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Szenario für den Wiederaufbau in der Ukraine Wie teuer, wie lang?

Kriege werfen die Menschheit in vielerlei Hinsicht zurück. Zivilisatorisch, weil es nicht erreicht werden konnte, den Konflikt mit friedlichen Mitteln zu lösen, großes Leid zugefügt wird und Menschen sterben, es gar immer zu Gräueltaten kommt. Wirtschaftlich, weil der Kapitalstock einer oder mehrerer Staaten erheblich beschädigt und somit verringert wird. Und weil die Wirtschaft bei länger anhaltenden Kriegen auf Kriegswirtschaft umgestellt wird, was die normale Wertschöpfung verringert. Finanziell, weil Krieg führende Staaten häufig wegen Rationierungsmaßnahmen einerseits und Rüstungsausgaben andererseits eine verdeckte Inflation auslösen, die unter Umständen erst ruckartig nach dem Krieg spürbar wird. Bevölkerungspolitisch, weil ein Teil der Menschen flieht und erst sehr viel später oder gar nicht zurückkommt.

Neben dem unendlichen menschlichen Leid, welches der Krieg in der Ukraine – wie andere auch – hervorruft und man nicht in Zahlen fassen kann, macht es durchaus Sinn, sich an Quantifizierungen zu versuchen, um die Dimension dessen zu verstehen, um das die Menschheit materiell zurückgeworfen wird. Solche Quantifizierungen sind schwierig und interessengeleitet. Das lässt sich ganz gut am Vietnamkrieg zeigen. Am meisten ist dort über den Aufwand diskutiert worden, den die USA betrieben haben – interessanter wäre aber sicher die Betrachtung der Entwicklung und der Kosten der Zerstörung in Vietnam gewesen. Nach den offiziellen Regierungszahlen der USA betrugen die US-Kosten von 1966 bis 1973 107 Milliarden US-Dollar, während in der Literatur Werte um 798 Milliarden Dollar kursieren, einschließlich indirekter und nachfolgender Kosten der USA.

Dramatische Auswirkungen auf Schwellen- und Entwicklungsländer

Um dennoch mit dem Blick auf den »Rest der Welt« anzufangen: Das Institut der Deutschen Wirtschaft schätzte ein Jahr nach Beginn des Ukrainekriegs im März 2023 seine Auswirkungen auf die Weltwirtschaft so ein, dass das Bruttoinlandsprodukt (BIP) aller Länder 2022 um 1.650 Milliarden Dollar kleiner ausfiel und sich 2023 um 1.000 Milliarden Dollar verringern wird – im Verhältnis zu einer Situation ohne Krieg; davon 550 beziehungsweise 400 Milliarden Dollar in den Schwellen- und Entwicklungsländern. Es ist damit zu rechnen, dass dieser Betrag bei Andauern des Krieges wegen Anpassungsreaktionen der Weltwirtschaft weiter abnimmt. Besorgniserregend ist insbesondere der Betrag bei den Schwellen- und Entwicklungsländern. Nach der sogenannten ODA-Statistik betrug 2021 die weltweite öffentliche Entwicklungshilfe knapp 180 Milliarden Dollar jährlich, also nur etwa ein Drittel des durch den russischen Einmarsch in der Ukraine verursachten Rückgangs.

Da der Krieg andauert, bleibt es auch bei der Umstellung auf Kriegswirtschaft. Insgesamt sank das berichtete Bruttoinlandsprodukt der Ukraine in 2022 um 29 Prozent gegenüber 2021. Der Tiefpunkt scheint in etwa erreicht, denn (saisonal bereinigt) nahm das BIP im 1. Quartal 2023 gegenüber dem letzten Quartal 2022 um zwei Prozent zu. Der Krieg verbraucht gegenwärtig etwa 46 Prozent aller öffentlichen Ausgaben. Würde das zivile Bruttoinlandsprodukt berichtet, wäre von einer weiteren Abnahme auszugehen.

Die Schäden des Krieges an Infrastruktur und Gebäuden übersteigen das ukrainische Bruttoinlandsprodukt.

Die Zerstörungen in der Ukraine sind immens und gehen weiter: in den Zonen der jeweiligen Frontverläufe, aber auch bei Angriffen auf Infrastrukturen, Militärstützpunkte, Produktionsstätten und Wohnquartiere im gesamten Land. Dabei werden nicht nur militärische Zwecke verfolgt, die russische Seite will damit auch Angst und Schrecken in die Bevölkerung der Ukraine tragen.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) gibt das BIP 2021 für die Ukraine mit 200 Milliarden US-Dollar an, 2022 waren es 142 Milliarden. Dabei wird das Staatsgebiet von 2008 ohne die Krim und Sewastopol betrachtet, wobei insbesondere in den Gebieten der selbsterklärten Republiken Donezk und Luhansk die Ermittlung von Daten erschwert ist.

Die Bevölkerung gibt der IWF für 2021 mit 43,8 Millionen an, die UN-Zahlen für 2022 liegen wegen der vielen Flüchtlinge bei 39,7 Millionen sowie geschätzt bei 36,7 Millionen für 2023. Neben den vielen Geflüchteten und den von ihnen verlassenen Arbeitsplätzen wird die Kriegswirtschaft insbesondere sichtbar an den hohen Haushaltsdefiziten, sehr hohen Importen an Hilfsgütern und Kriegsmaterial sowie der Umstellung der Staatsausgaben auf Kriegsführung. Das Haushaltsdefizit beträgt etwa 25 Prozent, teilweise kompensiert durch Hilfsgelder von außen. 2022 wurde damit das Defizit auf zehn Prozent gesenkt, für 2023 wird es auf 17 Prozent geschätzt. Das Ausmaß der Senkung hängt davon ab, ob und wie schnell zugesagte Hilfsleistungen ausgezahlt werden.

Die Beschädigung und Zerstörung an der Infrastruktur, den Transportwegen und Wohngebäuden sowie den Unternehmen wurde Ende September 2022 mit über 127 Milliarden Dollar beziffert, das sind etwa 16 Milliarden Dollar pro Monat. Die Zerstörung schreitet seitdem ungebremst voran und liegt in der Größenordnung von 190 Milliarden Dollar jährlich. Das ist ein Drittel höher als das aktuelle BIP.

Wiederaufbaukosten als wichtige Größe

Beim Blick auf die Ukraine können die Kosten des Wiederaufbaus im Land eine sinnvolle Messzahl darstellen. Solange der Krieg andauert, besteht nach den vorliegenden Informationen wegen der Kriegswirtschaft kaum eine Möglichkeit die Zerstörungen zu verringern. Reparaturen – soweit überhaupt möglich – zielen auf die notdürftige Funktionsfähigkeit beschädigter Infrastrukturen wie der Stromversorgung, verringern aber die Kosten des anstehenden Wiederaufbaus nicht oder nur unwesentlich. Im Gegenteil, solange der Krieg anhält, ist von monatlichen Zerstörungen im Umfang von 20–22 Milliarden US-Dollar auszugehen, hinzu treten verlorene militärische Geräte, verfeuerte Munition und ausgelegte Minen.

Am meisten diskutiert wird die Summe von 750 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau. Sie stammt aus einer Überschlagsrechnung der Weltbank in einer frühen Phase des Krieges und wurde im Juli 2022 vom nationalen Wiederaufbaurat in der Ukraine hochgerechnet – ein mittlerer Wert liegt danach bei diesen 750 Milliarden Dollar, der obere Wert entsprechend der Abbildung bei 893 Milliarden Dollar. Angesichts des gegenwärtig bereits ein Jahr längeren Krieges wären aktuell bereits 1.000 Milliarden Dollar anzusetzen – und die Summe wächst monatlich weiter an.

Nationales Programm zum Wiederaufbau (in Milliarden US-Dollar) (National Recovery Council: Ukraines's National Recovery Plan, Juli 2022)

Interessant und wichtig ist, dass die Diskussion in der Ukraine, aber auch in der EU und bei weiteren Unterstützerländern dahin geht, anstatt eines im wörtlichen Sinn verstandenen Wiederaufbaus massive Modernisierungen anzustreben. Beim Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland mit der Vergabe als Darlehen und nicht als Zuschuss die Chance zu einer Modernisierung am entschlossensten genutzt.

Das Vermögen aus dem Marshallplan (European Recovery Program, ERP) steht bis heute für Darlehensvergaben für Innovation und andere Zwecke zur Verfügung. Entsprechendes geht in der Ukraine aber nur, wenn die Darlehensgeber wie die EU zwar zur Rückzahlung der Unterstützungsmittel anhalten, sie aber anschließend als revolvierenden Fonds für die Weiterentwicklung zur Verfügung stellen. Die weltgesellschaftlich wichtigsten Herausforderungen in der Ukraine liegen in der dramatischen Verringerung der Energieintensität der Volkswirtschaft und in Klimainvestitionen.

Wie lange dauert der Wiederaufbau?

Der Zeitbedarf für den Wiederaufbau ist schwer zu schätzen, weil unklar ist, wann er beginnen kann und was wiederaufgebaut werden soll. Natürlich werden auch die finanziellen Möglichkeiten Aktivitäten im Umfang begrenzen.

Die von Russland errichtete Kertsch-Brücke wurde ausgesprochen schnell in vier Jahren errichtet, um die Krim mit Russland zu verbinden. Kostenpunkt 4,2 Milliarden US-Dollar. Die Brücke ist – wie andere Straßen zur Krim durch das Staatsgebiet der Ukraine – Angriffsziel der ukrainischen Armee. Die Regierung der Ukraine hat zudem angekündigt, nach dem Krieg die Brücke abreißen zu wollen. Ein weiteres Beispiel sind die Atomkraftwerke von Saporischschja, deren Bauzeit insgesamt 14 Jahre betrug. Ein drittes der Kachowkaer Stausee, dessen Staumauer in fünf Jahren errichtet wurde. Falls der endgültige Zusammenbruch dieses Staudamms – wie vermutet – durch eine Explosion im Wartungstunnel ausgelöst wurde, ist für einen Wiederaufbau eine längere Bauzeit erforderlich als für die ursprüngliche Errichtung.

Viele Unwägbarkeiten machen eine genaue Vorhersage unmöglich.

Kriegszeiten waren aber auch meist Zeiten technologisch sprunghafter Entwicklungen. Radartechnologie, Düsentriebwerke für Flugzeuge und die Atombombe haben das im Zweiten Weltkrieg beispielhaft gezeigt. In der Ukraine sind gegenwärtig ähnliche technologische Fortschritte zu beobachten: etwa die massive Digitalisierung in der Verwaltung und im Bildungssektor oder die Ausweitung des Sektors, der die »Armee der Drohnen« entwickelt und baut. Letzteres kann im Rahmen ziviler Anwendungen alle Arten der Fernsteuerung und damit die Automatisierung voranbringen.

Die diskutierte zeitliche Gliederung in drei Phasen, nämlich Hilfe, Erholung und Modernisierung von jeweils fünf Jahren erscheint zweckmäßig. Der eigentliche Wiederaufbau kann nach heutigem Stand in 15 Jahren abgeschlossen werden, die Klimainvestitionen können aus den revolvierenden Fonds anschließend »in Eigenverantwortung« massiv weiter vorangetrieben werden. Das ist ein recht optimistisches Szenario, denn solange der Krieg andauert, wächst die Zerstörung. Die skizzierten 15 Jahre unterstellen bereits eine Aufnahmefähigkeit der Ukraine für Wiederaufbaumaßnahmen von 60 bis 70 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Ein um ein Jahr längerer Krieg erzwingt einen um drei bis vier Jahre verlängerten Wiederaufbau.

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