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Zu den Europastrategien der deutschen Parteien Wie viel Europa wagen?

Vom 23. bis 26. Mai 2019 finden in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Wahlen für das nächste Europäische Parlament statt. Dieser Beitrag analysiert die Europastrategien der im Bundestag vertretenen Parteien, wobei Fragen nach konkreten Wahlversprechen zurückgestellt und stattdessen die dahinter stehenden Konzepte in den Mittelpunkt gerückt werden. Als Quellen dienen die Selbstdarstellungen der Parteien, nicht aber Meinungsbilder über politische Gegner. Die Analyse verzichtet auf eine Beurteilung aktueller Kontroversen und bemüht sich um eine sachbezogene Gegenüberstellung von Anspruch und Wirklichkeit, von Europastrategien und der tatsächlichen Verfasstheit Europas. Hieraus lassen sich Kriterien für einen möglichst objektiven Vergleich ableiten und drei Themen herausgreifen: Gesamt-Europa, das finale Ziel der europäischen Integration und Reformen der EU.

Das Thema Europa in seiner gesamten geografischen Ausdehnung ist in den meisten Parteiprogrammen ein blinder Fleck. Das war nicht immer so, vor allem nicht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts im Jahre 1990, der für ganz Europa neue Spielräume für eine Demokratisierung eröffnete. Damals stand bei allen Parteien die Vereinigung eines gespaltenen Kontinents auf der Agenda, der sich sogar mit Atomwaffen zu vernichten drohte. Den entscheidenden politischen Rahmen für einen Neuanfang bot damals der Europarat, der seitdem von 23 auf heute 47 Mitgliedstaaten angewachsen ist. Mit ihrem Beitritt haben die Reformstaaten Osteuropas diese Institution und ihren Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als gemeinsames politisches Dach zur Wahrung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit akzeptiert.

Erst mit der Gründung der EU im Jahr 1992 durch die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) bekam dieser Einigungsprozess einen entscheidenden wirtschafts- und finanzpolitischen Impuls. Die wachsende Anziehungskraft Brüssels hat jedoch ein neues Machtzentrum entstehen lassen, das andere Kooperationsformen in Europa in den Hintergrund gedrängt oder vereinnahmt hat, so z. B. die Europäische Freihandelsassoziation (EFTA) oder das Mitteleuropäische Freihandelsabkommen (CEFTA). Eine Reihe von Nachbarstaaten ist heute infolge ihrer EU-Orientierung politisch gespalten und hat mit Sezessionsforderungen zu kämpfen. Hierzu gehören Zypern (als EU-Mitglied), Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kosovo, die Ukraine, die Republik Moldau und seit dem Brexit-Referendum 2016 auch das Vereinigte Königreich. Durch diese Konfliktherde ist der Frieden in Europa brüchig geworden.

Russland als Bündnispartner

Nur zwei Parteien sehen heute noch Russland als einen Bündnispartner für eine Friedensordnung in Europa. So fordert Die Linke von Brüssel eine europäische Ostpolitik und Kooperationsangebote an Moskau, während die AfD dies als eine wichtige nationale Aufgabe betrachtet. Bis auf diesen inhaltlichen Berührungspunkt stehen sich beide Parteien konträr gegenüber, vor allem hinsichtlich ihres Nationenverständnisses. Die Linkspartei sieht sich in der Tradition sozialistischer Bewegungen, die den Nationalstaat für ein ethnisch und kulturell determiniertes Konstrukt aus dem 19. Jahrhundert halten, der überwunden werden sollte. Dagegen verteidigt die AfD die Selbstbestimmung der europäischen Nationalstaaten innerhalb der EU. Sie möchte die Souveränität Deutschlands mit seiner Leitkultur im Rahmen eines liberalen und sozialen Rechtsstaats schützen und stärken.

Damit wäre bereits der zweite Themenkomplex angeschnitten, nämlich das finale Ziel der europäischen Integration. Die Linke geht davon aus, dass sich soziale Rechte kaum mehr auf nationalstaatlicher, sondern nur noch auf europäischer Ebene erreichen lassen. Deshalb unterstützt sie eine Staatswerdung der EU. Anlässlich des 60. Jahrestags der Römischen Verträge von 1957 erinnerte sie an das Manifest von Ventotene (1941), in dem italienische Kommunisten die Gründung eines euroäischen Bundesstaates vorschlugen. Einer der Autoren war Altiero Spinelli, ein späterer Industrie- und Handelskommissar der EG, der bis heute als der entscheidende Vordenker des europäischen Integrationsprojekts gilt. Sein politisches Vermächtnis wird von der Spinelli-Gruppe fortgesetzt, einer parteiübergreifenden Anhängerschaft innerhalb des EU-Parlaments.

Führende Europapolitiker aus SPD, CDU/CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen gehören der Spinelli-Gruppe an, obwohl ihre Parteien nicht deren Position vertreten. Die SPD diskutierte den Vorschlag zur Gründung der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025, ließ es aber bei »mehr Europa wagen«. Ähnlich verläuft die Debatte in der CDU und CSU. Sie wollen ein »Europa der Sicherheit«, ohne ein finales Ziel zu nennen. Auch Bündnis 90/Die Grünen sprechen von »mehr Europa«, verstehen dies aber anders: Im EU-Parlament bilden sie eine Fraktion mit separatistischen Regionalparteien, die EU-Mitglieder in sprachlich-kulturelle Regionen aufteilen und ihnen eine staatliche Vertretung in der EU geben wollen. Die FDP favorisiert ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, das sich zu einem dezentralen Bundesstaat entwickeln sollte. Die AfD votiert als einzige Partei gegen eine europäische Staatsbildung.

Diffuser Begründungszusammenhang

Diese teils in sich widersprüchlichen Positionen im Hinblick auf das Ziel der europäischen Integration erweisen sich für die Parteien zunehmend als Problem, wenn es um den dritten Themenkomplex der EU-Reformen geht. Dabei stellt sich zunächst die Frage, warum es überhaupt einer Vertragsänderung bedarf, schließlich ist der EU-Vertrag von Lissabon erst 2009 in Kraft getreten. Es war ein ganzes Jahrzehnt notwendig, um einen europäischen Konvent einzuberufen, die Entwürfe in den EU-Mitgliedstaaten zu diskutieren, zur Abstimmung zu bringen und schließlich von allen nationalen Parlamenten ratifizieren zu lassen. Wurde diese Reform damals von der EU-Osterweiterung angestoßen, bleibt der heutige Begründungszusammenhang diffus. Er speist sich aus aktuellen Problemlagen in ganz unterschiedlichen Politikfeldern und aus den Herausforderungen infolge des bevorstehenden EU-Austritts des Vereinigten Königreichs.

Fast alle deutschen Parteien wollen »mehr Europa« in der Überzeugung, dass viele Probleme nur noch auf europäischer Ebene zu lösen sind. Doch dafür ist eine Abgabe nationalstaatlicher Kompetenzen an Brüssel nicht unbedingt notwendig. Denn das heutige EU-System umfasst drei Entscheidungsebenen, denen alle Politikbereiche zugeordnet sind: zwei mit je ausschließlichen Zuständigkeiten für Nationalstaaten und EU-Institutionen und eine dritte mit geteilten Kompetenzen. Für die drei föderalen EU-Mitgliedstaaten Deutschland, Österreich und Belgien kommt eine vierte Kompetenzebene hinzu, nämlich die der Bundesländer bzw. Regionen. Somit liegen nationalstaatliche Zuständigkeiten nicht außerhalb des EU-Systems, sondern sie sind ein Teil von ihm. Zudem schreibt das Subsidiaritätsprinzip vor, dass zuerst die unterste Ebene bürgernah entscheiden sollte, bevor EU-Institutionen die Initiative an sich ziehen dürfen.

Eine Kompetenzverlagerung nach Brüssel steht daher für eine Zentralisierung. So machen sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen für eine europäische Wirtschafts- und Finanzregierung stark. Damit folgen sie Frankreichs Plan zur Vertiefung der Eurozone, der vorsieht, nationale Befugnisse der 19 Mitgliedstaaten des Euroraums auf einen EU-Finanzkommissar zu übertragen. Diesen Vorstoß kritisieren die Liberalen und halten am Prinzip der nationalen Selbstverantwortung bei Finanzfragen fest. Die CDU/CSU teilt diese Position, lehnt es im Unterschied zur FDP jedoch ab, dass schwache Staaten wie Griechenland den Euroraum verlassen. Da die Währungspolitik schon vergemeinschaftet ist, würde dies eine Rückverlagerung in nationalstaatliche Hand bedeuten, der alle Eurostaaten zustimmen müssten. Die Linke hält dies für denkbar, bevorzugt aber eine Aufweichung der Stabilitätskriterien. Die AfD befürchtet wie CDU/CSU, dass eine solche Währungspolitik zulasten der deutschen Steuerzahler geht und fordert in der Konsequenz einen Euroaustritt Deutschlands.

Der Streit um den Schutz der Außengrenzen

Der Themenkomplex Asyl und Migration berührt dagegen ganz unterschiedliche Politikfelder, die überwiegend in gemischte Zuständigkeiten fallen. Deshalb konnte die Bundesregierung mit Beginn der erhöhten Zuwanderung im Herbst 2015 vertragskonform Kontrollen an deutschen Grenzen wiedereinführen. Bündnis 90/Die Grünen lehnen diese temporäre Maßnahme ebenso ab wie den Ausbau der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Auch Die Linke besteht auf offene Grenzen als Symbol der europäischen Einigung und strebt sogar die Aufhebung der Kontrollen an den EU-Außengrenzen an. Dagegen verweisen die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD auf das Schengener Abkommen, wonach ein grenzenloser EU-Binnenraum nur funktionieren kann, wenn die Außengrenzen der EU geschützt werden. Sie plädieren wie auch FDP und AfD für »mehr Europa« im Sinne einer Kompetenzübertragung des nationalen Grenzschutzes auf die Agentur Frontex, die bisher nur der Unterstützung nationaler Sicherheitskräfte dient.

Die AfD fordert zusätzlich deutsche Initiativen, um Asylbegehren von Flüchtlingen aus Nordafrika vor ihrem Eintritt in die EU zu prüfen. Diese Spielräume sind innerhalb des EU-Systems möglich, weil die Außenpolitik insgesamt noch in nationalstaatlicher Zuständigkeit liegt. Die SPD möchte dies ändern und Entscheidungen im Rat der EU-Außenminister zukünftig mit einfacher Mehrheit statt einstimmig fassen. Die CDU/CSU schlägt sogar vor, den nichtständigen Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat (2019/2020) in einen gemeinsamen Sitz der EU umzuwandeln, um damit eine Europäisierung der Außenpolitik anzustoßen. Offenbar waren Frankreich und das Vereinigte Königreich bisher nicht bereit, ihre beiden Stimmen als Vetomächte der Vereinten Nationen gewinnbringend für die EU einzusetzen. Dies zeigt, dass selbst in einer zusammenwachsenden EU die nationalen Interessen nicht verschwinden, sondern weiterhin einen entscheidenden Faktor darstellen.

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