Die öffentliche Migrationsdebatte in Deutschland wurde in den letzten Jahren vor allem durch zwei Themen bestimmt: zum einen durch die sogenannte »Flüchtlingskrise« und die Frage, wie viele Geflüchtete Deutschland aufnehmen kann und wie diese in die Gesellschaft integriert werden sollen, zum anderen durch die Diskussion über den Fachkräftemangel in Deutschland und inwieweit dieser durch Erwerbszuwanderung beseitigt werden kann. Diese Debatten haben sich meines Erachtens allerdings sehr oft in Detailfragen erschöpft und es häufig versäumt, die Zuwanderungspolitik insgesamt in den Blick zu nehmen, d. h. der Grundfrage nachzugehen, inwieweit allgemeine Zuwanderungsregelungen und dazugehörige Integrationsmaßnahmen für verschiedene Zuwanderungsgruppen wie Erwerbs-, Bildungs-, Fluchtmigrant/innen und deren Familienangehörige in einem Gesetz konzipiert werden können. Denn Zuwanderung und Integration sind zwei Seiten derselben Medaille und praktisch nicht zu trennen. Um dieser Grundfrage nachzugehen, möchte ich fünf Aspekte herausgreifen und diskutieren, die meines Erachtens zentral sind und die man für die Konzeption eines neuen und kohärenten Einwanderungs- und Integrationsgesetzes bedenken sollte.
Erstens: Einfache und nachvollziehbare Darstellung der Einwanderungs- und Integrationsregelungen in einem neuen Gesetz aus einem Guss. Warum brauchen wir überhaupt ein neues Zuwanderungsgesetz? In Deutschland gibt es für die einzelnen Zuwanderungsgruppen zahlreiche Gesetze und Verordnungen. Manche sprechen sogar von einem gesetzlichen »Flickenteppich«, der durch immer neue Gesetze über die Jahrzehnte größer geworden ist.
Bereits die Süssmuth-Kommission versuchte Anfang der Nullerjahre dieses Problem zu lösen und arbeitete das Zuwanderungsgesetz (ZuwG) aus, das im Jahr 2005 in Kraft trat und das ältere Ausländergesetz und Aufenthaltsgesetz ablöste. Das ZuwG besteht allerdings aus verschiedenen Gesetzen wie dem Aufenthaltsgesetz (AufenthG), und wurde durch weitere Gesetze, Verordnungen und Bestimmungen in den letzten Jahren ergänzt. Darunter sind unter anderem das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz (ArbMigrStG) von 2008, die Beschäftigungsverordnung (BeschV) von 2013, die zwei Asylpakete von 2015 und das Integrationsgesetz von 2016 auf Bundesebene sowie zahlreiche Integrationsregelungen auf Länderebene.
So werden zum Beispiel Fragen der Zuwanderung, Beschäftigung und Integration für ein und dieselbe Zuwanderungsgruppe in verschiedenen Gesetzen geregelt. Allein für die Erwerbszuwanderung gibt es inzwischen fast 50 Einzelregelungen. Dabei gibt es für viele Berufsgruppen – wie Spezialitätenköche, Schaustellergehilfen oder Sprachlehrer – spezielle Regelungen. Einen Überblick darüber zu gewinnen, ist mir und meinen Kolleg/innen sehr schwer gefallen, und viele andere Wissenschaftler/innen und Politiker/innen haben ebenfalls Probleme, diese umfangreiche Gesetzeslage zu überblicken.
Ein neues Einwanderungsgesetz, wie es im letzten Wahlkampf diskutiert wurde, oder ein sogenanntes Einwanderungsgesetzbuch (EGB), wie es der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem letzten Jahresgutachten vorschlug, könnte zu einer Vereinfachung und damit zu einer größeren Nachvollziehbarkeit der Regelungen beitragen. Dabei wäre es wichtig, die bisherigen Regelungen nicht durch zusätzlich verabschiedete Regelungen zu ergänzen, sondern die bisher bestehenden Regelungen neu zu ordnen, zu korrigieren und einfach darzustellen. In einem neuen Gesetz sollten alle Bereiche der Zuwanderung und Integration geregelt werden: Bildung, Spracherwerb, Wohnung, Arbeit, Familie, Asyl, Aufenthaltsregelungen, Staatsangehörigkeit etc.
Zweitens: Einheitliche, transparente und flexible Regelungen der Erwerbszuwanderung durch ein Punktesystem als wesentlicher Bestandteil eines neuen Gesetzes. Ein zentraler Bestandteil eines neuen Einwanderungsgesetzes könnte ein Punktesystem sein. Darunter versteht man die Auswahl von Erwerbsmigrant/innen nach bestimmten Kriterien (wie Alter, Qualifikation, Berufserfahrung, Sprachkenntnisse etc.), für die jeweils Punkte vergeben werden. Ein Punktesystem würde es ausländischen Fachkräften ermöglichen, auch ohne konkrete Arbeitsplatzzusage von einem deutschen Unternehmen nach Deutschland einzuwandern. Die Vorteile eines an den Bedürfnissen Deutschlands ausgerichteten Punktesystems sind Einheitlichkeit, Transparenz und Flexibilität. Ein Vergleich der Punktesysteme klassischer Einwanderungsländer – Kanada, Australien und Neuseeland – den wir vor zwei Jahren in einer Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung unternommen haben, hat gezeigt, dass die Einführung eines Punktesystems zu einer wesentlichen Vereinheitlichung und somit auch einer Vereinfachung der oftmals komplexen und unübersichtlichen Einwanderungsregelungen beigetragen hat, weil alle verschiedenen Gruppen der Erwerbszuwanderung durch das Punktesystem koordiniert werden. Das würde auch bei uns zu einer einheitlichen und übersichtlichen Gestaltung der Einwanderungspolitik beitragen, über die man sich einen schnellen Überblick verschaffen und die man auch besser nach außen präsentieren kann.
Dies könnte auch die Attraktivität des deutschen Arbeitsmarktes für hochqualifizierte Arbeitskräfte erhöhen, die dringend benötigt werden. Denn aufgrund der demografischen Entwicklung prognostiziert eine Studie der Bertelsmann Stiftung, dass weiterhin pro Jahr zwischen 275.000 und 500.000 Fachkräfte aus Drittstaaten (also außerhalb der EU) zuwandern müssten, um das gegenwärtige Erwerbspotenzial in Deutschland bis 2050 stabil zu halten. Im Jahr 2015 sind gerade einmal 6.800 Fachkräfte mit der EU Blue Card nach Deutschland gekommen. Dabei werden nicht nur Fachkräfte in den MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik), wo es laut einer aktuellen Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft bereits 315.000 unbesetzte Stellen gibt, sondern auch beruflich qualifizierte Arbeitskräfte, z. B. in der Alten- und Krankenpflege, dringend benötigt. Zudem wäre ein Punktesystem flexibel, da man die jeweiligen Auswahlkriterien durch eine veränderte Punktevergabe an neue ökonomische und politische Gegebenheiten anpassen kann, ohne dass es gleich zu einer erneuten Gesetzesänderung kommen muss.
Drittens: Nachvollziehbare und auf Dauer ausgerichtete Aufenthaltsregelungen für verschiedene Zuwanderungsgruppen. Ein wesentlicher Teil der Zuwanderungsregelungen sind die Aufenthaltsregelungen von Zuwanderern, die ebenfalls vereinheitlicht werden sollten, d. h. es sollte geregelt werden, wie lange und zu welchem Zweck Zuwanderer in Deutschland leben dürfen. Gegenwärtig gibt es sehr unterschiedliche Regelungen für die einzelnen Gruppen.
Nehmen wir nur einmal die unterschiedlichen Regelungen für Zuwanderer, die zur Arbeitsplatzsuche in Deutschland sind: Während Auszubildende aus Drittstaaten (also außerhalb der EU) nach der Ausbildung nur für weitere zwölf Monate zur Arbeitsplatzsuche in Deutschland bleiben dürfen, dürfen Studierende aus Drittstaaten 18 Monate nach dem Studium zur Arbeitsplatzsuche in Deutschland bleiben, und hochqualifizierte Fachkräfte wiederum dürfen direkt aus einem Drittstaat für nur sechs Monate zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland kommen. Diese doch sehr unterschiedlichen Regelungen könnte man vereinheitlichen und zum Beispiel allen Zuwanderungsgruppen einen Zeitraum von 18 Monaten zur Arbeitsplatzsuche einräumen.
Darüber hinaus sollte es, neben hochqualifizierten Zuwanderern, auch beruflich qualifizierten Zuwanderern, z. B. Pflegekräften oder Handwerkern, ohne Arbeitsplatzzusage ermöglicht werden, für einen bestimmten Zeitraum zur Arbeitsplatzsuche nach Deutschland zu kommen. Gegenwärtig 36.000 unbesetzte Stellen in der Alten- und Krankenpflege zeigen, dass auch diese Zuwanderungsgruppe sehr stark auf dem deutschen Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Aufgrund dieser hohen Nachfrage sollten sich auch Asylbewerber/innen von Beginn an um einen Arbeitsplatz bewerben können, und nicht erst drei Monate nach der Ankunft in Deutschland. Denn erste Studien haben gezeigt, dass auch unter den Geflüchteten einige ausgebildete Pflegekräfte und Handwerker zu finden sind, oder welche, die eine Ausbildung in diesem Bereich beginnen wollen. Um mehr Anreize für eine schnellere Integration zu liefern, könnte man die Einbürgerung von Zuwanderern, egal welcher Zuwanderungsgruppe, bereits nach vier oder fünf Jahren ermöglichen (wie es auch in klassischen Einwanderungsländern wie den USA oder Australien der Fall ist), anstatt wie bisher nach acht Jahren.
Viertens: Mögliche Regelungen für einen Übergang in einen anderen Aufenthaltsstatus. Im Rahmen eines neuen Einwanderungsgesetzes könnten auch Regelungen für verschiedene Zuwanderungsgruppen für einen Übergang in einen anderen Aufenthaltsstatus ermöglicht werden. Demnach könnten sich zum Beispiel Flüchtende, wenn sie die notwendigen Qualifikationen haben, über das Punktesystem für einen Aufenthaltsstatus als Erwerbsmigranten in Deutschland bewerben. Dies könnten ie direkt vom Herkunftsland aus machen, oder wenn sie bereits in Deutschland sind und noch einen Status als Geflüchtete oder Asylbewerber haben. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Zuwanderung und Integration von Geflüchteten ist dieser Punkt sicher überlegenswert. Aufgrund der transparenten Gestaltung eines Punktesystems könnten sich Flüchtende leichter darüber informieren, welche Qualifikationen besonders nachgefragt werden und welche Sprachanforderungen bestehen.
Zudem würden dadurch legale Zuwanderungsmöglichkeiten aus Drittstaaten geschaffen. Im neuseeländischen Punktesystem ist dies bereits möglich. Geflüchteten, die ihr Heimatland aufgrund von Krieg und Unterdrückung verlassen mussten und denen eine Bewerbung über das Punktesystem nicht möglich ist, sollte natürlich weiterhin nach den Richtlinien der Genfer Flüchtlingskonvention und dem EU-Asylrecht Schutz in Deutschland gewährt werden. Auch ausländischen Studierenden und temporären bzw. saisonalen Arbeitskräften sollte es jederzeit ermöglicht werden, sich um einen (dauerhaften) Arbeitsplatz in Deutschland bewerben und somit einen Aufenthaltsstatuswechsel vornehmen zu können.
Fünftens: Gezielte Integrationsangebote für alle Zuwanderungsgruppen. Um Zugewanderten eine dauerhafte Bleibeperspektive in Deutschland zu bieten, sollten auch die Integrationsmaßnahmen im Rahmen eines neuen Gesetzes verstärkt werden. Grundsätzlich kann der Staat die Integration von Zuwanderern nicht verordnen, sondern nur Rahmenbedingungen setzen und Leistungen anbieten, damit Integration funktionieren kann. Dabei stellen sich vor allem zwei Fragen: Welche Leistungen können angeboten werden? Und: Wie können diese Leistungen angeboten werden?
Grundsätzlich haben alle Zuwanderer – egal ob Erwerbszuwanderer oder Geflüchtete – ähnliche Grundbedürfnisse. Langfristig brauchen alle eine Wohnung, eine Arbeit, wollen die Sprache erlernen, ihre Kinder zur Schule schicken und an gesellschaftlichen Begebenheiten und Angeboten teilhaben. Der Staat sollte den Zuwanderern, die es nicht aus eigener Kraft schaffen, dabei helfen, diese Grundbedürfnisse zu befriedigen. Hierbei spielen die Kommunen eine besondere Rolle, da die vom Staat erlassenen Integrationsgesetze zumeist auf kommunaler Ebene umgesetzt werden. Durch die bundesweite Einrichtung von sogenannten Welcome Centers (wie es sie bereits in Kanada oder auch schon im Baden-Württemberg gibt) in möglichst vielen Städten, könnte man gezielte Integrationsmaßnahmen für alle Zuwanderungsgruppen direkt vor Ort gebündelt und zentral koordiniert anbieten. Dazu gehören neben Sprachkursen, Fortbildungsangeboten und Hilfeleistungen bei der Wohnungs- und Arbeitssuche auch Kultur- und Freizeitveranstaltungen in der Region, um sich schneller an die neue Umgebung gewöhnen und häufiger mit der Aufnahmegesellschaft in Kontakt kommen zu können. Die Mitarbeiter/innen in den Welcome Centers könnten in Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmen Beschäftigungs- und Mentoringprogramme anbieten (wie es sie bereits in Australien gibt), die sich sowohl an die Hauptzuwanderer als auch an deren Familienangehörige richten, um sie bei einer schnellen Arbeitsmarkteingliederung zu unterstützen. In diese Integrationsarbeit könnte auch die lokale Zivilgesellschaft wie Religions-, Kultur- oder Sportvereine, aber auch die Migrantenorganisationen selbst eingebunden werden, weil diese die Bedürfnisse und Interessen der Zuwanderinnen und Zuwanderer meistens am besten kennen.
Insgesamt ist es wichtig, deutlich zu machen, dass ein liberales und kohärentes Einwanderungs- und Integrationsgesetz zwar einen guten Rahmen für Zuwanderung bildet, aber noch nicht den gesamten Erfolg eines Einwanderungslandes ausmacht. Es ist auch entscheidend, dass sich Deutschland selbstbewusst als Einwanderungsland nach außen darstellt und aktiv für Zuwanderung wirbt. Im Vordergrund kann dabei eine Mischung aus sehr guten Jobmöglichkeiten und dem »Land als Ganzem«, das eine hohe Lebensqualität in der Mitte Europas verspricht, stehen. Zudem können Botschaften und Konsulate – nach australischem Vorbild – Ausstellungen mit dem Titel »Ideas and Skills Germany Needs« in potenziellen Herkunftsländern durchführen. Dabei können sich deutsche Unternehmen und Verwaltungseinrichtungen präsentieren und um Fachkräfte werben. Auch Partnerorganisationen im Ausland können darin eingebunden werden, sowie Migrant/innen, die bereits in Deutschland leben und als »Botschafter/innen« ihre beruflichen und gesellschaftlichen Erfolgsgeschichten, von denen es bereits zahlreiche in Deutschland gibt, in den Herkunftsländern erzählen.
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