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Willi Eichler – mehr als eine Erinnerung

Willi Eichler gehört unter den maßgebenden Vordenkern der Sozialdemokratie zu denen, die den Grundmangel dieser Partei beim Umgang mit ihrem überaus reichhaltigen Schatz an Ideen, durchgefochtenen Kontroversen und errungenen Erkenntnisfortschritten besonders deutlich werden lassen. Mehrere der wichtigsten konzeptionellen Durchbrüche im geistig-politischen Selbstverständnis der Sozialdemokratie hat Eichler auf dem langen Weg seiner Partei zum Godesberger Programm von 1959 initiiert. Aber weder das Bewusstsein dieser bleibenden Fortschritte noch die Person ihres Urhebers spielen im Denken der Sozialdemokratie heute eine erkennbare Rolle. Im Bereich der sozialdemokratischen Identität, ihres politisch-programmatischen Selbstverständnisses und ihres für die Gegenwartsdebatten verfügbaren Orientierungswissens, also der eigentlichen Grundlage ihrer politischen Selbstbehauptung, dominiert eine verblüffende Vergesslichkeit. Gerade für eine Partei, für die das konzeptionell-programmatische Vorwärtsdenken so einzigartig identitätsstiftend ist, bedeutet diese vermeidbare Vergesslichkeit hinsichtlich ihrer eigenen reichhaltigen Ideengeschichte immer auch ein Defizit in der öffentlichen Überzeugungskraft und im geistig-kulturellen Selbstvertrauen. Das gilt exemplarisch für die wertvollen Analysen und Schlussfolgerungen ihrer gründlichen Debatten über die Voraussetzungen einer sozialen Demokratie in ihrer post-marxistischen Ära, über das Verständnis der Quellen und Wirkungsweise wirtschaftlicher Macht und die erfolgversprechenden Wege ihrer sozialen Bändigung, die dem Godesberger Programm der SPD von 1959 zugrunde liegen. Sie springen freilich in der Endfassung des Textes, journalistisch massiv gestutzt und gefällig frisiert, auch nicht mehr direkt ins Auge. Das gilt auch für andere große Leitideen des über Deutschlands Grenzen hinaus als Modell einer modernen Sozialdemokratie angesehenen Programms, dem wichtigsten Vermächtnis des politisch-intellektuellen Wirkens von Willi Eichler. Er hat den langen Prozess der Erarbeitung dieses Programms umsichtig und produktiv inspiriert und geleitet. Über die schon genannten hinaus enthält das Godesberger Modell weitere innovative Ideen und Projekte, die heute, unter den Bedingungen fortschreitender, aber weiterhin unbeherrschter Globalisierung, erneut einen bedeutenden Beitrag zur Orientierung der Sozialdemokratie leisten könnten.

Ein guter Anlass ist der 50. Todestag von Willi Eichler am 17. Oktober 2021. Seine Lebenszeit war geprägt von den Brüchen und jähen Wendungen der deutschen Geschichte – zwei Weltkriege, Untergang der ersten deutschen Demokratie, nationalsozialistische Herrschaft, Widerstand und Exil, Aufbau der zweiten deutschen Demokratie, »Kampf um die Seele« der neu entstandenen Sozialdemokratie und revolutionäre Wende in deren Programmatik, schließlich Erneuerung der SPD und Beginn der intensiven Globalisierung. Eichler blieb bis ans Lebensende den geistig-politischen Grundüberzeugungen treu, die er sich schon in sehr jungen Jahren in gründlichen Studien erworben hatte, blieb aber jederzeit offen für neue Anregungen und Erfahrungen. Eichlers ethisch-sozialistische »Weltanschauung« bildete sich in der Auseinandersetzung mit dem dogmatischen Parteimarxismus seiner Zeit und dessen im Ersten Weltkrieg gescheiterten Hoffnungen auf einen gesetzmäßigen Fortschritt der Geschichte hin zum Sozialismus heraus. Einleuchtender erschien Eichler und seinen Freunden demgegenüber das Verständnis des Sozialismus als einer durchgängig gerechten Gesellschaft, in der die gleiche Würde aller Menschen rechtlich, sozial und politisch gesichert ist, die aber nur durch die entschlossene Praxis einer ausreichenden Zahl von Menschen errungen werden kann, die von diesem Ideal durchdrungen sind und dafür kämpfen. Eichler hat dafür gelebt, junge Menschen für dieses Ziel nachhaltig zu begeistern, sie politisch zu organisieren und dafür, dass sie, wie er selbst, möglichst ihr eigenes Leben in den Dienst dieser großen Sache stellen.

Sein Weg führte von seinen frühen Erfahrungen als Sprössling einer Angestelltenfamilie in Berlin, wo er am 7. Januar 1896 zur Welt kam, über die Anfänge seines Berufslebens als kleiner Angestellter 1920 zu ersten Kontakten mit dem Internationalen Jungenbund (IJB), nachdem er sich schon als Schüler mit dem ethischen und politischen Denken des neukantianischen Philosophieprofessors und Sozialisten Leonard Nelson vertraut gemacht hatte. Nelson prägte den IJB und ab 1927 dessen Nachfolgeorganisation ISK (Internationaler Sozialistischer Kampfbund) als Gründer, Leiter und Inspirator mit beträchtlichem Charisma. Eichlers Hingabe an dessen überaus anspruchsvolle Ziele und Erwartungen bewogen Nelson sehr bald, ihm die fordernde Stellung eines persönlichen Assistenten anzuvertrauen. Der Reiz, den diese Position, die strenge Theoriearbeit und hingebungsvolles politisches Engagement verschmolz, und der existenzielle moralische Ernst, den sie als lebenslange Ganzzeitaufgabe voraussetzte, haben Eichler bis ans Ende seines beispielgebenden Lebens geprägt. Nelson war durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs in seiner Überzeugung bestärkt worden, dass die Erkenntnis der moralischen Prinzipien einer gerechten und friedlichen Welt unmittelbar zu einer Praxis und Lebensführung verpflichten, die sie schließlich Wirklichkeit werden lassen, denn Gerechtigkeit und Frieden bedingen einander. Darum hat später die Eichler-Gruppe zunächst neben Freiheit und Gerechtigkeit den Frieden als dritten Grundwert für das Godesberger Programm erwogen.

Nelson ging es um die Begründung eines konsequenten und zielklaren Sozialismus. Er folgte dem Hinweis des bedeutenden Marburger Philosophen Hermann Cohen, des Pioniers eines ethischen Sozialismus und der Judaistik-Forschung in Deutschland, der eigentliche Begründer des Sozialismus in Deutschland sei Immanuel Kant mit seinem kategorischen Imperativ gewesen. Dieser moralische Grundsatz verbietet strikt, Menschen als bloße Mittel für die Zwecke anderer zu missbrauchen, denn durch die unverfügbare Würde ist jeder Mensch selbst ein Endzweck. Das war die fundamentalste Widerlegung des Kapitalismus überhaupt. Das erstrebte Gegenmodell, der Sozialismus, ist folglich dadurch gekennzeichnet, dass er die gleiche Wahrung der Würde eines jeden Menschen gewährleistet. In Anknüpfung an den Neu-Kantianer Jakob Friedrich Fries arbeitete Nelson seine eigene umfassende Theorie des Sozialismus im Geiste des politischen Links-Kantianismus aus. Er gelangte dabei zu seiner berühmten »Abwägungsregel«, die aus dem Grundsatz der gleichen Würde aller Menschen folgt: »Handle nie so, dass Du nicht auch in Deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von Dir Betroffenen auch Deine eigenen wären«. Damit entwickelte er Kants Kategorischen Imperativ zu einem Prinzip der Regelung von Interessenkonflikten weiter. Zudem zeigt er, dass der Imperativ der Gerechtigkeit als Sicherung der gleichen Würde aller Menschen nicht nur auf das persönliche Handeln, sondern auch auf die Verfassung der gesellschaftlichen Verhältnisse angewandt werden muss. Der Sozialismus ist das »Ideal eines gesellschaftlichen Zustandes, der jedem Einzelnen die unbeschränkte Möglichkeit gewährt, zur vernünftigen Selbstbestimmung zu gelangen«.

Dieses Ziel kann nur in dem Maße erreicht werden, wie jede Person auch über alle materiellen und kulturellen Güter verfügt, die eine vernünftige Selbstbestimmung für sie real möglich machen, zumal Bildung und Ausbildung, Arbeit, Einkommen und Entscheidungsbeteiligung in der Wirtschaft. Dieser Ansatz weist den Weg zu gesetzlich geltenden sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten als Bausteine einer sozialistischen Gesellschaft. Es geht dabei also um die rechtlich garantierte Verankerung der gleichen Würde aller in den sozialen Strukturen der Gesellschaft und nicht etwa um freischwebende hohe Ideale, denn: »Alle vernünftigen Wesen haben das Recht auf die gleiche äußere Möglichkeit, zur Selbstbestimmung zu gelangen«. Gleiche Würde bedeutet dabei über Kant hinaus die Gleichberechtigung der vernünftigen Interessen aller Menschen. Alle Ungleichheiten und Machtprivilegien, die dem im Wege stehen, müssen fallen. An diesem »Zweck« müssen sich alle wirtschaftlichen, sozialen und politischen »Mittel« sozialistischer Politik messen lassen.

Dieses Verständnis des Sozialismus überzeugte Eichler ebenso wie eine große Zahl begeisterter junger Menschen, in der Mehrzahl junge Frauen, die sich im IJB zusammenfanden. Es blieb für die allermeisten von ihnen bis ans Lebensende die bessere Alternative zur unpersönlichen Enge des Parteimarxismus mit seinem Geschichtsglauben. Entscheidend waren für sie zwei Punkte: die aufgeklärte Vernunftorientierung dieser Philosophie, ausgehend vom »Selbstvertrauen der Vernunft in sich selbst« und die Begründung des Sozialismus aus dem Rechtsideal einer durchgängig vor allem auch materiell gerechten Gesellschaft. Politik als angewandte Ethik, die auf einer für alle nachvollziehbaren Vernunftgewissheit beruht und im Bereich der praktischen Wege ihrer Verwirklichung für Erfahrungen und Debatten immer offenbleibt.

Entstehungsprozess und Text des Godesberger Programms demonstrieren eindrücklich, dass diese Unbeugsamkeit in der Motivation des Handelns nun aber gerade nicht zu einem Dogmatismus im Denken oder in der Praxis führt – im Gegenteil. Bei der politischen Anwendung des Moralgesetzes der Gerechtigkeit kommen nämlich drei Grundsätze ins Spiel, die ihre politische Realisierbarkeit erst möglich machen und die zu bleibenden Grundlagen des reformerischen demokratischen Sozialismus geworden sind: erstens die klare Unterscheidung von Mitteln und Zwecken sozialistischer Politik. Daher spielen die besonders herausgestellten politischen Grundwerte im Godesberger Programm eine Schlüsselrolle. Denn es gibt beispielweise ja Formen der Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die zu gleicher Freiheit hinführen und solche, die sie zunichtemachen – und es gibt andere Wege wirtschaftlicher Gestaltung zur Erreichung des gleichen Ziels. Zweitens: die deutliche Unterscheidung zwischen dem Inhalt der politischen Grundwerte, in denen die demokratischen Sozialisten übereinstimmen müssen, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen, und den weltanschaulichen Letztbegründungen, die beim Einzelnen jeweils zu ihnen führen. In diesem weltanschaulichen Pluralismus war Eichler durch die Erfahrungen des Exils bestärkt worden, die gezeigt hatten, dass demokratisch-marxistische, christliche und ethische Sozialisten sich schnell einig werden können, wenn es um die Beschreibung der Grundzüge der demokratischen sozialistischen Gesellschaft geht, bei den begründenden Ideologien aber Einigung nicht in Sicht ist. Es gibt Eichler zufolge einen ethischen Imperativ zweiter Stufe in der Politik, nämlich die Verpflichtung zum gemeinsamen politischen Handeln all derer, die sich auf politische Grundwerte einigen können. Die weltanschaulichen Differenzen müssen dann im gegenseitigen Respekt der Entscheidung der Einzelnen überlassen bleiben. Drittens: Gerade die Anerkennung der unbedingten Geltung des ethischen Prinzips verlangt die Bereitschaft zum guten politischen Kompromiss. Der politische Fundamentalismus des Alles oder Nichts ist in Wahrheit eine Form des Verzichts auf die Verwirklichung der ethischen Norm in der realen Welt, »denn der gute Kompromiss ist die (einzige) Verwirklichungsform des Ideals auf Erden«. Wer aber zur Welt sagt. »Alles oder Nichts«, dem gibt sie fast immer nichts.

Auf dieser Basis knüpfte der Freidenker Eichler den historisch zerrissenen Faden zu den beiden Kirchen neu, sodass die künstliche Mauer fiel, die kirchentreue Christen an der Unterstützung der politischen Ziele der Sozialdemokratie bis dahin gehindert hatte. Viele von ihnen erhöhten in der Folge als Unterstützer, Wähler und Parteimitglieder das politische Gewicht der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik entscheidend.

Historisch denkwürdig bleibt ein anderes Beispiel dieses Denkens: Der von Eichler geführte ISK stellte gegen Ende der Weimarer Republik alle seine umfangreichen Aktivitäten ein und konzentrierte sich vollständig auf die Bildung einer linken Einheitsfront zur Verhinderung der drohenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Für seinen zu diesem Zweck im ganzen Land verbreiteten Aufruf »Dringender Appell« gewann er die Unterstützung großer Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Heinrich Mann, Käthe Kollwitz und Erich Kästner.

Sobald die Nazis die Macht dann aber an sich gerissen hatten, nahmen praktisch alle Mitglieder des ISK und viele ihrer Unterstützer den aktiven Widerstand gegen sie auf, unter Lebensgefahr im Untergrund in Deutschland und im britischen Exil. Das Spektrum ihrer Aktivitäten reichte bis hin zu einem gescheiterten Attentat auf Hitler. Im Londoner Exil leistete Eichler einen großen Beitrag dazu, dass die aus Enttäuschung über die Politik der SPD am Ende der Republik von ihr abgespaltenen, intellektuell hochkarätigen Splittergruppen – SAP, Neu Beginnen und ISK – seit 1941 mit Repräsentanten der Exil-SPD in der »Union deutscher sozialistischer Organisationen in Großbritannien« neu zusammenfanden, um die Zukunft der Partei und das Projekt einer sozialen Demokratie im Nachkriegsdeutschland vorzubereiten. Eichler hat schon in dieser Zeit wie später als Leiter der Godesberger Programmkommission mit großer Überzeugungskraft immer darauf hingearbeitet, gemeinsame politische Grundwerte zu formulieren, und den Raum für die Achtung der persönlichen weltanschaulichen Differenzen zu schützen.

Als zukunftsweisend müssen Eichlers Versuche seit den 60er Jahren gelten, das Prinzip des weltanschaulichen Pluralismus als einer der ersten überhaupt in seinem Dialogprojekt »One World Only« zu einem kosmopolitischen Programm zu erweitern. Er lud 1964 Vertreter der großen Weltreligionen nach Tokio zu einem politischen Dialog ein, um den Spielraum für gemeinsame politische Grundwerte der unterschiedlichen Weltzivilisationen zu erkunden. Gemeinsam formulierten sie im wechselseitigen Respekt für die verbleibenden weltanschaulichen Differenzen politische Leitideen für eine Gesellschaft, in der die gleiche Würde aller Menschen politisch und sozial gesichert ist.

Wir stellen heute fest, dass die wichtigsten Erkenntnisse, Projekte und Ziele des Lebens und Wirkens von Willi Eichler fortgeltende Bedeutung haben, manche davon mit wachsendem Gewicht. Das gilt vor allem für seine Idee der »ethischen Revolution« als politischem Brückenschlag zwischen den Kulturen und Religionen der Welt, die in der Gegenwart mit ihrem wachsenden Selbstbewusstsein der großen Zivilisationen, am Ende der unhinterfragten Dominanz des »Westens«, der Ausgangspunkt für einen neuen globalen Dialog sein kann. Warum sollte es nicht gelingen, im Respekt vor den jeweiligen Besonderheiten der religiös-kulturellen Identitäten bei der Suche nach politischen Antworten auf die für alle überlebenswichtigen Fragen voranzukommen? Eichlers Gedanken zu einem vernunftbegründeten Verhältnis von Weltanschauung, Ethik und Politik gewinnen in der kulturell pluralistischen Weltgesellschaft der Gegenwart erst ihre volle Bedeutung.

Sein Tokio-Projekt hat die Tür dafür geöffnet. Festzuhalten bleibt, was Willy Brandt bei der Trauerfeier für Eichler 1971 dazu sagte: »Wenn viele Gräben zwischen den Kirchen und der Sozialdemokratie eingeebnet sind, wenn der Unterschied klar geworden ist zwischen politischer Verantwortung und letzten Wahrheiten, wenn dabei das sachliche Gespräch leichter geworden ist über die Sorge um den Menschen in der Gesellschaft, dann ist das eine der großen Leistungen unseres toten Freundes. Und ich füge hinzu: Hieraus ergibt sich auch eine Verpflichtung weiterzugehen und in großem Ernst an dieser Aufgabe weiterzuarbeiten.«

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