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Willy-Brandt-Skulptur im Atrium des Willy-Brandt-Hauses in Berlin © picture alliance / SZ Photo | Metodi Popow

Über den Tag, an dem das Misstrauensvotum scheiterte »Willy Brandt muss Kanzler bleiben!«

Der 27. April 1972 ist einer jener Tage in der Geschichte unseres Landes, an den sich viele der Älteren noch erinnern können und noch wissen, wo sie ihn erlebt haben. Denn das öffentliche Leben stand weitgehend still, die Menschen verfolgten – ob sie nun am Arbeitsplatz waren, in der Schule oder zu Hause – am Radio oder vor dem Fernseher die Abstimmung im Bundestag, die nicht nur über die politische Zukunft von Kanzler Willy Brandt entschied, sondern auch über die Zukunft der Entspannungspolitik.

Wählte das Parlament Rainer Barzel, den Kandidaten von CDU/CSU, zum neuen Kanzler, dann stand das ganze Vertragsgebäude vor dem Zusammensturz, dann wären die in Moskau, Warschau und Ostberlin ausgehandelten Vereinbarungen auf die lange Bank geschoben worden. Ein Rückfall in eisige Zeiten des Kalten Krieges drohte.

Beide Seiten – SPD/FDP und CDU/CSU – aber auch Dritte versuchten, das Ergebnis zu beeinflussen. Dabei kamen nicht nur politische Argumente oder moralische Vorhaltungen zum Einsatz. Es floss auch Geld. Mit Bestimmtheit wissen wir das heute für die Aktivitäten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, die zwei Unionsabgeordnete mit einigen Zehntausend D-Mark dazu brachte, Barzel die Gefolgschaft zu verweigern.

Neuerdings gibt es von Hartmut Palmer in seinem Buch Verrat am Rhein gar die These, Franz Josef Strauß habe dies mit Hilfe des Bundesnachrichtendienstes eingefädelt, um mit Rainer Barzel einen Konkurrenten für das Amt des Bundeskanzlers auszuschalten, und der CSU-Chef selbst habe sich ebenfalls der Stimme enthalten. Aber auch die Regierungsparteien haben für den Sieg vermutlich nicht nur legale Mittel eingesetzt.

Die Geschichte, wie es dazu kam, dass der Unionskandidat nicht die erwarteten und erforderlichen 249, sondern nur 247 Stimmen erhielt und somit scheiterte, ist oft erzählt worden. Das sensationelle Ergebnis, vermutete Bestechungen und Anzeichen für die Verstrickung von Geheimdiensten ergaben eine packende Mischung, deren Reiz sich auch nach Jahrzehnten kaum jemand entziehen kann.

Auf der Strecke blieb die Erinnerung daran, dass der 27. April 1972 nicht nur ein Ereignis im Parlament war, das die Menschen als Zuschauer verfolgten, sondern dass Hunderttausende die Arbeit niederlegten, auf die Straßen und Plätze strömten, um selbst einzugreifen. Dem Vergessen fiel anheim, dass in einer paradoxen Volte der Geschichte die DDR mit ihrem Abgeordnetenkauf die Bundesrepublik vor ihrer tiefsten Legitimationskrise bewahrte. Marion Gräfin Dönhoff schrieb eine Woche nach der Abstimmung in der Zeit: »Viel hätte nicht gefehlt – nur zwei Stimmen –, dann wäre der 1. Mai mit seinen vielfältigen Kundgebungen zu einem Tag bürgerkriegsähnlicher Zustände geworden; dann nämlich, wenn das konstruktive Mißtrauensvotum durchgekommen wäre.«

Was führte eine so erfahrene Beobachterin wie Dönhoff zu dieser extremen Befürchtung? Schon als am Abend des 24. April, einem Montag, die Pläne der Unionsfraktion bekannt wurden, fegte ein Sturm der Entrüstung durch die Republik, der nicht nur die Anhänger der sozialliberalen Regierung erfasste. Über 400.000 Menschen beteiligten sich an Protestaktionen, darunter mindestens 300.000 streikende Arbeiter und Arbeiterinnen.

Es war die größte Bewegung in der Bundesrepublik seit der Kampagne »Kampf dem Atomtod« 1958. Anders als 14 Jahre zuvor entstand sie allerdings spontan. Und erst die Friedensdemonstrationen im Oktober 1983 mobilisierten mehr Menschen,

Der CDU-Politiker Peter Radunski traf die Stimmung, als er damals bemerkte, der Abwahlantrag gegen den populären Willy Brandt wäre so, »als wolle man ankündigen, man habe vor, Mutti zu verhauen«. Die Vorgänge in Bonn veranlassten bis weit in die politische Mitte Menschen zur Unterstützung des Bundeskanzlers und der sozialliberalen Koalition. Selbst Louis Ferdinand von Preußen gratulierte nach überstandenem Misstrauensvotum telegrafisch »von ganzem Herzen«, auch im Namen seiner Kinder.

Demonstrationen und Streiks

Besonders groß war die Empörung unter den Industriearbeitern. Zwischen Dienstagvormittag und Donnerstagmittag, als die Abstimmung im Bundestag anstand, traten zahlreiche Belegschaften in den Streik. Das als illegitim empfundene Vorgehen, mit dem versucht werde, das Wahlergebnis vom September 1969 zu revidieren, ließ in Betrieben Rufe nach einem Generalstreik erschallen, sollte Barzel gewinnen.

Die Arbeitnehmer waren viel aktiver als die Schüler und an den Universitäten passierte noch weniger als an den Schulen. Zu Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen kam es in allen Bundesländern außer Rheinland-Pfalz; am stärksten waren die Proteste im Ruhrgebiet, wo 40 Prozent aller Proteste stattfanden. Von Flensburg bis München, von Emden bis Nürnberg standen Betriebe still. In Kassel beispielsweise beteiligten sich 35.000 Menschen an Streiks und Umzügen, in Berlin 12.000, in Hamburg je nach Quelle zwischen 15.000 und 30.000. Ruhig hingegen blieb es in der Hansestadt Bremen.

Eine zentrale Koordinierung gab es nicht. Weder der SPD-Parteivorstand noch der DGB riefen zu Aktionen auf, denn das, was im Bundestag geschah, war unzweifelhaft verfassungskonform, während die Arbeitsniederlegungen unter dem Verdacht standen, die Parlamentarier in ungesetzlicher Form unter Druck zu setzen.

Die Kreativität der Barzel-Gegner war beeindruckend. Auf der Autobahn von Bochum nach Köln zeigten Lkw-Fahrer ein handgemaltes Schild »CDU lassen wir nicht vorbei« und blockierten beim Herannahen mittlerer oder größerer Personenwagen die Überholspur, wie die FAZ berichtete.

Aus dem Städtischen Krankenhaus Hanau erreichte den Bundeskanzler die Mitteilung, »daß wir Frauen unserer Verwaltung heute früh, unseren oft kleinmütigen männlichen Kollegen zum Zeichen lachend, zuversichtlich, und auf Verabredung in roten Kleidern erscheinend, unseren Fernsehapparat aufgestellt, den besten Sekt in den Kühlschrank gelegt, und in vollem Vertrauen den Ausgang der Abstimmung abgewartet haben. Dem CDU‑Dezernenten unseres Hauses, der im Nebenzimmer wartete, mag unser Freudenruf: ›Es lebe unser Friedenskanzler Willy Brandt‹ nicht geschmeckt haben, aber die freimütige Äußerung unserer Überzeugung halten wir ja für unser verbürgtes Recht.«

Einen Generationenkonflikt bedeuteten die Proteste nicht. Unterschiedliche Reaktionen je nach Alter gab es nicht. Die Aktionen zeigten eher ein Aufschließen älterer Jahrgänge zu den neuen Protestformen, die Jüngere 1967/68 in die politische Kultur der Bundesrepublik eingeführt hatten. Besonders spürbar war das in Westberlin. Dort gab es erstmals eine Demonstration, auf der Aktivisten der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Jahre 1966–1969 gemeinsam mit Mitgliedern des Berliner Senats, an der Spitze der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz, marschierten – zum großen Erstaunen der Öffentlichkeit.

Unter Arbeitern und einfachen Angestellten war es oft eine Mischung aus übriggebliebenem Klassenstolz und verletzter Ehre, die sie aufbegehren ließ, als CDU und CSU sich anschickten, einen von ihnen, den obersten Sozialdemokraten und ersten Bundeskanzler aus der Arbeiterschaft, Willy Brandt, zu stürzen. Das erklärt auch, warum das Stillhalten von SPD- und DGB-Führung die Protestierenden nicht dazu brachte, sich von Partei und Gewerkschaft abzuwenden. Im Gegenteil: Tausende traten in diesen Tagen der SPD bei, um sich auch in dieser Form zu solidarisieren.

Wer nun denkt, der Massenprotest im April habe direkt zum triumphalen Wahlsieg im November 1972 geführt, der irrt. Nur kurzzeitig schnellten die Umfragewerte der SPD hoch. Der schwerste Schlag war der Rücktritt von »Superminister« Karl Schiller am 7. Juli. Bisher war er für Finanzen und für Wirtschaft zuständig gewesen und nun zog er für die Union in den Wahlkampf.

Debatten über eine Inflationsgefahr und das Olympia-Attentat in München Anfang September mit dem Debakel der deutschen Sicherheitskräfte verdüsterten den Horizont für die SPD weiter. Ab Mitte September bemühte sich die Partei, an die kämpferische Stimmung von Ende April anzuknüpfen. Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner beschworen jetzt in ihren Reden den Geist der damaligen Proteste.

Wiederbelebung der Solidarität der Arbeiterschaft

Der Funke zündete. Nicht die »Neue Mitte«, die Willy Brandt auf dem Parteitag in der Dortmunder Westfalenhalle beschwor, brachte den Sieg. Am Abend des 19. November und noch deutlicher in den folgenden Wahlanalysen zeigte sich, wie wichtig die Wiederbelebung der Solidarität der Arbeiterschaft gewesen war. Bei ihr erzielte die Partei von Willy Brandt überdurchschnittliche Zuwächse; zwei Drittel der Arbeiter stimmten für die SPD.

Der Mobilisierungserfolg trat bei allen Teilen der Arbeiterschaft ein: bei den An- und Ungelernten ebenso wie bei den Facharbeitern, unter katholischen Arbeitern ebenso wie unter ihren protestantischen Kollegen. Anders ausgedrückt: Der Wahlsieg rührte nicht nur aus dem Vordringen in der bisherigen Diaspora (Katholiken, An- und Ungelernte), sondern auch aus dem weiteren und erheblichen Ausbau von Hochburgen (Facharbeiter, Gewerkschaftsmitglieder, Protestanten). Das waren auch die Zentren der April-Proteste gewesen.

Die parlamentarische Demokratie überstand die Krise gestärkt, wie der Wahltag zeigte. Am 19. November 1972 wurde nicht nur der Versuch, Willy Brandt zu stürzen, endgültig abgewehrt. Die Rekordwahlbeteiligung von 91 Prozent bewies ein bisher (und danach) in der Bundesrepublik unerreichtes Maß an Vertrauen, dass die Wählerinnen und Wähler und nicht Machenschaften im Geheimbereich der Macht die Zusammensetzung des Parlaments und daraus folgend auch der Regierung bestimmen.

Zugleich war es die letzte politische Bewegung in der deutschen Geschichte, die von der Arbeiterschaft, in marxistischer Diktion: von der Arbeiterklasse, getragen wurde. Mit einer Galavorstellung trat sie von der Bühne ab. Natürlich gab es auch danach noch bedeutende Tarifbewegungen, in denen die Arbeiterschaft ihre gewerkschaftliche Stärke zeigte. Aber nicht sie, sondern Akademiker – ob mit abgeschlossener Ausbildung oder noch als Studierende – prägten das Gesicht der »Neuen sozialen Bewegungen« der späten 70er und 80er Jahre. Auch in der »friedlichen Revolution« in der DDR 1989 spielten die Betriebe und die Industriearbeiter als solche keine Rolle.

Mit ihrer Spontaneität, ihrer Unabhängigkeit von Parteien, Gewerkschaften oder sonstigen Großorganisationen, ja mehr noch mit ihrer Missachtung der Empfehlungen aus den Zentralen von DGB und SPD nahmen die April-Proteste künftige Entwicklungen vorweg. Die Demonstrationen und Streiks gegen das Misstrauensvotum bilden – ebenso wie die Außerparlamentarische Opposition – in der bundesdeutschen Protestgeschichte und darüber hinaus das Scharnier zwischen alt und neu, zwischen einer »formierten« und einer aktivistischen, mündigen Gesellschaft.

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