Menü

Wie wird man eigentlich SPD-Vorsitzende(r)?

Als 2019 Olaf Scholz vergeblich nach dem SPD-Vorsitz gegriffen hatte, schienen seine Chancen, eines Tages die Führung der Partei übernehmen zu können, gen Null zu tendieren. Kein Jahr später aber hoben ihn seine Rivalen von einst auf den Schild als Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl. Den Titel des »Vorsitzenden« benötigt er seitdem nicht mehr, denn auch ohne ihn ist er nun der wichtigste Repräsentant der SPD. Will die Partei die Wahl gewinnen, kann sie sich nicht noch einmal gegen ihn stellen.

Der Weg von Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum Vorsitz und der des Vizekanzlers zur Kanzlerkandidatur geben Anlass, in der Geschichte der Sozialdemokratie eine Antwort auf diese Frage zu suchen: »Wie wird man eigentlich SPD-Vorsitzende(r)?«. Die Erinnerung an die Neugründung der SPD im Mai 1946, vor bald 75 Jahren, sollte den Blick darauf lenken. Schon im Frühjahr 1945 beanspruchten zwei Männer die Führung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die vor 1933 kaum einer gekannt hatte: Kurt Schumacher und Otto Grotewohl. Selbst dort, wo sie bei Kriegsende lebten, in Hannover bzw. in Berlin, waren sie unbeschriebene Blätter. Dennoch waren sie in ihrem Wirkungsbereich – bei Schumacher die Westzonen, bei Grotewohl die Sowjetische Besatzungszone – bald die unangefochtenen Wortführer. Beide überzeugten mit ihren Redekünsten.

Herausragende Rhetorik und die Bereitschaft zur Führung waren schon in der Frühphase der Sozialdemokratie wichtige Bausteine für den Erfolg. Ferdinand Lassalle gehörte zu den berühmtesten Rednern und Autoren Deutschlands, als er 1863 den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« gründete. Der eigene Wille brachte Lassalle auf den Stuhl des Präsidenten der neuen Organisation, man könnte auch von Selbstinthronisation sprechen. Auch für seine Nachfolge sorgte er selbst, indem er testamentarisch Bernhard Becker empfahl und der ADAV ihm 1864 nach seinem Tod diesbezüglich folgte.

Entschlossenes Handeln wird man August Bebel nicht absprechen können, aber es äußerte sich nicht im Streben nach dem Spitzenamt. Erst 1892 wurde er das, was er de facto schon lange war: Vorsitzender der SPD. Bebel zog seine Legitimation als unbestrittener Führer aus seiner Bewährung in der heroischen Zeit der Partei und aus seiner Rhetorik innerhalb wie außerhalb des Reichstages, aus einem imponierenden Maß taktischer und strategischer Klugheit und nicht zuletzt aus seiner menschlichen Ausstrahlung. Aus alldem erwuchs das Charisma, das ihm den Titel des »Arbeiterkaisers« einbrachte.

Vorsitzender blieb Bebel bis zu seinem Tod 1913. Nie hatte er das Amt für sich alleine. Als 1911 sein Ko-Vorsitzender, Paul Singer, starb, folgte ihm Hugo Haase nach, den Bebel selbst empfohlen hatte. Danach wandelte sich das »Karriereschema«. Bebels eigener Nachfolger, Friedrich Ebert, hatte sich im Parteiapparat hochgearbeitet und dazu beigetragen, dass die Organisation mit dem Aufstieg zur Massenpartei mithielt. Bis 1933 blieb es dabei, dass die Meriten, die für den Parteivorsitz qualifizierten, innerhalb der Partei erworben wurden. Auch nach Kurt Schumachers Tod 1952 kam dieses Muster noch einmal zum Tragen. Erich Ollenhauer galt als die Inkarnation des Funktionärs.

Dessen Nachfolger, Willy Brandt, war der erste SPD-Vorsitzende, der nicht mit innenpolitischen Themen aufstieg. Was ihn Ende der 50er Jahre gegenüber potenziellen Mitbewerbern hervorhob, war neben seinem gewandten Umgang mit den Medien die Bewährung als »Schattenaußenminister«. Die Prüfungen des Chruschtschow-Ultimatums 1958 und des Mauerbaus 1961 hatte der Regierende Bürgermeister Berlins mit Bravour bestanden, als er Anfang 1964 zum neuen Parteivorsitzenden gewählt wurde. Wie schwach aber seine Verankerung im Apparat war, hatte der Parteitag 1960 gezeigt. Die Delegierten nominierten ihn zum ersten Kanzlerkandidaten in der SPD-Geschichte, bei der Wahl des Parteivorstands landete er hingegen nur auf Platz 22. Brandts »Problem« war sein »modernes« Auftreten. Nicht an Kurt Schumacher oder Friedrich Ebert orientierte er sich, sondern an John F. Kennedy. Das kam bei altgedienten Mitgliedern weniger gut an als in der Wählerschaft. Rhetorisch war Brandt nicht schlecht, jedoch nach klassischen Kriterien konnte er weder mit Helmut Schmidt noch mit Herbert Wehner mithalten. Auch sein Charisma entstand erst allmählich.

Als Brandt 1987 nach 23 Jahren abtrat, setzte sich ein neues Karrieremuster durch: die Bewährung in der Provinz oder in der Bundespolitik. Sein Wunschkandidat als Nachfolger war Oskar Lafontaine, der das Saarland für die SPD erobert hatte. Aber der sagte ab. Nun lief alles auf den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion und Kanzlerkandidaten von 1983, Hans-Jochen Vogel, hinaus. Im Dezember 1990 verweigerte Lafontaine sich erneut dem ihm – nun von Vogel und dem gesamten SPD-Präsidium – angetragenen Parteivorsitz. Gegen Brandt könne man die SPD nicht führen, so Lafontaine, und mit dem Ehrenvorsitzenden war er seit November 1989 über den deutschlandpolitischen Kurs der Sozialdemokratie zutiefst zerstritten. Die Wahl fiel dann auf Björn Engholm. Der Lübecker hatte sich durch seinen fulminanten Sieg bei der Landtagswahl 1988 und ein Auftreten, das Intellektuelle wie auch Künstler besonders ansprach, qualifiziert. Bereits nach zwei Jahren musste er zurücktreten. Jetzt sollten erstmals die Mitglieder den Vorsitzenden per Urwahl bestimmen. Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Heidemarie Wieczorek-Zeul bewarben sich. Scharping und Schröder hatten sich wie Engholm mit großen Wahlsiegen in ihren Bundesländern hervorgetan. Der Rheinland-Pfälzer gewann mit 40 % der Stimmen, die Anhängerschaft von Rot-Grün verteilte sich auf die beiden anderen. Geschicktes Taktieren hatte Scharping den Vorsitz eingebracht; dem die (glücklose) Kanzlerkandidatur folgte.

Scharpings Amtszeit endete noch unkonventioneller als sie begonnen hatte. Oskar Lafontaine, bisher der Zauderer, entschied sich 1995 auf dem Mannheimer Parteitag buchstäblich über Nacht, gegen den Amtsinhaber anzutreten. Der Saarländer siegte, weil er den Willen zur Macht in unübertrefflicher Weise demonstrierte und mit seiner weit überlegenen Rhetorik Scharping als blassen Funktionär erscheinen ließ. Lafontaine zeigte Qualitäten eines Charismatikers. Die Delegierten des Parteitags hofften mehrheitlich, dass diese Fähigkeiten auch bei der Bundestagswahl 1998 wirken würden.

Die Wiedergewinnung des Kanzleramts gelang, aber nicht mit Lafontaine, sondern mit Gerhard Schröder. Was zählte die absolute Mehrheit im kleinen Saarland im Vergleich mit solch einem Erfolg (jedenfalls nach Parlamentssitzen) im drittgrößten Bundesland Niedersachsen? Zugleich zeigten alle Umfragen, dass Schröder deutlich höhere Zustimmungswerte besaß als Lafontaine. Das sah auch der Parteivorsitzende ein und schlug den Hannoveraner als Kanzleraspiranten vor. Die Machtteilung hielt nur bis zum 11. März 1999, als Oskar Lafontaine von allen Ämtern zurücktrat. Ein Nachfolger musste gar nicht gesucht werden: Wer, wenn nicht der Kanzler selbst war der geborene Kandidat? Sechs Jahre lang ging dies gut, bis der Unmut der Partei über den sozial- und wirtschaftspolitischen Kurs der Regierung so groß wurde, dass Gerhard Schröder in einer Art »Bauernopfer« sich selbst vom Vorsitz zurückzog und Franz Müntefering als Nachfolger vorschlug. Das war einerseits die Methode »Fingerzeig« – der bisherige Amtsinhaber benennt seinen Nachfolger, wie schon bei Lassalle oder Bebel. Warum gerade Müntefering, stand dieser doch für das schon vergessen geglaubte Muster des Aufstiegs in der Bewegung.

Die Verankerung des neuen Chefs in der Partei war brüchiger als gedacht. Nach weniger als zwei Jahren stürzte Müntefering. Matthias Platzeck und Kurt Beck standen wieder für das Karrieremuster des Aufstiegs in der Provinz, zertifiziert durch beeindruckende Wahlerfolge. Beide scheiterten in Berlin. Schon 2008 musste Franz Müntefering erneut antreten, die schwere Wahlniederlage der Partei ein Jahr darauf führte zu einem weiteren Wechsel.

Von Sigmar Gabriel, der den Vorsitz im November 2009 übernahm, lässt sich nicht behaupten, dass er in der Provinz Erfolge eingefahren hätte. Als Ministerpräsident wurde er abgewählt. Er nahm seinen Aufstieg in der Partei – aber nicht als dröger Funktionär. Für ihn sprach zuallererst sein politisches Talent, das nach verbreiteter Meinung das potenzieller Konkurrenten bei Weitem überragte. Dazu gehörten eine Rhetorik, die gerade Parteitage begeistern konnte, ein erhebliches Maß an Intellektualität und viel Erfahrung im politischen Klein-Klein. Dass er als Bundesumweltminister einen guten Job machte, war demgegenüber zweitrangig, wenn auch wichtig. Ein SPD-Chef war bis vor kurzem immer ein Kanzlerkandidat in spe – daher die Bedeutung des Nachweises erfolgreicher Regierungsarbeit, ob im Land oder im Bund.

Martin Schulz, 2017/18 Chef der SPD, verband die Bewährung als medienaffiner Parlamentspräsident in Brüssel und erfolgreicher Spitzenkandidat für die Europawahl mit der Herkunft aus dem mitgliederstärksten SPD-Landesverband. Wie Brandt hatte er sich nicht mit Themen der Innenpolitik profiliert. Ohne den Fingerzeig von Sigmar Gabriel hätte es den Parteivorsitzenden Schulz nicht gegeben. Seine Nachfolgerin, Andrea Nahles, gehört eher zum Typus Funktionärin, die die Partei bis in den letzten Unterbezirk kennt und darüber den Weg nach oben findet – mit der Leitung eines Bundesministeriums als Gütesiegel, um schließlich Parteivorsitzende zu werden. Die administrativ-politische Erfahrung musste im Lebenslauf stehen. Ihren letzten Schliff erhielten somit Gabriel und Nahles am Kabinettstisch in Berlin.

Dass nach Nahles' Rücktritt irgendein politischer Beobachter Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans auf dem Zettel hatte, hat noch niemand behauptet. Die Urwahl 2019 brach mit allen bisherigen Auswahlmustern. Die, die früher als natürliche Kandidaten gegolten hätten (Ministerpräsidenten, einflussreiche Bundesminister, Generalsekretäre), winkten ab. Erst als sich zeigte, dass eher die dritte denn die zweite Garde das Vakuum nutzen wollte, ließ sich Olaf Scholz überzeugen. Die Grundwelle großer, zugleich diffuser Unzufriedenheit der Parteimitglieder mit der bisherigen Führung überrollte den Vizekanzler und Klara Geywitz. Als Sieger aus der Urwahl ging ein Duo hervor, dessen Erfolg nur als Protest zu erklären ist. Wogegen sie waren, war wesentlicher als wofür sie standen. Dass sie nicht zum Parteiestablishment gehörten, war mindestens ebenso wichtig.

Im Rückblick lassen sich Muster beschreiben, wie der Weg an die Parteispitze gelang. Es gab die Nachfolgeregelung per Fingerzeig. Auch als es um die Kanzlerkandidatur für 2013 ging, wählte Helmut Schmidt diesen Weg, um Peer Steinbrück durchzusetzen. Die Methode funktionierte nur, wenn der Vorgänger eine starke Stellung in der Partei besaß und – natürlich – der Auserkorene auch bereit war zu kandidieren. Genau daran scheiterte 1987 Willy Brandts Fingerzeig auf Oskar Lafontaine.

Bis 1933 war die Bewährung in der Partei der Schlüssel zum Aufstieg. Im Kaiserreich war es für Sozialdemokraten unmöglich, die Befähigung zur Führung durch ein Regierungsamt nachzuweisen. Am Vorrang der »Ochsentour« durch die Parteiinstanzen blieb es in der Weimarer Republik und selbst in den ersten Jahren nach 1945. Schumacher und sein Nachfolger Ollenhauer, ebenso Grotewohl, hatten vor 1933 den Weg nach oben innerhalb der Partei beschritten, nicht in der Regierung.

Willy Brandt war der erste Parteivorsitzende, dessen entscheidende Bewährung im Regierungsamt (als Berliner Bürgermeister) erfolgte. Die Karriere der Ministerpräsidenten Engholm, Lafontaine, Scharping und Schröder verlief ähnlich; dem Saarländer und dem Niedersachsen half zudem großes rednerisches Talent. Sigmar Gabriel scheiterte in der Landespolitik, gewann Mehrheiten in der Partei stattdessen aufgrund seiner außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten. Das (nicht mehr) hatte er mit Lassalle und Bebel, mit Schumacher und Grotewohl gemeinsam. Andrea Nahles' Wahl markierte die Rückkehr des älteren Musters der »Ochsentour« in der Partei. Mit dem Duo Esken/Walter-Borjans schließlich löste sich die SPD von allen vertrauten Pfaden. Unmittelbar nach der Wahl sah es so aus, als wolle sich die Partei mit Unbekannten auf den Weg ins Unbekannte machen: schnell heraus aus der Großen Koalition und erst dann überlegen, was folgt. Davon war bald nicht mehr die Rede. Aber es bleibt ein Experiment, zwei Vorsitzende zu haben, die beide nicht in der vordersten Linie der Politik stehen, und daneben Machtzentren wie die Kabinettsmitglieder, die Fraktionsführung, die Ministerpräsidenten und den Generalsekretär. Team oder Polykratie – daran entscheidet sich die Zukunft der SPD. Die einhellige Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten deutet auf Ersteres.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben