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© picture alliance / JOKER | Lutz Schmidt

Eine Erinnerung an die Ostpolitik und ihren historischen Kontext aus gegebenem AnlassWilly Brandt und die »Zeitenwende«

Naiv, pazifistisch, traumtänzerisch, blind für die wahren Absichten Moskaus, die Deutschen wieder mal auf einem Sonderweg – es ist schon verblüffend, wie weit die Kritik an einer vorsichtigen Berliner Politik gegenüber Putins imperialistischem Auftritt derzeit geht und wie stark plötzlich die frischen Ressentiments jenen in der erregten Kontroverse um die Ostpolitik vor mehr als 50 Jahren ähneln.

Am weitesten ging dabei wohl der renommierte Osteuropahistoriker Timothy Snyder (Yale University), welcher der deutschen Politik pauschal vorwarf (im Präsens), seit jeher die Ukraine als »Kolonie« anzusehen – ganz wie es Moskau halte. Snyder: Auch Willy Brandt habe die sowjetische Vorherrschaft nicht infragegestellt. Erst jetzt mit vorbehaltloser Hilfe für die Ukraine könne Entspannungspolitik »zu wirklicher Ostpolitik werden«. (Brandts »Ostpolitik« erklärte er damit zur Ursünde, die in den Ukrainekrieg Putins mündete.)

Statt der »Friedensmelodie« müsse die »Wehrhaftigkeitsmelodie« angestimmt werden, empfahl sogar der Spiegel. Die Bundesrepublik sei »ein im Grunde pazifistisches Land«. Der »romantische Held dieser postheroischen Zeit« heiße Willy Brandt. Mit ihrem »verschütteten Großmachtdenken« hätten gerade die Sozialdemokraten – Bahr, Wehner und Glotz voran! – eine deutsch-russische Verständigung gesucht, urteilte der Historiker Heinrich August Winkler bitter über diese Ära seit 1980, die angeblich gut für Europa gewesen sei.

Längst greift die Kritik weiter. Als müsse sie die Schlacht um die Ostverträge von 1970 noch einmal schlagen und diesmal gewinnen, rechneten Autoren der FAZ mit der Entspannungspolitik generell und dem »Mythos« vom Wandel durch Annäherung ab. Der alten Bundesrepublik und ihren tonangebenden Linksintellektuellen wie Jürgen Habermas »schwimmen die Felle davon«, höhnte gar Simon Strauss (FAZ), weil der sich erlaubt hatte, den vorsichtigen Kurs von Olaf Scholz gegenüber der Ukraine zu unterstützen. Eine reale Atomkriegsgefahr gebe es nicht, ließ der Theaterkritiker forsch wissen.

Das Wort des Kanzlers von der »Zeitenwende« – für sich genommen durchaus schlüssig – gab der russlandpolitischen Kurskorrektur in Berlin vor allem ein Etikett, vermied aber Präzisierungen. Aber auch diejenigen, die sich wegen der eigenen Russlandpolitik in den vergangenen Jahrzehnten an die Brust schlugen, verzichteten auf einen genaueren Rückblick. So wurde diese komplexe Politik aus ihrem historischen Kontext gelöst. Auf die schlichte Formel vom »Wandel durch Handel« beispielsweise, wie heute behauptet, hat Brandt die Grundidee nie verkürzt, obwohl ihm Breschnew 1971 in Oreanda am Schwarzen Meer die Ohren vollsäuselte. Das heute so hoch gehandelte Wort von der »Führungsmacht« nahm er wohlweislich nicht in den Mund. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, die deutsche Politik ein Stück weit zu emanzipieren. Amerikafreund Brandt: Washington wolle er über die geplanten Ostverträge »informieren«, aber nicht »konsultieren«.

Was Brandt mit der Ost- und Entspannungspolitik wirklich vorschlug, lief auf eine konsequentere Neudefinition des bundesrepublikanischen Selbstverständnisses hinaus, als er selbst gern behauptete: Gewaltverzicht, gemeinsame Sicherheit in Europa, Anerkennung der bestehenden Grenzen, das meinte faktisch einen Paradigmenwechsel im Ost-West-Konflikt.

Fast eine Revolution im alten Adenauer-Kiesinger-Land! Mit John F. Kennedy zog er aus dem Mauerbau 1961 in Berlin und der Kuba-Krise 1962 den Schluss, die bisherige »Politik der Stärke« sei an ihre Grenzen gestoßen. Wir Deutschen müssten dazu das Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit neu justieren, meinte Brandt, obwohl er vorsichtshalber nie als Ankläger der Mehrheitsdeutschen auftrat oder sich als »Anti-Nazi« illuminierte.

Balanceakt, kein Appeasement

Schon 1940 im Exil hatte er nachgedacht über die »Kriegsziele der Deutschen und das neue Europa«. Vage, aber immerhin, plädierte er für eine Föderation zwischen Deutschland und den Nachbarn im Osten, ja antizipierte schon mal den Gedanken an die »Vereinigten Staaten von Europa«. Nach dem Mauerbau tastete er sich als Berlins Bürgermeister neu heran: Zunächst, als er auf amerikanischem Boden (in Harvard 1962) ohne Tabus ventilierte, was »Koexistenz« von West und Ost heißen könnte, dann in Tutzing (1963) mit dem Motto »Wandel durch Annäherung«, einer radikalen Absage an die Drohpolitik des Kalten Krieges – im Kalten Krieg. Ja, ein Balanceakt sondergleichen begann. Um Appeasement handelte es sich aber in keinem Moment.

Seine Skepsis gegenüber dem NATO-Doppelbeschluss und der »Nachrüstung« (1979 bis 1983) hatte gleichfalls nichts mit Appeasement zu schaffen – die Supermächte verfügten doch bereits über ein Atomwaffenarsenal, mit dem sie die Welt mehrfach vernichten konnten, argumentierte Brandt. Dass Kanzler Helmut Schmidt allerdings als sein Nachfolger eine »realistische Entspannungspolitik« versprach, empfand er im Rückblick als »Chuzpe«. War denn sein Lebensthema, die Ostpolitik und die deutsche Rolle in Europa, irreal? Zum Helden der Friedensbewegung oder des »postheroischen Zeitalters« übrigens avancierte er deswegen keineswegs, im Gegenteil, auf der Bonner Hofgartenwiese buhten ihn manche Demonstranten ungnädig aus.

Ohne die Ostpolitik, da war er sich sicher, hätten die Deutschen sich das Vertrauen der Nachbarn schwerlich erworben. Das ermöglichte die Ost-West-Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit von Helsinki (1975). Es folgte die Charta 77 mit Václav Havel in Prag, darauf der Streik der Werftarbeiter in Danzig 1980. Dann marschierten sowjetische Soldaten ein in Afghanistan.

Elektrisiert und erleichtert verfolgte er die Suchbewegungen des neuen Mannes in Moskau, Michail Gorbatschow (ab 1985 Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU). In ihm glaubte Brandt jenes »europäische« Russland zu erkennen, mit dem sich an die Grundüberlegungen der Ostpolitik anknüpfen ließe. Seine Ostpolitik betrachtete er zwar durchaus als success story. Aber ohne die Vorgeschichte, vor allem ohne Gorbatschow als Reformer von »oben«, davon blieb er überzeugt, wäre es zur großen Zäsur in Europa 1989 nicht gekommen, damit auch nicht zum souveränen Staat Ukraine.

Zum Vorwurf Snyders, eine »wirkliche« Ostpolitik habe es bis dato nicht gegeben, hätte der Gescholtene ganz gewiss nicht genickt. Mit wem hätte er die Gewaltverzichtsverträge denn schließen sollen? Ein moralisches Ranking – Wer hat die größten Opfer im Osten im Krieg gegen die Deutschen gebracht? – kannte die Ostpolitik nicht. Einzige Ausnahme: Polen. Daher der Kniefall.

In seiner Rede in Oslo 1971 zur Verleihung des Friedensnobelpreises bezeichnete Brandt eine Politik für den Frieden »als wahre Realpolitik dieser Epoche«. Die Drohung einer »Selbstvernichtung der Menschheit« sei ganz konkret, formulierte er, Koexistenz sei eine »Frage der Existenz überhaupt«. Die Atomkriegsgefahr hielt er für real, Hiroshima immer im Hinterkopf.

Feigheit war das nicht. Als Pazifisten präsentierte er sich auch in Norwegen nicht. Vielmehr warf er sich vor, zur Zersplitterung der Linken als Lübecker Gymnasiast beigetragen zu haben. Nur vereint hätte man Hitler bezwingen können. Berlin lehrte »Standfestigkeit«, in der Kuba-Krise brauchte es Kaltblütigkeit. In dieser Stunde der wahren Empfindung in Oslo grüßte er erstmals die Freunde der Résistance in aller Welt. Hier, in der zweiten Heimat, musste er nicht mit Diffamierungen rechnen, er fühlte sich ganz frei.

Weder Pazifist noch Bellizist

Die Bundesrepublik habe durchaus Macht und sei eine Macht, »sie versteht sich mit all ihren Kräften als Friedensmacht«. Brandt erklärte das große Wort so: »Der Übergang von der klassischen Machtpolitik zur sachlichen Friedenspolitik, die wir verfolgen, muss als der Ziel- und Methodenwechsel von der Durchsetzung zum Ausgleich der Interessen verstanden werden«.

Dieser Willy Brandt also, weder Pazifist noch Bellizist, hätte seine Bundesrepublik in der Skizze von Jürgen Habermas (»Krieg und Empörung«, Süddeutsche Zeitung vom 29. April 2022), wie ich meine, ganz sicher wiedererkannt. Die Deutschen, argumentierte der Philosoph seinerzeit vorsichtig, müssten mit ihrer historischen Verantwortung dazu beitragen, dass die Ukraine »nicht verliert«, ein selbstbewusstes Europa sollten sie anvisieren, das aber nicht unmittelbar Kriegspartei wird und eine weitere Eskalation verhütet.

Hätte Brandt Wladimir Putin früher durchschaut als Frank-Walter Steinmeier oder Angela Merkel? Was hätte er zu all den Berliner Entschuldigungen für die eigene »Blindheit« gesagt? Und was genau hätte 2014 die Alternative zur Verhandlungsstrategie Berlins nach der Besetzung der Krim sein sollen? Das bleibt alles Spekulation. Jeder sieht seinen Brandt. Zum Besserwissen neigte er jedenfalls nicht.

Ganz gewiss hätte »mein« Brandt es nicht still akzeptiert, dass sich der Westen nach 1990 gerne als Sieger der Geschichte brüstete. (George F. Kennan, auf den er so gern hörte, warnte noch 1997 dringend davor, die historische Bedeutung der Ukraine für Russland nicht zu unterschätzen.) Für widerlegt hätte er seine Ostpolitik nicht gehalten, bloß weil ihr das Gegenüber abhanden kam. Den Dialog zu suchen, stand für ihn nicht unter dem Generalverdacht des Appeasement (Appeasement zur richtigen Stunde freilich hätte er wohl nicht prinzipiell abgelehnt). »Mein Brandt« hätte in Wladimir Putin allerdings sein europäisches Russland nie und nimmer wiedererkannt.

Die Maßstäbe, die seine Ostpolitik leiteten, hatten sich in seinem Leben herauskristallisiert, er setzte auf jene Autorität, die auf normativer Stärke beruht. Damit kann man vorangehen, ohne sich selbst als »Führungsmacht« zu dekorieren. Er sei mal links, mal rechts gewesen, spöttelte er selber gern. Widerspruchsfrei darf man sich Willy Brandt tatsächlich nicht vorstellen.

Klarheit im Grundsätzlichen

Aber bei aller Liebe zum »Zweifel« und zum Sowohl-als-auch, für Klarheit im Grundsätzlichen sorgte er schon: Beitragen wollte das Duo Brandt/Bahr gewiss zu einem vergangenheitsbewussten und zugleich selbstbewussten Deutschland in einem demokratischen, wachen Europa, das die globalen Herausforderungen als seine Sache begreift. Zum neuen Selbstverständnis gehörten für ihn Zurückhaltung, Dialog, gemeinsame Sicherheit, europäische Selbsteinbindung der Deutschen. Deutschland hatte sich gewandelt, für ihn war das nicht mehr die »alte« Bundesrepublik. Dahin hätte er sich wohl kaum zurückgesehnt, auch heute nicht (Ich denke, »mea culpa« hätte er nicht gesagt dazu, dass auch nach der Besetzung der Krim mit Moskau verhandelt wurde. Was genau hätte die Alternative sein sollen?)

Andererseits: Ein Passepartout für sämtliche Lebenslagen lieferte die Ostpolitik nicht. Bewusste Unwahrheiten wie die, Moskau kämpfe gegen Nazis (in Kiew wie in Berlin), die brutalen Drohgebärden, die Diskursverweigerung, das alles hätte auch einen Diskurspolitiker wie ihn fassungslos gemacht. Dagegen hilft kein Methodenwechsel, hin zum »Ausgleich von Interessen«.

Also, Willy Brandt und die Zeitenwende: Für einen Rückfall in die Mentalität der 60er Jahre und die »Politik der Stärke«, für Schlussstrichdenken, für das Entstauben von Feindbildern oder für verbal hochgerüsteten Hurrapatriotismus aller Art wäre er auch jetzt nicht zu haben. Man täusche sich gleichwohl nicht, für Überraschungen war er immer gut. Nicht zufällig gab er den Erinnerungen an seine jungen Jahre den Titel »Links und frei«, was selbst schon ein Lebensprogramm enthielt. Zum Abschied von der Parteispitze 1987 allerdings setzte Willy Brandt seine Prioritäten noch einmal leicht anders, nämlich »frei und links«.

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