»Amerika zuerst«: Diese Blaupause war so neu nicht, aber mit Donald Trumps Erfolg wird sie eifrig kopiert. Britannien, Polen, Frankreich zuerst, schallt es aus den Lautsprechern der Rechtspopulisten. Russland und die Türkei sowieso zuerst. Berlin zuerst, Dresden zuerst, Wuppertal zuerst. Sollen alle anderen doch denken, was sie wollen: Wenn wir gewinnen, regiert wieder das Volk, tönen die selbst ernannten Tribunen. Und wenn derart das Volk regiere, herrsche endlich wieder Kontrolle.
Das ist weit mehr als nur ein Propagandatrick. Dahinter steckt eine Grundlinie, mit der die demokratischen Gesellschaften sich dringend neu auseinandersetzen müssen. Es ist das Angebot eines Rezepts gegen das allgemeine Ohnmachtsgefühl. Sie, die Wählerinnen und Wähler der Rechten, sollen im Mittelpunkt stehen. Ihre Interessen, ihre Wünsche. Innen vor außen: Innen ist wieder stark und setzt sich durch, außen hat das Nachsehen, ist nicht so wichtig. Ich, wir, Heimat: Bei welchem Begriff man da den Schwerpunkt legt, ist nicht entscheidend. Kollektive wie individuelle Version denkbar, Hauptsache wieder selbstbestimmt.
Was diese Grundlinie so gefährlich macht: Die Sehnsucht nach Kontrolle über die Verhältnisse ist real, weit über das politische Potenzial der radikalen Rechten hinaus. Vor allem an nationalstaatlicher Kontrolle macht sie sich fest. Insbesondere die CSU hat sich kulturell nie von einem solch selbstfixierten Politikbild verabschiedet. Das ist der tiefere Grund für den Riss in der Union. Und teilweise wird die Sehnsucht nach Macht und Ordnung ja längst auch linkspopulistisch bedient. Wo ein Markt ist, finden sich Angebote.
Es ist eine Sehnsucht nach Überschaubarkeit und nach Gestaltungsmöglichkeiten – gekoppelt mit der Sehnsucht, von außen nicht ständig gestört zu werden. Wie ein urmenschliches Grundbedürfnis wirkt sie mitunter, weil alles zu viel oder zu kompliziert oder zu gefährlich scheint. Vernünftig geradezu, keineswegs nur emotional. Aber sie ist brandgefährlich in ihrer Selbstbezogenheit. Weil sie absichtsvoll nicht mehr abwägt zwischen all den verschiedenen Interessen und Perspektiven, die sich in der vernetzten modernen Welt ergeben.
Diese ständige Abwägung war ein wichtiges, zwischenzeitlich schon für selbstverständlich genommenes Element des zivilisatorischen Fortschritts seit 1968. Die Dinge nicht mehr nur vom nationalen Blickwinkel oder vom eigenen Milieuinteresse aus betrachten, sondern moralische und interkulturelle Kriterien einbeziehen. Verantwortung für die demokratische Welt als Ganzes sehen, Perspektiven einer friedlichen Weltgesellschaft suchen. Fremdes als bereichernd empfinden. Kulturelle Hegemonieansprüche auch innergesellschaftlich eher zurücknehmen, mindestens Raum lassen für andere Lebensformen. All das schien unbestreitbar die Zukunft zu sein. Wer anders dachte, war rückständig.
In dieser Moderne waren internationale Zusammenschlüsse wie die EU oder die Vereinten Nationen ein Fortschritt an sich, selbst wenn sie auf dem Weg zu den großen Zielen inhaltlich nicht recht vorankamen. Verbunden mit Souveränitätsverzichten der Nationalstaaten, mithin: weniger direkte Gestaltbarkeit als gerne gezahlter Preis für die kontinentale, möglichst globale Absicherung des kulturell-zivilisatorischen Fortschritts. Wobei: Was »unsere« Gesellschaft ist, wurde im Alltag gleichwohl weiter national verstanden. Das gefühlte »Wir« blieb deutsch, französisch oder italienisch; Sprachraum- wie kulturbedingt, vor allem öffentlichkeitsbedingt. Während sich das gedachte »Wir« langsam internationalisierte. Doch dieser Pferdefuß fiel lange nicht negativ auf.
Das zivilisatorische Modell der multilateralen Politik (außen) entsprach dem der vielfältigen Gesellschaften (innen). Seine ideologische Zugkraft hatte aber nie nur mit Werten zu tun, selbst wenn das in der ethisch-moralischen Linken anders wahrgenommen wurde. Es hatte stets auch mit dem Einlösen eines parallelen Wohlstandsversprechens zu tun. Durch Verkauf und Erwerb neuer Produkte, die das Leben leichter machen. Mit der Weltwirtschaft als positiver Triebfeder.
Man ließ sich gerne mitreißen von diesem breiten Strom des Fortschritts, solange er wirtschaftlichen Zugewinn brachte. Auch hier liegt eine Ursache dafür, warum die Unumkehrbarkeit dieses Fortschritts überschätzt wurde, warum sie nun in vielen Regionen Europas und in manchen Gegenden Deutschlands so stark in Zweifel gezogen wird. Aber es ist nicht die einzige Ursache. Hinzu kommt die konkrete Erfahrung, manchmal nur das sichere Gefühl, dass der Politik in dieser modernen Welt tatsächlich die Steuerungsfähigkeit abhandenkam. Dass da, wo früher wie selbstverständlich Macht vermutet wurde, immer öfter ein Vakuum zu sein schien. Im Kleinen wie im Großen. Das spricht noch nicht automatisch gegen den zivilisatorischen Fortschritt, aber es kann als Argument gegen ihn benutzt werden.
Der Weg in die Regression
Wenn in den ländlichen Regionen die Präsenz öffentlicher Einrichtungen durch Sparprogramme und Gebietsreformen zurückgedreht wird, wenn Polizei und Rettungsdienste überlastet scheinen, wenn staatlich finanzierte Bauprogramme mangels Verwaltungskapazitäten nicht umgesetzt werden, wenn sich innerhalb der Verwaltungen Personalengpässe häufen, wenn sich Rechtstitel als nicht umsetzbar erweisen (nicht nur bei Abschiebungen), wenn Top-Manager bei Verfehlungen, die große Summen betreffen mit geringen Strafen davonkommen und kleine Leute wegen kleiner Summen existenzbedrohend belangt werden, wenn kleine alltägliche Regelübertretungen nur mehr schulterzuckend hingenommen werden, wenn EU-Mittel mangels Kofinanzierung verfallen, wenn internationale Gremien offenkundig und chronisch ergebnislos tagen, wenn internationale Gerichte die lokalen oder nationalen Impulse stoppen, wenn Politik auf mangelnde Zuständigkeiten verweist und sich damit entschuldigt, statt inhaltlich klar Ja oder Nein zu sagen: Immer dann lässt sich leicht das Gefühl mobilisieren, dass etwas grundsätzlich nicht mehr stimmt.
Ein bleiernes Gefühl, gespeist aus Beobachtungen und Erfahrungen, selbst wenn die nicht recht zusammenpassen und wahrlich nicht unisono mit der Delegation von Entscheidungsmacht nach außen zu tun haben. Aber vieles stimmt tatsächlich nicht. Manches ist in den globalisierten Zeiten kritikwürdiger statt besser geworden – vor allem, wenn es um die Einkommens- und Vermögensverteilung geht. Die Frage ist nur, wo diese Erkenntnis mündet. Im Engagement für eine bessere Welt oder nur in Ablehnung der vorhandenen? Und sei es wieder unter Verabsolutierung eigener Blickwinkel. Unter konsequenter Re-Provinzialisierung des politischen »Wir«.
Rechtspopulisten nutzen die Gelegenheit. Sie machen Propaganda mit einer großen Verheißung. Sie behaupten, sie und nur sie könnten die zerbröselnde Macht über die Verhältnisse wieder herstellen und dann im Interesse ihres Publikums durchgreifen. Worin die Lüge besteht: Es geht in Wahrheit um die Rückgängigmachung zivilgesellschaftlicher Standards und des Prinzips Vielfalt. Bis hin zu den Regeln der Rollen- und damit der Machtteilung, zum Beispiel hinsichtlich der Medien oder der Justiz.
Ein Teil der rechten Klientel will sehr viel rückgängig machen. Dies ist der harte, aggressiv-extreme Kern. Da mischen sich Nationalismus und autoritäres Denken, Sexismus und Homophobie mit Hass gegen Minderheiten und alles Fremde. Diesen Kampf müssen alle Demokraten offensiv aufnehmen. Ein anderer Teil sympathisiert zunächst vor allem mit der neu vorgespielten Stärke, wird dadurch aber für die gestrigen Inhalte anfällig.
Dieser Teil ist es, der in den vergangenen Jahrzehnten oft mainstreamartig an die liberalen Normen angepasst war, sie schweigend hinnahm und doch nicht wirklich überzeugt war von der modernen Welt. Es sind Menschen, um die auch Linkspopulisten autoritärer Denkart nur zu gerne werben. Menschen, die sich manchmal schon dann emotional abgeholt fühlen, wenn man sie nur als Opfer der herrschenden Verhältnisse bedauert. Menschen aber auch, die noch auf der Suche sind und um die und mit denen es sich lohnt zu streiten.
Rezepte gegen Populismus
Längst wird die Frage dringlich, wie die Gegenstrategie aussehen soll. Radikale Widerrede und Selbstsicherheit gehören allemal dazu. In diesem neu begonnenen Kulturkampf spielt es durchaus eine Rolle, wenn honorige Selbstzweifel und Selbstrelativierungen leicht als Schwäche ausgelegt werden können. Wenn man sich auf der Linken immer schnell über Details zerstreitet, ohne dass die große zivilisatorische Gemeinsamkeit gegen rechts im Zentrum steht. Viel zu oft war es so, speziell im alten westlichen Kerneuropa.
Selbstsicherheit ist etwas anderes als Überheblichkeit. Letztere zu unterstellen gehört zum täglichen Argumentationsarsenal der Rechtspopulisten – gegen Expertise, Journalismus, Gegnerschaft aller Art. Dass sich derart leicht Misstrauen schüren lässt, hängt aber nicht zuletzt damit zusammen, dass ein linker Appell an die Vernunft noch nie ausreichte, die Stimmung zu prägen. Die Mehrheit fasst Vertrauen erst, wenn Argumente und Lebensgefühl zusammenpassen. Wenn verkörpert wird, was im Programm steht. Nahbar, nicht abstrakt. Wenn das, was da verkörpert wird, als alltagstauglich erscheint.
Die Gegenstrategie von links kann deshalb nicht darin bestehen, das politische Steuerungsproblem zu bestreiten. Sondern sie muss aufzeigen, wie zuhause (lokal, regional, national) konkrete Schritte gegen Verantwortungsflucht und Entstaatlichung aussehen. Was dabei geht, aber auch, was warum nicht geht und nicht mehr gehen darf. Was sich in einer vielfältigen Gesellschaft überlebt hat. Zum Beispiel: Was es »uns« nutzt, wenn anderswo in Europa oder der Welt Projekte gefördert werden. Sogar: Warum langwierige Kompromisssuche und ständige Steuerungsschwierigkeiten ein Segen sein können, verglichen mit autoritärem Durchgriff. Das ist, wovon eine aktualisierte linke Erzählung von der offenen Gesellschaft handeln müsste.
Wertekampf und Selbstvergewisserung, beides gehört zusammen. Genauso wie Gesprächsoffenheit und glasklare Abgrenzung. Damit tun sich viele schwer. Im Journalismus zumal, der es überhaupt nicht gewohnt ist, selbst in die Kampfarena gezerrt zu werden. Der sich in Zukunft selbst ständig erklären und begründen muss. Der aber in all seiner digitalen publizistischen Schwäche davor zurückscheut, auch nur einen Teil des Publikums klar zurückzuweisen. Und deshalb zum Beispiel nicht bereit ist, das Prinzip der Anonymität in den sogenannten sozialen Medien konsequent infrage zu stellen, hinter dem sich rechte Hetze so gut verstecken kann.
Kontrolle wiederherstellen? Anhand dieses Medienbeispiels zeigt sich: Es geht bei dem, was von rechts attackiert wird, oft weniger um Kontrollverlust als um Offenheit und Erkennbarkeit. Um die ehrliche Bereitschaft zum Diskurs, Argumente und Gefühle ausdrückend und abwägend, mit offenem Visier, mit offenem Ausgang. Es ist etwas, das Rechtspopulisten nicht ertragen. Es macht Demokratie so mühsam und unübersichtlich. Aber es gehört zum Wesen der offenen Bürgergesellschaften: ihre Unkontrollierbarkeit von oben.
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