedingungen in den Mitgliedsländern der EU ernsthaft zum politischen Ziel setzte.

Dass sich die nach dem Brexit verbleibenden 27 EU‑Mitglieder schon bald auf eine solche Politik einigen, erscheint, angesichts der in den letzten Jahren wieder deutlicher auseinanderstrebenden nationalen Interessen in der EU, nicht sehr wahrscheinlich. Sie könnte in Zukunft sogar noch schwieriger werden, falls gelingt, was Boris Johnson zu planen scheint: aus London eine Art zweites Singapur vor den Toren der EU zu machen. Andererseits ist es nicht eben wahrscheinlich, dass der Brexit der große Erfolg wird, den die jetzige britische Regierung ihrem Volk verspricht. Es könnte durchaus sein, dass das Beispiel Großbritanniens eher abschreckend wirkt und die EU-Mitgliedsstaaten, wo gemeinsames Handeln geboten ist, künftig von nationalistischen Alleingängen Abstand nehmen. Wenn sie sich dann eines Tages doch noch auf eine gründliche Reform der EU im Sinne einer sozialpolitisch unterfütterten und subsidiär organisierten Mehrebenendemokratie verständigen könnten, könnte die EU womöglich wieder werden, was sie schon einmal war: die entscheidende Hoffnungsperspektive für die Demokraten in Deutschland, in Europa und in der ganzen Welt.

Karl Raimund Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons. Mohr Siebeck, 8. Auflage, Tübingen 2003, 524 S., 29 €.

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